WISPERFLUCH
Port Gizah, im Norden von Shyreon, 447 nach der Eroberung
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„Was für ein hässliches Pisswetter", murmelte Whisper und zog sich die Kapuze ihres geölten Umhangs tiefer ins ohnehin schon nasse Gesicht.
„Kannst du laut sagen", bestätigte Tiborazo mürrisch.
„Was für ein hässliches Pisswetter!", brüllte Whisper, eine Möwe flatterte verstört auf und verspritzte schlammiges Wasser in alle Richtungen.
Tiborazo unterdrückte ein erschrockenes Zusammenzucken. Seit einer Stunde sitze ich hier, und es ist nicht ein lautes Wort gefallen. „Bei allen Göttern. Ich dachte, wir wären hier auf einem Auftrag, bei dem, wie sagtest du, diskretes Vorgehen von höchster Wichtigkeit wäre."
Whisper lachte leise. „Keine einzige verfluchte Seele achtet auf mich. icht, während es regnet, als würden alle Dämonen auf uns herabpissen, und stürmt, sodass jeder, der sich aus seinen vier Wänden hervorwagt, seine Hosen festhalten muss." Sie zitterte sichtlich, als der Wind eisig unter ihren Mantel fuhr, und versuchte, ihren einzelnen Flügel zwischen sich und die feuchten Böen zu stellen. „Schon gar nicht diese Minotauren mit der Intelligenz einer toten Ratte."
Nicht einmal unter dem Vordach der heruntergekommenen Taverne waren sie vor dem Regen sicher. Der Wind fegte über die kopfsteingepflasterten Docks, während das Wasser gierig gegen die Mauern schwappte und ein paar Fischer ihre Netze vor dem Wind in Sicherheit brachten. Kriegsschiffe und Fischerboote tanzten als dunkle Umrisse in den ersten Schatten der Dämmerung auf den schwarzgrauen Fluten, gemildert durch die Hafenmauer, doch durch die Einfahrt tobte dennoch eine tosende Welle nach der anderen heran.
Trotzdem Heulen des Windes und dem Klatschen des Wasser konnte Tiborazo die Takelage der Schiffe singen hören, eine Flagge mit dem silbernen Hammerhai auf dunkelblau flatterte an ihrer Stange, darunter tanzten drei grüne Flammen auf schwarzem Grund, als seien sie real. Er schmeckte die Gischt mit jedem Atemzug, salziges Wasser ließ sein Fell kleben und seine Mähne verfilzen. Die Glöckchen in seinen Haaren klingelten bei jedem Windstoß. Ein Flug jetzt, bei diesem Wetter, das wäre eine Herausforderung. Beinahe war er versucht, einen Abstecher zu wagen, doch er hatte es sich versprochen. Er würde warten, bis Whisper zurück war.
Whisper schauderte erneut, und er überlegte, ob er ihr einen Flügel um den schmalen Körper legen sollte. Nur, um sie zu schützen. Doch nein. Whisper lässt sich nicht berühren, nicht, wenn sie nicht ihre ausdrückliche Erlaubnis gegeben hat. Und die gibt sie leider viel zu selten.
„Wenn Lord de Mantara genau so dumm ist, wie du sagst, hast du leichtes Spiel", bemerkte Tiborazo.
Sie kicherte in sich hinein, Metall blitzte in der Dunkelheit ihres Mantels auf. Ein Messer huschte durch ihre langen, schmalen Finger, tanzte über ihre Knöchel, so wie es manche mit Münzen konnten, drehte und flog für den Bruchteil eines Augenblicks durch die Luft, nur um wieder von ihr aufgefangen zu werden. Klirrend schlug die Klinge gegen ihre langen, scharfen Krallen, dem Hauch ihres Gryff-Erbes. „Mantara hat nicht den Hauch einer Chance. Die Dokumente werden mir gehören, noch bevor er bemerkt, dass ich sein Anwesen wieder verlassen habe."
Er schnaubte. „Angeberin."
„Langweiler." Sie verstaute das Messer erneut in der passenden Scheide und blickte hinaus zu den Wellen. „Hoffentlich beeilen sich diese verfluchten Wachen."
„Ich bitte darum. Nur wegen ihnen müssen wir hier draußen sitzen und nicht drinnen, wo es warm und trocken ist. Wo es Rum gibt." Er seufzte wehmütig.
Sie fluchte leise, als eine erneute Windbö ihre Kapuze von ihrem Kopf wehte und der Regen in ihr hübsches Gesicht peitschte. Das graue Fell der Nebelparder war hell bei ihr, mit dunkelgrauen und schwarzen Flecken auf dem schlanken, muskulösen Körper, nun verborgen unter dem Mantel und der ledernen Kleidung, die sie zu jedem Raubzug trug. Heftig schlug die die Kapuze wieder hoch, das Wasser spritzte auf Tiborazos Fell. „Du hast es gut, Nastura. Du kannst dich gleich deiner Wärme und deiner Trockenheit und dem Rum hingeben. Wer weiß, vielleicht hast du Glück und es gibt Panthera-Huren in dieser Stadt." Ihre dunklen Augen blitzten schelmisch.
Tiborazo grinste. „Ich hoffe es doch." Und ich werde trotzdem nur an dich denken, und es bedauern, dass du nicht das gleiche willst wie ich.
Sie lachte leise. „Währenddessen werde ich durch den Regen rennen, über eine schier unüberwindbare Mauer klettern, in das Herrenhaus eines vom Verfolgungswahn geplagten Minotauren einbrechen und die Dokumente stehlen, die Lord Solstice verlangt, und mich dabei in Lebensgefahr bringen", murrte sie spöttisch.
„Tu nicht so, als würdest du es nicht lieben, Nebelschatten."
Sie grinste, ihre weißen Zähne leuchteten im Schwarzgrau des verregneten Hafens. „Mehr als alles andere auf der Welt."
Das Geräusch von Hufen auf Steinen näherte sich, und die Wachen betraten die Docks, acht Minotauren in roten Uniformen, beinahe braun vom Regen. Wasser tropfte von ihren Hörnern und lief in ihre Krägen. Schwarze Umhänge aus Öltuch flatterten um ihre Schultern, Schwerter und nutzlose Gewehre klirrten laut durch das Pfeifen des Windes und das Rauschen des Meeres. Im gelangweilten, mürrischen Gleichschritt passierten sie die Taverne, ohne Tiborazo und Whisper eines Blickes zu würdigen, und verschwanden in der nächsten Gasse.
Tiborazo folgte ihnen mit den Augen, und als er wieder zu Whisper blickte, hatte sie sich bereits von der Wand abgestoßen und blickte angespannt hinaus in den Regen. Ihr Finger spielten aufgeregt mit dem Verschluss ihres Umhangs.
Er sah sie fest an, suchte Blickkontakt, doch sie ließ es nicht zu. „Ich warte auf dich. Du holst die Dokumente, und wir verschwinden."
Sie lachte, es klang etwas gezwungen. „An einen Ort, wo es nicht regnet. Obwohl es wohl eher Ilron sein wird." Ihre Finger zuckten, während ihr Blick über den Hafen flackerte. „Wir treffen uns hinter der Gerberei. Es kann sein, dass es lange dauern wird, vielleicht muss ich noch die Wachen abschütteln, bevor ich mich verstecken kann." Plötzlich sah sie ihn direkt an, und der Blick ihrer dunklen Augen trafen ihn wie eine der Windböen, unerwartet und erschreckend. „Sei bereit, Razo. Wir werden uns beeilen müssen, als wäre die Grausame Mistress hinter uns her."
„Pass auf dich auf, Whisper", flüsterte er rau. Beinahe hätte er ihre Hand ergriffen, doch er hielt sich zurück.
Sie grinste, und der Moment zerfloss mit dem Regen. „Immer doch." Flink wandte sie sich um und trat hinaus in den Regen, schaudernd hob sie die Schultern, als der Wind sie erreichte. „Einen schönen Abend noch, im Trockenen, mit Rum und Huren! Und trotzdem werde ich mehr Spaß haben als du, Nastura!", rief sie ausgelassen.
„Mir war es lieber, als du mich Razo genannt hast", entgegnete er und verfluchte sich im gleichen Moment für seine Worte. Sie weiß, wie gerne ich sie mag. Es ist ihr nur unangenehm.
„Leck mich doch, Nastura", lachte sie, das letzte Wort schrie sie beinahe, als wollte sie ihn in seine Grenzen weisen. Mit einem letzten spielerischen Sprung wirbelte sie herum, die Federn ihres Flügels zitternd in den Böen, und rannte hinein in das Labyrinth der Gassen.
Nichts würde ich lieber. Kurz blickte Tiborazo ihr hinterher. Ich weiß, wo ich stehe. Ich weiß, warum sie mich immer und immer wieder zurückweist. Aber ich gebe nicht auf. Ich hoffe, dass sie eines Tages bereit sein wird, ich weiß es einfach. Und dieser Tag wird der beste meines Lebens sein. Er trat ebenfalls einen Schritt nach vorn und packte seinen Hut, um ihn nicht dem Sturm zu überlassen. Der Wind zerrte an seinem blauen Umhang, nun schwarz und schwer vom Wasser, und ließ seine Flügel erbeben.
Die Taverne war zu schlecht gewesen, als dass sie einen weiteren Besuch wert war, und so ließ er zu, dass seine Füße durch in die Straßen von Port Gizah trugen, in die Richtung, die ihn vom Herrenhaus entfernte. Dort, wo das Hafenviertel endete und das der Handwerker begann, verlangsamte er seine Schritte, und betrat schließlich einen der Pubs, ein entsetzlich kleiner, beengter Raum, gefüllt mit Seemännern und ersten Handwerkern, die ihre Arbeiten bereits beendet hatten. Ein guter Ort. Nahe genug an der Gerberei, und weit entfernt vom Herrenhaus des Lords. Die Hitze, die die Gäste, die Fackeln und Kerzen und die Schüsseln mit heißem Eintopf ausströmten, schlug über ihm zusammen, vermischt mit dem strengen Geruch nach nassem Fell, Rauch und schwerem, fettigem Essen.
Unbeeindruckt von dem Gestank suchte Tiborazo sich einen Platz zwischen zwei entsetzlich falsch singenden Minotauren und einem nervösen Ipotame, der eingehend in seinen Becher starrte und vorsichtige Blicke zu Tiborazo warf. Einer der Minotauren unterbrach seinen Gesang und musterte ihn prüfend.
„Du siehst aus wie 'n Spielmann", stellte er fest, die Stimme verwaschen vom Alkohol.
Tiborazo blickte an sich herab und wandte sich dann dem Minotauren zu. „Woran erkennst du das?", fragte er milde amüsiert, nahm einem Schankmädchen einen Krug ab und blickte vorsichtig hinein. Eine schwarze, dickliche Flüssigkeit schwappte darin, und er erhaschte einen Hauch von Starkbier unter all dem Schweißgestank.
„Du hast mehr Farben an als die alte Lady Carínar. Rote Jacke, geschlitzte Ärmel, grüne Hose mit Streifen, blauer Umhang, verdammt, sogar deine Waffen sind rot und grün lackiert. Da sind Glöckchen in deiner Mähne. Und", er hob beide Zeigefinger, wie um seine nächste kluge Beobachtung anzukündigen, „du hast 'ne Flöte im Gürtel."
Tiborazo trank einen Schluck und verzog zufrieden das Gesicht. „Gut beobachtet."
Der Minotaurus wechselte einen begeisterten Blick mit seinem Kameraden. „Sieht man nicht oft, 'nen Spielmann wie dich. Vor allem nicht bei so", er wies mit seinem Bierkrug auf ihn, „einem Ungetüm wie dir. Ich meine natürlich nur deine Größe", beeilte er sich zu sagen, als Tiborazo ihm einen skeptischen Blick zuwarf.
„Wir sind die Männer der Princesa. Ist ein großes Handelsschiff", erklärte der andere. „Unsere gesamte Crew ist hier."
„Spielst du was für uns?", wollte der Erste wissen. „Wir zahlen dir deine gesamte Zeche", fügte er fröhlich hinzu und legte einen Shilling auf den Tisch.
Du sagst, du hättest mehr Spaß als ich, Whisper? Ich werde tun, was ich kann, dass das nicht der Fall ist. Tiborazo leerte seinen Krug. „Mehr!", verlangte er laut und zog die Schalmei aus dem Gürtel. Soweit hat mich das Instrument schon begleitet. Es hat jedes Land gesehen, in dem ich schon war, und ebenso wie auf mir haben die Jahre auch bei ihm ihre Spuren hinterlassen. Schwerfällig stemmte er sich in die Höhe, setzte die Flöte an die Lippen und spielte das erstbeste Lied, das ihm in den Sinn kam.
Für einen Augenblick blickten die Minotauren verwirrt, als sie versuchten, die Melodie zu erkennen. „Das schöne Weib von Port Gizah!", brüllte einer von ihnen plötzlich, und der donnernde, schiefe Gesang der Minotauren erfüllte die Taverne.
Lied um Lied spielte Tiborazo, während ein Bier nach dem anderen seine Kehle hinunterfloss. Die Stunden vergingen, die Welt verschwamm in einem Meer aus Rum, Schwarzbier und Whiskey, und die Betrunkenen sangen ihm laut und voller Begeisterung ins Ohr. Ich hatte unverschämtes Glück, den Troubadouren anzugehören. Wer bei ihnen das Kämpfen und das Spielen erlernt, ist nie wieder allein. Die Sperrstunde kam, die Seemänner gingen, und Tiborazo blieb zusammen mit der erschöpften Wirtin und vier arg betrunkenen Männern zurück.
Die Welt schwankte, als er sich erhob. Mit leicht fahrigen Bewegungen schob er die Schalmei zurück in den Gürtel, band sich seinen Umhang wieder um und trat hinaus in die erlösende Stille der nächtlichen Straßen. Der Regen hatte aufgehört, es blieb nur der schneidende Wind, der die Fackeln vor der Taverne sich sträuben ließ und die ersten Nebelschwaden aus seinem Kopf mit sich riss.
Schnelle Schritte ließen ihn aufhorchen, und ein Trupp Wachen trabte an ihm vorbei, das nasse Pflaster donnerte unter ihren Hufen. „Beeilung!", bellte ihr Anführer, seine Stimme hallte in der engen Gasse wider.
Drei weiteren Trupps begegneten ihm, noch bevor er in die Straße einbog, die zu der alten Gerberei führte, alle im Laufschritt und offensichtlich auf höchster Alarmbereitschaft. Beunruhigt verlangsamte Tiborazo seinen Schritt. Wenn Whisper etwas geschehen ist... doch nein. Sie ist zu gut für so etwas. Whisper de Guille, der Nebelschatten, lässt sich nicht erwischen. Schon gar nicht von den dummen Minotauren. Doch der Gedanke blieb, hartnäckig klebte er in seinem vernebelten Hirn. Unschlüssig blieb er stehen, und wandte sich schließlich an die Minotaurin, die vor einem Bordell stand und ebenfalls nervös den Wachen hinterher blickte. Rote Papierlaternen schwankten heftig im Wind. „Ist was passiert? Sonst sind die nicht halb so aufgeregt."
Sie nickte. „Gab einen Einbruch im Herrenhaus. Den Dieb hat es erwischt, heißt es." Sie blickte über die Schulter in den rot erleuchteten Eingang. „Meinte der Hauptmann zumindest noch vorhin. Haben ihn wohl ins Fort gebracht."
Sein Herzschlag beschleunigte, und er fühlte sich, als wäre er ins eisige Meer gefallen. Er nickte knapp und ging davon, noch bevor sie ihm ein Angebot machen konnte. Sie haben Whisper. Sie haben sie in ihrem elenden Fort. Wenn sie ihr auch nur ein Haar krümmen... Mit fliegenden Fingern überprüfte er seine Waffen und verfluchte sich für seine ungezählten Krüge voll Bier. Aber ich habe schon in schlimmerem Zustand getötet. Diese Minotauren werden kaum ein Hindernis darstellen.
Seine Füße trommelten über das Gestein, Wasser spritzte, und mit einem letzten Sprung erhob er sich in den Himmel. Die Luft schnitt in seine Lungen, der Wind ließ seine Mähne wehen, und nur der Gedanke an Whisper hielt ihn davon ab, mit voller Geschwindigkeit über das Meer davon zu fliegen. Unter ihm flackerten unzählige kleine Fackeln, das Anwesen Lord de Mantaras war ein Garten aus leuchtenden Feuern. Kurz war er versucht, selbst in das Anwesen einzubrechen und Mantara persönlich zu töten, doch er musste Whisper befreien. Nichts anderes zählte.
Er flog eine schnelle Kurve und schoss auf das Fort zu, ein mächtiges Bollwerk, das den Hafen flankierte. Schwere Mauern, unterbrochen von wuchtigen Türmen, umschlossen einen Innenhof, und er erkannte die dunklen Umrisse von Kanonen auf den Wehrgängen. Soldaten marschierten zwischen ihnen umher.
Geduckt landete er auf dem Dach eines Unterstandes für die Halbeinhörner der Wachen, ein Soldat, der sie tränkte, riss überrascht die Augen auf, doch bevor er schreien konnte, rammte Tiborazo ihm das Schwert in die Kehle. Dumpf fiel die Leiche zu Boden, und Tiborazo huschte in die Schatten unter einer Treppe. Hastig lud er seine Pistole nach und steckte sie zurück in den Gürtel. Ich habe nur einen Schuss, danach werde ich kaum mehr nachladen können. Jeder wird mich hören, wenn ich sie abfeuere.
Verstohlen blickte er sich um, das Schwert fest in der Hand. Ein paar Soldaten blickten skeptisch in den Hof hinab, Wortfetzen erreichten ihn, doch kein Soldat rief zu den Waffen. Der Mond warf kurz sein eisiges Licht auf das verstreute, nasse Stroh und die kalten Steine, bevor er wieder hinter eiligen Wolkenfetzen verschwand.
Tiborazo trat er aus den Schatten und rannte zum nächstbesten Eingang ins Innere des Forts. Der erste Wachmann starb unbemerkt von seinen Kameraden, der zweite gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Zwei weitere wandten sich um, einer von ihnen setzte zu einem Alarmruf an, bevor Tiborazo ihm das Schwert bis zum Heft in die Brust rammte. Der zweite legte hektisch seine Muskete an und schoss.
Der Schuss klingelte in Tiborazos Ohren, während die Kugel seinen Arm streifte und heulend als Querschläger durch den engen Gang peitschte. In der Ferne erhoben sich Rufe und Schritte, und der Minotaur zog sein Schwert.
Er kämpfte noch schlechter, als er schoss. Mit einem schnellen Hieb schlug Tiborazo ihm die Klinge aus der Hand und schlitzte ihn vom Kinn bis zur Hüfte auf. Heulend fuhr der Mann zurück, und er packte ihn an seiner feuchten Uniformjacke und drückte ihn an die raue Steinwand des Ganges. „Wo sind die Zellen?", fauchte er und hielt dem Minotauren das Schwert unter das Kinn. „Wo haben sie die Frau hingebracht?"
„Welche Frau?", stammelte der Minotaur und verzog schmerzverzerrt das Gesicht.
Tiborazo verstärkte den Druck seiner Klinge. „Verkauf mich nicht für dumm. Wo ist sie?"
„In den Zellen", flüsterte der Minotaurus. „Die Zellen sind unter dem Westturm", fügte er schnell hinzu, als das Gesicht des Sireas sich verfinsterte.
Tiborazo verstärkte den Druck. Hinter ihm näherten sich die Schritte mit besorgniserregender Geschwindigkeit. „Bist du dir sicher?", hakte er nach. Erste rote Linien bildeten sich um die Klinge.
Der Minotaurus deutete ein Nicken an und wimmerte leise.
„Ich danke dir." Tiborazo rammte ihm das Schwert in den Hals und rannte, im gleichen Moment, in dem die ersten Kugeln durch den Gang flogen. Dumpfer Schmerz wallte in seinen Flügeln auf, als die Kugeln die dünne Haut zwischen den Fingern durchschlugen. Eine Kugel streifte sein Bein, doch er beachtete es nicht. Weitere Wachen stellten sich ihm in den Weg, und sie alle fielen unter seinen Klingen. Die Sorge um Whisper machte ihn beinahe wahnsinnig.
Den Soldaten vor der Tür zum Westturm gelang es, ihre Schwerter zu ziehen und ein paar ziellose Schläge auszuteilen, und als Tiborazo den ersten mit einem Tritt zurücktrieb, schlug der andere ihm das Schwert aus der Hand. Der Sirea fluchte, riss die Pistole aus dem Gürtel und drückte ab, der zweite Soldat brach kreischend zusammen. Der dritte schlug mit dem Schwert nach ihm, er wehrte die Klinge mit der ledernen Armschiene ab und ließ seine Faust in die Magengrube des Minotauren krachen. Im gleichen Moment riss er das Knie hoch, und etwas im Gesicht des Soldaten knirschte. Heulend taumelte er zurück. Mit einem Sprung erreichte Tiborazo sein Schwert, im gleichen Moment, in dem der vierte Soldat seine Muskete hob.
„Bleib stehen!", befahl der Soldat keuchend. Tiborazo spürte, wie ein verächtliches Lächeln seine Mundwinkel krümmte, duckte sich unter dem Lauf hinweg und rammte dem Mann das Schwert in den Bauch, im gleichen Moment, in dem der Schuss durch den engen Gang peitschte. Für einen Moment hörte und spürte er nichts, bis der Schmerz durch den Arm seines Flügels brandete. Fluchend wirbelte Tiborazo zu den anderen Soldaten herum, schlug den ersten mit dem Knauf der Pistole zu Boden und stieß dem zweiten die Klinge in den Hals. Dumpf fielen sie zu Boden, während Tiborazo vorsichtig seinen Flügel bewegte. Solange ich noch fliegen kann, kann ich mich nicht beschweren.
Die Tür war verschlossen, genau so, wie er erwartet hatte. Hektisch durchsuchte er die Leichen und fand zu seiner Erleichterung den Schlüssel. Die Tür zu knacken ist kein Problem, aber die Dauer... Knirschend öffneten sich die alten Stahlscharniere, und Tiborazo lief die dahinterliegende Treppe hinab, sein eigener Atem klang erschreckend laut in der Stille nach dem klirrenden Metall und den donnerndenSchüssen.
Die schweren Holztüren der Zellen säumten den Gang, mit Stahlbändern und Nieten verstärkt, einige von ihnen standen offen, hinter anderen erhob sich Gemurmel, ein lautes Jammern drang aus einer der Zellen. Nicht von Whisper. Es war von einem Mann, redete er sich ein, um seinen donnernden Herzschlag zu beruhigen. Er warf einen schnellen Blick durch die vergitterten Sichtfenster, die in die Türen eingelassen waren, erblickte einen schlafenden Minotauren zusammen mit zwei anderen in einer Gemeinschaftszelle, einen an den Füßen aufgehängten Faroun, der immer wieder laute, klagende Schreie ausstieß, und blickte in die starren Augen eines Ipotame, der in schmutzigem Stroh lag und anscheinend mit offenen Augen schlief.
In der vierten Zelle fand er sie. Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf sie, wie sie zusammengerollt im Dreck lag, nackt, mit blutigen Krusten im Fell und zerzausten Federn in ihrem Flügel. Seine Hände begannen zu zittern. Vor Zorn oder vor Erleichterung, konnte er nicht sagen. Oh, verfluchte Götter, wenn ich den Mann finde, der das getan hat... Kreischend schwang die Tür auf, und er stürzte auf sie zu. Bevor er sie erreichte, sah er, wie sie sich noch stärker zusammenkrümmte, und er fing sich. „Whisper", flüsterte er, „Whisper, ich bin es." Vorsichtig hockte er sich vor sie und streckte eine Hand aus.
Als er ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen und wirbelte zu ihm herum, das Gesicht zu einem panischen Fauchen verzerrt. Sie zitterte am ganzen Körper. „Razo", hauchte sie, als sie ihn erkannte, Tränen füllte ihre Augen, und er fing sie auf, als sie ihm entgegenfiel. Ihre Schultern bebten, und er spürte ihre Tränen an seiner Brust.
„Verdammte Götter, was haben sie getan?", murmelte er, mehr zu sich selbst als zu ihr. Mit einer Hand löste er seinen Umhang und legte ihr ihn um die Schultern. Er wünschte, er hätte die Zeit, die sie brauchte, um sich auszuruhen, doch er hörte die Rufe der Soldaten in der Ferne. „Whisper, wir müssen gehen. So schnell es geht. Kannst du aufstehen?" Sie nickte an seiner Brust, und er ergriff ihre Hand, um sie mit sich zu ziehen.
Doch kaum berührten seine Finger ihre, stieß sie ein Heulen aus, ein Schrei voll Schmerz, der mehr war als nur körperlich. Er ließ Tiborazo das Blut in den Adern gefrieren, und er schrak zurück. Whispers Schrei verklang zu einem Wimmern, und er folgte ihrem Blick zu ihren Händen.
Ihre Finger waren rötlich schwarz verkrustet mit Blut. Manche Finger standen in grotesken Winkeln von der Hand ab, andere waren steif, wieder andere unnatürlich gekrümmt. Ihre Handrücken waren knotig und wellig, ihre Krallen abgebrochen und zersplittert. Sie hielt ihre Arme so abgespreizt, dass ihre Verletzungen nichts berührten, ihr gesamter Körper schüttelte sich in neuen, stummen Weinkrämpfen.
„Sie haben mir meine Hände gebrochen", stieß sie hervor. „Jeden Knochen, haben sie gesagt. Und sie... sie..." Sie verstummte und schlang die Arme um den Körper, unfähig, sich an etwas festzuhalten. „Ich bin nicht einmal eine Minotaurin und sie haben trotzdem..." Erneut versanken die Worte unter ihren Tränen.
Vorsichtig, um nicht ihre Hände zu berühren, legte Tiborazo ihr einen Arm um die Schultern. „Wir müssen fliehen, Whisper", raunte er eindringlich. „Wir müssen von hier verschwinden, so schnell wir können. Über die Grenze, nach Nyradon. Ich verbinde deine Hände, sobald wir aus der Festung sind, und danach werden wir einen Heiler finden." Der Zorn auf die Minotauren ließ seine Stimme lauter werden, als er erwartet hatte, und er versuchte heftig, seinen Hass zu bändigen.
Sie biss sichtlich die Zähne zusammen, als könnte sie so das Zittern aus ihrem Körper treiben, und trat steifbeinig und mit abgehackten Bewegungen aus der Zelle. Flüche flüsternd beschleunigte sie ihren Schritt, bis sie zügig durch das Spalier der Zellentüren schritt. „Wie kommen wie hier weg?", fragte sie zaghaft, der Schmerz färbte ihre Stimme.
„Wir fliegen. Bis zu einem der Höfe vor der Stadt werden wir es es schaffen. Dort werden wir sicher Pferde oder Halbeinhörner auftreiben können", erklärte Tiborazo, das Schwert bereit, und lauschte auf die Schritte der Wachen. Schritte, und Rufe, doch sie sind weit weg. Trotzdem, wir müssen uns beeilen. Ich kann nicht jeden einzelnen töten. Auch meine Kräfte sind begrenzt. Sie passierten die Tür, und Tiborazo schlug den Weg nach oben ein, den Turm hinauf. Mit Whisper im Arm ist ein Sprung in die Tiefe einfacher als zu rennen.
Ein Soldat trat ihnen entgegen, und Tiborazo rammte ihm von unten die Klinge in den Körper. Der Mann stieß ein durchdringendes Heulen aus, bevor er ihm die Kehle durchschnitt und ihn beiseite stieß. Erneute Rufe und Schritte erhoben sich, und für einen Moment fürchtete er, die Wachen könnten sie von oben und von unten einkesseln, doch durch eine Schießscharte erkannte er, dass sie den Wehrgang bereits hinter sich gelassen hatten. Stufe um Stufe hetzten sie den Turm hinauf, bis sie eine Plattform erreichten, von der eine Leiter hinauf zu einer Luke führte. Aufgeregte Stimmen redeten wirr durcheinander. Mindestens vier von ihnen.
Mit fliegenden Fingern lud Tiborazo seine Pistole nach, Pulver rieselte an der Mündung vorbei zu Boden. Whisper starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, Angst und Schmerz tosten in ihnen, und sie zog umständlich den Umhang um sich.
„Sie haben all meine Sachen gestohlen. All meine Messer. Meine Pistolen." Nervös und erschöpft blickte sie aus einer der Schießscharten auf das Meer hinaus. „Doch ich könnte nie wieder etwas mit ihnen tun. Nicht, wenn..." Sie verstummte.
Tiborazo schob sein Schwert zurück in die Scheide und zog stattdessen seinen Dolch. „Du wirst sie wieder benutzen können. Ich werde dich zu den Stummen bringen. Sie können alles heilen", behauptete er fest.Will ich mich selbst überzeugen oder sie?
Hoffnung flackerte in ihren Augen auf und erstickte wieder. „Doch nie wieder so, wie es war."
Er wollte sie aufmuntern, ihr sagen, dass alles wieder so werden würde wie zuvor, als wäre sie nie gefangen genommen worden, doch es wäre eine Lüge gewesen. Wütend verzog er das Gesicht, setzte zu einem Satz an und verstummte wieder. Sie hasst Lügen. Warum sollte ich ihr eine erzählen, die sie nicht glauben wird? „Warte hier", wies er sie niedergeschlagen an.
Die Leiter knirschte unter seinem Gewicht, als er den ersten Fuß darauf setzte, den Dolch zwischen den Zähnen, die Pistole in der Hand. Vorsichtig hob er die Luke eine Handbreit an, spannte die Pistole, zielte und drückte ab.
Die Kugel schlug von unten in den Kopf eines Soldaten ein. Seine Kameraden schraken zurück, und den Moment ihres Erstaunen nutzte Tiborazo, um durch die Luke zu den Soldaten zu treten.
Er stand zu nahe vor ihnen, als dass sie ihre Musketen einsetzenkonnten, und zu überrumpelt, um schnell ihre Schwerter zu ziehen. Dem ersten der vier stieß er den Dolch in die Achselhöhle, hielt ihn vor sich, während einer seiner Kameraden viel zu hastig eine Pistole zog und abdrückte. Sie schlug in den Brustkorb des Soldaten, und Tiborazo ließ den zusammensackenden Körper los und stürzte sich auf den Schützen. Mit beiden Händen ergriff er ihn und schleuderte ihn über die Zinnen. Sein lang gezogener Schrei endete in einem gedämpften Klatschen, als er unten auf den Pflastersteinen aufkam. Der dritte versuchte ebenfalls, sein Gewehr zu entsichern, doch Tiborazo rammte ihm und seinem Kameraden zugleich die Flügel ins Gesicht. Beide stolperten heulend zurück, das Gewehr klapperte über den Steinboden. Mit einem Flügel drückte er den ersten zurück auf die Steine, ergriff das Gewehr und schoss. Der zweite sackte getroffen zusammen.
„Whisper!", rief Tiborazo und stieß dem letzten die Klinge in die Kehle. Gurgelnd erstarb sein Schmerzschrei.
Stück für Stück kämpfte sie sich die Leiter hinauf, während er sich hinter die Zinnen duckte. Kugeln schlugen von unten in den Stein ein oder flogen zischend in die Nacht. Geduckt huschte sie zu ihm, und er schlang vorsichtig die Arme um sie, in dem Versuch, ihre Hände nicht zu berühren.
Ihr gedämpftes Fauchen sagte ihr, dass er scheiterte. „Es tut mir leid, aber..."
„Es geht nicht anders", zischte sie müde. „Halt... halt mich einfach nur gut fest."
Er nickte und warf einen schnellen Blick über die Zinnen. Das aufgepeitschte Meer schimmerte silbern im Mondlicht, in der anderen Richtung erstreckte sich Port Gizah und dahinter die Hügel von Shyreon. Fest drückte er Whisper an sich, dann sprang er auf und stürzte sich über die Zinnen in die Luft. Kugeln schossen an ihm vorbei und er beschleunigte, so weit er es mit dem zusätzlichen Gewicht konnte. Sein verletzter Flügel schickte Speere aus Schmerz seine Schulter hinauf, doch er beachtete es nicht, auch nicht, als die Stadt unter ihnen den Feldern und vereinzelten Zypressen des Hinterlandes wich. Seine Arme zitterten bereits unter Whispers Last, vielleicht war es auch sie, die sich bebend an ihn drückte, und still hoffte, er würde sie nicht fallen lassen. Niemals, für kein Gold der Welt, würde ich dich loslassen.
Zumindest nicht, bevor sie ein Versteck erreicht hatten. Bevor sie in Sicherheit waren.
Er sammelte seine letzte Kraft zusammen, schlug mit den Flügeln und wandte sich nach Osten.
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