Kapitel 34 - Filios Maschine
Alle Augen der Schüler waren nun auf das Gerät auf dem Tisch gerichtet. Die Überraschung und der Schreck betäubten ihre Körper und machten es schier unmöglich, sich zu bewegen.
»Filio?«, fragte Levi dann mit möglichst lauter Stimme, um gegen den infernalischen Krach anzukommen.
»Silencio!«, sprach in diesem Augenblick Hannes. Sein Zauberstab war genau auf die lärmende Maschine gerichtet. Er warf Filio einen entschuldigenden Blick zu. »Sorry, falls du den Lärm noch interpretieren wolltest, aber wär das noch ein paar Sekunden weitergegangen, wäre mein Trommelfell geplatzt.«
Der Bauherr der Alarmanlage wandte den Blick nicht von seiner Maschine ab, als er angesprochen wurde.
»K...Kein Problem«, stammelte er. »Aus den Tönen kann man nichts interpretieren. Das einzige, was man mit der Maschine feststellen kann, ist dass jemand das Schulgelände betreten hat. Und das ist wohl eindeutig. Jemand, der nicht hierhergehört.«
Levi sah Filio erschrocken an. Jan hatte das Gefühl, aus seinem ohnehin schon kreidebleichen Gesicht war noch mehr Farbe gewichen.
»Heißt das...?«, begann er, schaffte es aber nicht seinen Satz zu beenden. »Kann es nicht auch sein, dass mein Bruder den Alarm ausgelöst hat?«
Filio schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Der Incolus-Zauber sorgt dafür, dass nur Personen von außerhalb registriert werden«, erklärte er vorsichtig.
Levi vergrub sein Gesicht in den Händen. Er atmete tief ein und aus. Dann drehte er sich zum Fenster um.
»Dann wird es wohl Zeit, meinen Bruder zu retten.«
In seiner Stimme lag schon wieder ein Funken Kampfgeist und Optimismus, aber die Sorge, die in ihr lag, war nach wie vor erdrückend schwer. Er nahm den Fenstergriff in die Hand und wollte darin ziehen, aber nichts geschah. Erneut rüttelte er daran. Doch wieder geschah nichts.
»Äh Levi...«, begann Jan vorsichtig. »Du weißt schon, Jorskis Zauber. Du kannst das Fenster nicht aufmachen.«
Es tat dem Jungen leid, seinen besten Freund so zu entmutigen, aber er wusste, dass es hoffnungslos war. Herr Jorski hatte die Aufgabe bekommen, alle Fenster magisch zu verriegeln und Jan war sich sicher, dass der Auror dabei überaus gründlich vorgegangen war. Sein Bild von dem polnischen Lehrer hatte sich seit dem Duell zwischen den Gewächshäusern radikal verändert. Es war ein interessantes Erlebnis, Herrn Jorski mit anderen Augen zu sehen und jeden Tag aufs Neue zu bemerken, wie stumpfsinnig seine Theorien eigentlich gewesen waren.
»Wie gut, dass es Zauberstäbe gibt«, meinte Levi schwach lächelnd und nahm seinen in die Hand. Möglichst entspannt richtete er ihn auf das Fenster.
»Alohomora!«
Der Rahmen wackelte leicht, aber die beiden Flügel machten keine Anstalten, sich zu bewegen. Es war, als würden sie von einer unsichtbaren Hand zugehalten.
Jan seufzte. Er hätte Levi nur zu sehr Erfolg gewünscht. Aber es wäre wirklich verwunderlich gewesen, wenn Herr Jorski die Fenster nicht dagegen geschützt hätte.
»Versuchs mal mit Fenestra«, schlug Hannes vor und warf Levi ein aufgeschlagenes Buch zu. Der reagierte vollkommen überrascht und fing es in letzter Sekunde auf. Dafür, dass Levi ein sonst so herausragender Hüter war, fand Jan diese Reaktionszeit erschreckend lange. Es verdeutlichte, wie schlecht es ihm ging.
Levi betrachtete die Buchseite kritisch.
»Sollte ich hinbekommen«, schlussfolgerte er schließlich und richtete seinen Zauberstab erneut auf das Fenster. Dabei sprach er klar und deutlich den von Hannes empfohlenen Spruch. Jan beobachtete interessiert, was dann passierte. Ein weißer Lichtblitz verließ den Zauberstab und traf das Fenster. Dieses zersplitterte in kleine Einzelteile, die allerdings nicht zu Boden gingen. Stattdessen blieben sie wie an einem Mobile in der Luft hängen, wuchsen und klebten schließlich wieder mit den benachbarten Scherben zusammen.
Levi seufzte laut.
»Ich muss meinen Bruder retten«, murmelte er leise und fuhr sich nachdenklich durch die Haare.
»Vielleicht sollten wir einen Lehrer warnen«, überlegte Hannes. »Wir können sowieso nicht viel gegen einen Eindringling anrichten.«
Doch Levi schüttelte entschieden den Kopf.
»Was, wenn sie nicht eingreifen? So wie sie das ganze Jahr nicht eingegriffen haben. Dann kontrollieren sie, dass wir bloß nicht raus gehen und sonst passiert nichts. Es muss einen anderen Weg geben.«
Jan spürte, wie sein Herz vor Mitleid für Levi fast zerbrach. Es erinnerte ihn an den Tag, an dem er Herrn Jorski unbedingt hinterherspionieren wollte und er nach einer Lösung gesucht hatte. Nur das es hierbei nicht um ein kindisches Detektivspiel ging. Jetzt stand das Leben von Levis Bruder auf dem Spiel. Und das mussten sie retten. Er brauchte eine Idee, eine, mit der er Levi helfen konnte. Wie war es nur möglich, so ein Fenster zu öffnen – oder gar zu zerstören?
Auf einmal kam ihm Herr Lurcus in den Kopf. Er hatte auch das Fenster zerstört, als er die beiden Schüler entdeckt hatte, die mit einem Carl fliehen wollten. Er hatte einen anderen Zauber benutzt. Und Jan wusste auch noch, welche Bewegung er gemacht hatte.
»Kann ich mal?«, fragte er vorsichtig und stand von seinem Bett auf. Er zog seinen Zauberstab aus der Tasche und fühlte sich ein wenig, wie Frau Schmidt, wenn sie ihnen einen Zauber vorführte. Ganz konzentriert hielt er ihn dem Fenster entgegen. Und dann macht er eine Handbewegung, die er aus Kindestagen gut kannte. Bereits als Herr Lurcus diesen Zauber aufgeführt hatte, war er an das Diabolo-Spielzeug erinnert worden. Sein Onkel arbeitete in einem Zirkus und hatte dort auch mit diesem Gerät zu tun gehabt. Zwar war er oft auf Jahrmärkten und Jubiläumsfeiern unterwegs gewesen, aber wenn er einmal bei Jans Familie zu Besuch war, dann hatte er ihm immer etwas mit- oder beigebracht. Besonders das Diabolo hatte Jan in Grundschulzeiten sehr fasziniert. Es war ein Gerät, das so aussah, wie zwei falsch zusammengeklebte Halbkugeln und auf einer Schnur balanciert werden musste. Ein Trick, den sein Onkel ihm beigebracht hatte, ließ das Gerät über sein Bein hüpfen. Dafür musste man eine geschickte Bewegung mit dem Arm machen. Und genau mit dieser Bewegung hatte Herr Lurcus das Fenster entfernt.
»Fenestram deleo!«
Jan konnte seinen Augen nicht trauen. Die Glasscheibe löste sich tatsächlich in Luft auf. Ungläubig hielt er seine Hand dorthin, wo vorhin noch das Fenster gewesen war, aber seine Finger bekamen nur Luft zu fassen.
Levi trat überrascht neben ihn.
»Du hast es geschafft, Jan«, staunte er und vergewisserte sich ebenfalls, dass die Scheibe wirklich verschwunden war. »Jetzt kann ich meinen Bruder retten.«
Jan drehte seinen Kopf zu Levi und sah ihn mit hochgezogenen Augen an.
»Du meinst natürlich wir«, korrigierte er.
Doch zu seiner Überraschung schüttelte Levi den Kopf.
»Ich weiß das echt zu schätzen, Jan«, begann er vorsichtig. »Aber ich kann dich nicht mitnehmen. Ich würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert. Und das ist leider gerade nicht wirklich unwahrscheinlich. Ich weiß, du willst mir helfen, aber Quentin wollte auch helfen und sieh was passiert ist.«
Er machte eine kurze Pause und holte einmal tief Luft.
»Weißt du, das ist vollkommen verrückt und lebensgefährlich, was ich hier vorhabe. Kein normaler Mensch würde in einen Wald einbrechen, in dem sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gefährlicher Schwarzmagier aufhält. Ich normalerweise erst recht nicht. Aber mein Bruder bedeutet mir echt viel. Er hat mir beigebracht auf einem Besen zu fliegen, er hat mir meine Eule geschenkt, er hat mir jede Woche einen Brief geschrieben, als ich noch nicht in Winterfels war. Ich kann nicht ohne ihn leben. Ich muss ihn beschützen so lange es noch geht.«
Er warf einen Blick aus dem Fenster in die schwarze Dunkelheit. Dann sah er seine Freunde eindringlich an.
»Aber das ist meine Sache. Nicht eure. Ihr habt mir super geholfen und dafür bin ich euch auch dankbar. Ich bräuchte jetzt noch dein unendliches Seil, Filio, und dann breche ich auf. Ich... naja, ich schaff das schon.«
Filio sah zögerlich zu Jan. Der wiederum sah Levi tief in die Augen. Er würde seinen Freund nicht alleine gehen lassen. Levi war das ganze Schuljahr immer für ihn da gewesen. Er hatte ihn direkt am ersten Tag offen angenommen, hatte ihn unterstützt, wenn er im Unterricht mit der Zauberei überfordert war und hatte zu ihm gestanden, wenn Jan selbst nicht mehr an sich geglaubt hatte. Jetzt war es an der Zeit, etwas zurückzugeben. Er wusste nur nicht, wie er das in Worte fassen sollte.
»Das Seil ist eine tolle Sache, aber hierfür vielleicht nicht die beste Lösung«, kam ihm Hannes da zuvor. »Sollte was passieren, brauchst du ewig bis du wieder im Zimmer bist. Mein Besen ist noch bei mir im Zimmer, weil Herr Jeffer ihn gestern repariert hat. Wenn wir mitkommen dürfen, kannst du ihn haben.«
Levi sah noch einmal nach draußen. Er atmete erneut tief ein.
»Ich danke euch«, meinte er dann. »Ihr seid wirklich die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Aber bitte versprecht mir, dass ihr auf mich hört, wenn etwas Schlimmes passiert. Wenn ich für euch Zeit gewinnen will, dann flieht, hört ihr?«
»Ich würde sagen, so weit lassen wir es gar nicht erst kommen«, warf Filio ein. »Aber ganz ehrlich bezweifle ich, dass wir alle auf deinen Besen passen, Hannes. Also zwei Leute gehen ja noch, aber zu viert?«
»Lina hat ihren Besen neulich in ihr Zimmer geholt, weil sie Angst hat, dass ihr toller Nimbus 2002 von den Bösen gestohlen wird«, erklärte Hannes. »Und Marinas Komet hat sie da gleich mitgebracht. Wir fragen die beiden einfach, ob wir sie haben können.«
»Lina wird uns ihren Besen wohl kaum geben«, entgegnete Levi. »Aber mein Bruder hat seinen im Gemeinschaftsraum liegen, da bin ich mir ziemlich sicher. Normalerweise würde es wohl nicht so gerne sehen, wenn ich ihn ungefragt nehme, aber ich denke, das hier ist eine Ausnahme.«
Und so machten sich Levi und Hannes auf den Weg, um ein paar Besen zu holen.
Überraschenderweise kamen sie nach einiger Zeit allerdings nicht nur mit zwei Besen, sondern auch mit drei Mädchen zurück. Jan konnte sehen, wie sie sich interessiert im Raum umsahen und er war sich sicher, dass Lina einen spitzen Kommentar zu Filios Schreibtisch abgegeben hätte, wenn die Lage nicht so ernst wäre.
»Wirklich, ich kann dort nicht die Verantwortung für euch alle tragen«, seufzte Levi gerade, als er den Besen seines großen Bruders neben dem Fenster abstellte.
»Kein Problem, wir müssen dir auch nicht helfen«, entgegnete Lina. »Wir können auch zu Tuplantis gehen und sagen, dass in einem Haistra-Zimmer auf mysteriöse Art und Weise das Fenster verschwunden ist.«
»Das ist Erpressung«, beschwerte sich Levi scherzhaft. »Aber mal ehrlich, wäre es nicht besser, wenn jemand hierbleibt und die Lage von hier oben im Auge behält?«
Er sah sich fragend unter seinen Freunden um.
»Das kann ich gerne machen«, meine Anna. »Ihr wisst ja, dass ich auf einem Besen nicht wirklich gut aufgehoben bin, schon gar nicht in so luftiger Höhe. Wenn ich rote Funken sehe, dann helfe ich euch.«
Levi lächelte ihr dankbar zu. Und auch Jan war dankbar, dass sie sich dafür bereit erklärt hatte. Auch, wenn er sich ehrlicherweise sehr vor dem bevorstehenden Ausflug fürchtete, so wollte er auf jeden Fall Levi helfen. Der hingegen sah sie alle noch einmal prüfend an.
»Und ihr seid wirklich sicher, dass ihr nicht hierbleiben wollt?«, versuchte er noch einmal die Verantwortung von sich abzuschieben, doch er erntete nur ein Kopfschütteln.
»Dann fliegen wir mal los«, entschied er und stieg auf das Fensterbrett. »Jan, fliegst du mit mir?«
Jan nickte dankbar. Auch wenn er für gewöhnlich liebend gerne einmal mit Marina auf einem Besen geflogen wäre, so war er in diesem Moment recht dankbar dafür, bei Levi zu sein. Bei jemandem, wo es ihm nicht unangenehm war, Angst zu haben. Und mit diesem guten Gefühl kletterte er zu Levi auf den Besen und hielt sich an dessen Schultern fest.
»Bereit?«, fragte Levi.
»Bereit!«, bestätigte Jan.
Und dann stießen sie sich ab. Hinein in eine gefährliche Suche.
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