Kapitel 12
Leo wagte es nicht, aufzusehen, aber das leise Murmeln um sie herum wurde immer lauter und Sofia schluchzte nun wieder als hinge ihr Leben davon ab.
„In Ordnung", sagte der Prinz schließlich. Leo wusste nicht, ob sie vor Furcht oder vor Erleichterung beinahe ohnmächtig wurde, aber für einen Moment verschwamm alles vor ihren Augen. Dann spürte sie eine raue Berührung am Arm und sofort klärte sich ihr Blickfeld wieder. Wie betäubt sah Leo zu, wie eine der umstehenden Frauen behutsam Sofia beiseite zog, die nun wild mit den Armen um sich schlug und zwischen all den Schluchzern immer wieder Leos Namen rief. Leo wünschte, ihre kleine Schwester hätte nicht so eine Szene gemacht.
Für einen Moment sah sie in die Augen des Prinzen, aber sein Blick irritierte sie so sehr, dass sie doch wieder auf den Boden sah. Ohne Widerstand ließ sie sich zu ihm ziehen.
„Komm her", sagte er sanft. Als Leo zwischen seinen Beinen saß, spiegelten sich in den Augen der Umstehenden ihre eigenen gemischten Gefühle wider: Furcht, Irritation, schützende Gleichgültigkeit. Aber in manchen Augen konnte Leo tatsächlich Eifersucht erkennen, und sie fragte sich, wieso um alles in der Welt irgendjemand sie um ihre Position beneidete. Sie konnte sich nicht viel vorstellen, was sie sich weniger wünschte, als den Arm aufgeschlitzt zu bekommen.
„Warum tust du das?", fragte der Prinz leise.
Im ersten Moment brachte Leo kein Wort heraus, aber der Prinz ließ ihr Zeit.
„Sie ist meine Schwester", brachte Leo schließlich mit rauer Stimme hervor.
Wieder sah der Prinz sie an, aber sie wagte es nicht, seinen Blick zu erwidern. Zu wenig Abstand war zwischen ihren Gesichtern, und Leo war sich schon so nicht sicher, ob sie die Situation aushalten konnte. Ihr war schrecklich schwindlig und die Furcht brachte sie beinahe um.
„Ich will dir nicht wehtun", wisperte der Prinz ihr so leise ins Ohr, dass selbst Leo ihn kaum verstehen konnte. Leo stöhnte leise. In ihrem Kopf drehte sich alles. „Was mache ich nur mit dir?" Da drehte Leo den Kopf in seine Richtung, aber ihr Blick ging durch den Prinzen hindurch. Sie sah weder ihn noch die starrende Menschenmasse, noch Sofia. Es war einfach alles zu viel für sie. Leo fiel in Ohnmacht.
Für ein paar erlösende Sekunden umhüllte sie Dunkelheit, dann begann sich ihr Sichtfeld wieder zu klären. Ihr Kopf war auf die Schulter des Prinzen gefallen, und die umstehenden Menschen starrten sie mit großen Augen an. Niemand wagte, sich zu rühren.
„Das ist keine Jahrmarktsvorstellung!", fuhr der Prinz sie an. Sofort sahen die Leute weg, Furcht huschte über ihre Gesichter. Viele, die in der ersten Reihe gestanden hatten, versuchten nun, sich nach hinten zu drängen. Leo spürte, wie ein unsäglicher Hass in ihr aufstieg. Sie wünschte sich nichts mehr, als gestern Abend mit den Kindern fortgegangen zu sein. Dann wären sie jetzt bereits meilenweit weg von dieser Stadt. Frei.
„Aufstehen!", befahl der Prinz, doch bevor Leo reagieren konnte, hatte er sie bereits mit sich hochgerissen. Wiederstandlos ließ Leo sich mitziehen, über den Marktplatz, zwischen die Mauern eines fast vollständig zerfallenen Hauses und dann die bröckelige Treppe hinab in den Keller, der zur Hälfte mit Mauerresten zugeschüttet war.
Alle Menschen waren ihnen ausgewichen, stumm und ängstlich, nur Sofias Weinen drang bis in den Keller. In den Augen der Menschen hatte Leo die Furcht vor dem gesehen, was ihr bevorstehen würde. Die Furcht davor, nur ein paar abgetrennte Finger und jede Menge Blut zu finden. Aber Leo spürte keine Furcht. Stumm und stumpf wartete sie darauf, was kommen mochte.
Aber es kam nichts.
Ein paar endlos lange Sekunden stand der Prinz einfach nur vor Leo und blickte sie an, dann steckte er sein Messer weg.
„Das war sehr mutig von dir", sagte er leise, dann warf er einen prüfenden Blick nach oben. Außer dem leicht bewölkten Himmel war nichts zu sehen.
„Du schreist jetzt besser", riet der Prinz Leo. „Nicht, dass sie denken, du würdest ungestraft davonkommen."
Leo schrie nicht. Sie starrte den Prinzen einfach nur an, konnte nicht fassen, was er da sagte. Konnte nicht glauben, was gerade geschah. Anstatt sie aufzuschlitzen, halb zu Tode zu prügeln oder Schlimmeres, streckte der Prinz langsam eine Hand aus und legte sie Leo auf die Schulter.
„Auf dieser Welt gibt es zu wenige Menschen mit einem Herzen wie deinem", sagte der Prinz, wobei er Leo nicht aus den Augen ließ. „Also tu dir und deiner Familie einen Gefallen und schreie, als würde ich dir die Seele aus dem Leib prügeln."
Leo schluckte. Versuchte, die Welt zu verstehen. Aber alles drehte sich zu schnell, stand auf dem Kopf. Die Augen des Prinzen wirkten nicht wie aus dieser Welt, als er sie zu Schlitzen zusammenkniff und den Abstand zwischen ihm und Leo mit einer fließenden Bewegung überbrückte. Bevor Leo begreifen konnte, was geschah, wurde sie zu Boden gerissen. Sie schrie. Nicht sonderlich laut, aber der Prinz lächelte trotzdem zufrieden.
„Nicht schlecht für den Anfang", neckte er sie. Seine starken Arme schlossen sich so fest um sie, dass sie kaum noch Luft bekam. „Und jetzt wehr dich. Und schreie."
Leo hatte sich noch nie in ihrem Leben gegen einen Raubritter gewehrt. Für einen Moment lag sie einfach nur da, spürte, wie sich die Brust des Prinzen unter ihr hob und senkte. Dann begann sie sich hin und her zu werfen, erst vorsichtig, dann, als wäre eine unsichtbare Grenzen überschritten, so wild wie sie nur konnte. Und sie schrie. Schrie, als würde ihr jemand die Seele aus dem Leib prügeln. Schrie, bis sie keine Kraft mehr hatte und eine wohlige Leere ihr Herz umfing.
Es war, als habe sie all die Angst, die sich in ihr angestaut hatte, herausgeschrien. Mit einem leisen Seufzer entspannte sie ihr Körper, gab sich der Erschöpfung hin. Zum ersten Mal seit langem war die lauernde Furcht verschwunden, die Leo Tag und Nacht wachsam sein ließ.
Zu ihrer Überraschung hätte Leo nichts dagegen gehabt, noch einen Moment lang so zu liegen, aber der Prinz schob sie vorsichtig von sich herunter und stand auf.
„Du tust besser so, als könntest du nicht einmal mehr gerade laufen", sagte er leise und wandte sich zum Gehen. Doch kurz bevor er die Treppe hinauflief, hielt er inne. „Ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht, aber ich kann dich kein zweites Mal schützen. Verstanden?"
„Verstanden", wisperte Leo. Dabei verstand sie rein gar nichts. Wieso um alles in der Welt hatte der Prinz sie verschont? Weil sie sich für ihre kleine Schwester geopfert hatte?
Aber Leo fragte nicht. Sie war zu erleichtert, dass der Prinz fortging, dass sie ungeschoren davongekommen war. Alles anderer zählte nun nicht mehr. Denn in wenigen Stunden würden sie der Stadt den Rücken gekehrt haben und weit draußen in den Wäldern sein. Am liebsten wäre Leo einfach losgerannt, aber sie wartete eine ganze Weile im Keller. Erst kurz bevor die ersten Menschen hinunterspähten, humpelte sie gebückt die Treppe hinauf, ohne jemandem in die Augen zu sehen.
Sofia, die zumindest halbwegs von einer der Frauen beruhigt worden war, fing bei Leos Anblick sofort wieder an, herzzereißend zu weinen und rannte zu ihr herüber. Als sie sich schluchzend an Leo drückte, verzog diese das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse.
„Schon gut, Sofia", sagte Leo mit rauer Stimme. „Lass uns nach Hause gehen."
Von den Raubrittern war zum Glück nichts mehr zu sehen, trotzdem machte Leo eine Show daraus, besonders langsam und immer wieder stöhnend vom Marktplatz zu humpeln.
Die Menschen machten ihr Platz, richteten ihre Blicke überall hin, nur nicht auf Leo. Leises Wispern erfüllte den Marktplatz. Es klang unheimlich, bedrückend. Leo wünschte, die Menschen würden sich wieder ihrem geschäftigen Treiben zuwenden, aber stattdessen wehten die Worte wie Nebelschleier um die Menschen herum.
Das Apfelmädchen. Das Mädchen, das zum dritten Mal in nicht einmal einer Woche dem Prinzen in einer brenzligen Situation gegenüber gestanden hatte, und immer noch lebte.
Und leise, aber immer lauter werdend, die Geschichte über das Mädchen, dem der Prinz die Wunden verbunden hatte. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die einzelnen Geschichten, verflochten sich zu einem Ganzen. Hier und da konnte Leo auch die ein oder andere Ausschmückung vernehmen. Es war ein unheimliches Gefühl, dass alle über sie redeten, aber keiner sie ansah. In diesem Moment wurde Leo klar, dass sie in dieser Stadt nie wieder stehlen konnte. Jeder kannte sie. Jeder sah sie. Spätestens heute Nachmittag würde auch noch das letzte Gerücht in die Fabrik und somit zu ihrem Vater gelangen. Es gab kein Zurück mehr. Sie musste fliehen.
Sehnsüchtig dachte Leo an die schützenden Wälder, konnte es kaum noch erwarten, bis sie endlich diese Stadt hinter sich lassen konnte. Aber es dauerte quälend lange, bis sie die letzten Menschen hinter sich gelassen hatten, und selbst jetzt wagte Leo es nicht, normal zu laufen. Sie hatte schon genug aufs Spiel gesetzt, um sich nun dabei erwischen zu lassen, unversehrt durch die Straßen zu schlendern.
Sofia hatte inzwischen aufgehört, zu weinen, aber Leo wagte es nicht, ihr zu erzählen, was wirklich dort unten im Keller geschehen war. Wenn sie erst einmal im Wald waren, würde genug Zeit sein.
„Meinst du, sie warten noch auf uns?", fragte Sofia leise.
„Natürlich", sagte Leo sofort, spürte aber im selben Moment, wie die Zweifel kamen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Ihr Ausflug hatte viel zu lange gedauert.
„Notfalls schaffen wir das auch alleine", sagte Leo schließlich. „Die Richtung wissen wir ja."
„Ein bisschen Angst habe ich schon."
„Ich auch", sagte Leo leise. „Ich auch."
„Und was ist mit Vater?", fragte Sofia, als Leo so viele Lebensmittel wie möglich in einen Beutel stopfte. Nur ein paar Gläser Apfelmus blieben im Schrank.
„Wir lassen ihm etwas Geld da. Davon kann er sich neues Essen kaufen", antwortete Leo, während sie auch den Großteil des Geldes in diversen Taschen und sogar in ihren Schuhen versteckte. Auch Sofia wurde mit Geld ausgestattet.
„Falls wir uns aus irgendeinem Grund verlieren, kannst du dir in der nächsten Stadt Essen kaufen." Leo blickte ihrer Schwester fest in die Augen, um sicherzugehen, dass sie ihren Worten aufmerksam folgte. „Aber verrate niemandem von dem Geld, verstanden? Auch nicht den anderen Kindern."
Leo steckte einen Geldbeutel in den Essensbeutel. „Das ist offiziell das einzige Geld, das wir besitzen."
Sofia nickte brav.
In einen zweiten Beutel kamen warme Decken, die Kleidung, die sie nicht mehr am Körper tragen konnten, Nähzeug, ein kleiner Topf und ein Messer. Ein weiteres hatte Leo in einer Manteltasche.
„Sind wir fertig?", fragte Sofia. Sie sah aus, als fühle sie sich reichlich unbehaglich, und auch Leo bewegte sich wie eine Diebin durch das eigene Haus. Dabei wusste sie ja, dass ihr Vater nicht frühzeitig zurückkommen und sie erwischen konnte. Dabei wusste sie ja, dass sie nur nahmen, was sie brauchten, und ihrem Vater genug zum Leben ließen.
Für einen winzigen Moment zog Leo in Erwägung, ihren Vater einfach mitzunehmen, anstatt ihn so klammheimlich zu verlassen. Aber ihr war klar, dass er nicht fliehen würde. Hätte er das gewollt, wäre er schon längst mit ihnen gegangen.
„Ich denke schon." Leo band Seile an die beiden Beutel, sodass sie auf dem Rücken getragen werden konnten.
„In diesem Aufzug sieht uns besser keiner", sagte Leo leise. „Du musst also den ganzen Weg lang still sein, damit ich hören kann, ob jemand kommt."
Prüfend spähte Leo aus dem Fenster und schreckte sofort wieder zurück. Was machte denn ihr Vater schon hier? Was auch immer der Grund war, würde er sie so sehen, konnten sie gleich wieder auspacken. Oder schlimmeres.
Leo wollte sich nicht einmal vorstellen, was passieren würde, wenn er herausfand, was sie vorhatten. Einen Moment stand sie mit rasendem Herzen da, dann winkte sie Sofia zum Hinterfenster und huschte hindurch. Mit ihrem Rucksack stellte Sofia sich etwas unbeholfen an, aber dann war sie endlich draußen. Die Schritte ihres Vaters waren schnell und bestimmt, und inzwischen sehr nahe. Aber noch hatte er das Haus nicht erreicht.
Leo legte einen Finger auf die Lippen und rannte auf lautlosen Sohlen los.
Bei ihrem Tempo fiel es Leo schwer, zu horchen, ob die Straßen leer waren. Zu laut war ihr eigener Atem in ihren Ohren. Aber zum Glück waren die Straßen leer, und auch ihr Vater schien sie nicht davonlaufen gesehen zu haben, denn er verfolgte sie nicht.
Kein Wort der Klage kam über Sofias Lippen, aber nach der Hälfte der Strecke wurde sie merklich langsamer und schnappte nur noch japsend nach Luft. Obwohl es Leo nicht behagte, verlangsamte auch sie notgedrungen ihre Schritte. In dieser Gegend der Stadt waren viele Häuser so weit zerfallen, dass man über mehrere Straßenzüge hinwegsehen konnte. Leo fühlte sich ungeschützt, aber auch wenn sie diesen Wegabschnitt so schnell wie möglich hinter sich gebracht hätte, blieb ihr keine andere Wahl, als sich Sofias Tempo anzupassen.
Angespannt lauschte sie dem Zwitschern der Vögel, aber alles deutete darauf hin, dass sie alleine in dieser Gegend waren. Immerhin.
„Ich hab Durst."
Sofia war stehengeblieben. Leo lief einfach weiter, aber als sie merkte, dass ihre kleine Schwester ihr nicht folgte, blieb sie angespannt stehen.
„Ich habe auch Durst, Sofia", sagte sie in einem versöhnlichen Tonfall. „Sobald wir im Wald den ersten Fluss erreichen, werden wir anhalten und etwas trinken."
„Ich habe aber jetzt Durst." Sofia sah aus, als gefiele ihr das Abenteuer von Sekunde zu Sekunde weniger.
„Wir haben kein Wasser dabei." Es kostete Leo alle Mühe, ruhig zu bleiben. „Und hier stehenzubleiben ist gefährlich." Leo kam wieder zu ihrer Schwester zurück und streckte die Hand aus. Sofia nahm sie. Aber gerade, als sie weitergehen wollten, hörte Leo es. Das aufgeregte Zwitschern der Vögel. Da kam jemand. Direkt von vorne. Schon sah sie die ersten Vögel aufflattern.
Ohne groß nachzudenken riss sie Sofia hinter sich her und sprang mit ihr in den nächstbesten Keller hinein. Der Aufprall war schmerzhaft, aber selbst wenn es eine Treppe gegeben hätte, hätte ihnen dafür die Zeit gefehlt. Mit wild schlagendem Herzen presste Leo sich gegen den kalten Stein und versuchte sich nicht allzu viele Sorgen über Sofias schmerzverzerrtes Gesicht zu machen. Hoffentlich hatte sie sich nichts ernsthaftes getan.
Nur die Vögel verrieten, dass jemand immer näher kam, Schritte konnte Leo keine hören. Da gab sich wohl jemand Mühe, lautlos zu laufen. Irgendwie beunruhigte Leo das noch mehr, als wenn die Person polternden Schrittes an ihnen vorbeigelaufen wäre. Schon fiel ein Schatten zu ihnen herab in das Kellerloch, und hätte die Person einen Blick hinabgeworfen, hätte sie vielleicht sogar zwei Mädchen gesehen, die sich so fest gegen den Stein pressten, als könnten sie damit verschmelzen. Aber wer immer da auch vorbeilief, er sah nicht hinab, sondern huschte nur lautlos vorbei. Nach nicht einmal einer Minute sangen selbst die Vögel wieder, als sei nichts passiert.
„Hast du dir wehgetan?", wisperte Leo. Noch immer war Sofias Gesichtsausdruck mehr als nur angespannt.
„Meine Hände", sagte Sofia mit zitternder Stimme und hielt Leo ihre aufgeschrammten Handflächen unter sie Nase.
„Und deine Knöchel?", fragte Leo.
„Die sind ok."
Erleichterung durchfuhr Leo. Die Hände würden bald heilen.
„Darum kümmern wir uns, wenn wir im Wald sind. Jetzt müssen wir erst mal hier herauskommen", sagte Leo und begann, sich nach großen, aber tragbaren Steintrümmern umzusehen.
Sofia blickte sie an als wisse sie nicht, ob sie gleich Lachen oder Weinen sollte.
„Stecken wir jetzt hier fest?", fragte sie mit halb erstickter Stimme.
„Nein", sagte Leo überzeugter, als sie sich eigentlich fühlte. „Rapunzel ist doch auch aus ihrem Turm entkommen, oder?"
Tatsächlich gelang es Leo recht schnell, zwei Steine so nebeneinanderzulegen, dass sie gut hinaufklettern und erst Sofia hinausheben und dann selbst hinterherklettern konnte.
„Wer hat damals eigentlich die Häuser gebaut?", fragte Sofia, als Leo sich stöhnend das Kreuz hielt. „Diese Steine kann ja kein Mensch schleppen."
„Da hast du recht", sagte Leo. „Wenn wir uns ein Haus bauen, benutzen wir kleinere Steine."
„Wann bauen wir uns ein Haus?"
„Wenn wir in einer neuen Stadt ein neues Leben anfangen." Leo lief wieder los und Sofia folgte ihr anstandslos. „Vielleicht finden wir auch ein leeres Haus."
Zum ersten Mal dachte Leo wirklich darüber nach, was sie in der neuen Stadt wohl erwarten würde, aber sie konnte sich nichts richtiges vorstellen. Nur wenige wagten es überhaupt, über die anderen Städte zu munkeln. Sie waren weit entfernte Traumgespinste von einem besseren Leben. Aber selbst Leo war klar, dass es keine Städte gab, in denen alle reich und die Pflastersteine aus Gold waren.
Als immer mehr Bäume zwischen den Häuserruinen standen und ihnen zusätzlichen Schutz boten, begann Leo sich ein wenig zu entspannen. Nun war es nicht mehr weit bis zu dem Platz, wo sie die Kinder gestern Abend getroffen hatten. Es kam Leo komisch vor, dass die Begegnung nicht einmal einen Tag her war. Inzwischen schienen Welten geschehen zu sein.
„Wann sind wir da?", fragte Sofia, aber Leo legte nur warnend einen Finger an die Lippen. Jeden Moment könnten die Kinder in Sicht kommen und Leo lauschte angespannt. Ihre eigenen Schritte waren viel zu laut auf dem raschelnden Laub, trotzdem glaubte Leo eine gewisse Unruhe in den Stimmen der Vögel hören zu können. Die Kinder mussten hier irgendwo sein. Inzwischen waren sie komplett von Bäumen umgeben und nur noch vereinzelte Häuserruinen erhoben sich zwischen Blättern und Pilzen, selten mehr als kniehoch.
Und dort, gut versteckt im Halbschatten der Bäume, saßen die sieben Kinder. Sie redeten nicht. Manche schienen zu schlafen. Aber sie hatten gewartet. Eine unbeschreibliche Erleichterung durchflutete Leo, und erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie daran gezweifelt hatte. Auch Sofia hatte die Kinder bemerkt und begann vor Freude auf und abzuhüpfen.
„Psst. Wir sind noch nicht in Sicherheit", ermahnte Leo sie. Aber ein prüfender Blick über die Schulter zeigte nur friedlich daliegenden Wald.
Plötzlich sah eins der Kinder zu ihnen herüber und sprang erschrocken auf die Beine. Schon hatte es ein Messer in der Hand, aber dann erkannte der Junge Leo und Sofia und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Aufwachen, ihr Schlafmützen. Wir können los", sagte er leise, woraufhin sich die Kinder streckten, reckten, und nach und nach auf die Beine kamen.
„Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr", sagte das älteste Mädchen.
„Wir wurden aufgehalten", erklärte Leo. „Danke, dass ihr gewartet habt."
„Wir haben auch ganz viel Geld und Essen mitgebracht!", sagte Sofia stolz.
„Dann nichts wie los." Der Junge lächelte und reckte die Faust in den Himmel. Stumm, aber mit einem Leuchten auf den Gesichtern reckten auch alle anderen Kinder die Fäuste empor. Sofia tat es ihnen nach und Leo nach kurzem Zögern auch.
Dann warfen sich die Kinder ihr Gepäck über den Rücken – und erstarrten.
„Und hier endet eure Reise", sagte jemand mit tiefer, spöttischer Stimme.
„Was habt ihr euch bloß dabei gedacht, Kinder?"
Erschrocken wichen die Kinder zurück, stolperten gegeneinander und tauschten furchterfüllte Blicke aus. Jemand sah Leo an, einen stillen Vorwurf in den Augen, ja beinahe Hass. Aber Leo begriff nicht einmal, dass man sie verdächtigte, die Raubritter mitgebracht zu haben. In diesem Moment erfüllte sie eine unsägliche Furcht und sie blickte sich bereits nach einem Fluchtweg um, bevor ihr Gehirn die Situation richtig erfasst hatte.
Immer mehr Raubritter traten aus dem Schatten des Waldes hervor und umzingelten die Kinder wie eine verängstigte Schafsherde.
„Was hast du getan?", fragte das älteste Mädchen Leo zutiefst enttäuscht.
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