STURMSÄNGER
Seyjalla, Nordküste von Ibes, Eckoyr, 447 nach der Eroberung
Die Gryffs beobachteten ihn. Sechs von ihnen, in den verschiedensten Größen und Farben, wettergegerbt und schwer bewaffnet, mit Piken, schweren Gewehren, Armbrüsten und Schwertern. Ihre Rüstungen waren aus Drachenleder, voller Schrammen und dunkler Flecken, mit abgeblätterten Schuppen und lückenhaften Eisenbeschlägen. Sie waren zerzaust und sehnig, und als einer von ihnen sich erhob und zur Theke der Taverne trat, sah Tiborazo, dass er das schwere Breitschwert an seiner Hüfte sicherlich auch zu schwingen wusste.
Er wusste, er sollte sich nicht sorgen. Spielmänner in Tavernen werden immer angestarrt. Erst recht, wenn sie gut spielen, und wenn ich schon jedes Lied spielen kann, das sie mir sagen, ist mein Ruhm mir sicher. Aber ich kenne diese Blicke. Er kannte sie von Wegelagerern, von Räubern, die nur auf einen Moment seiner Unaufmerksamkeit warteten. Es waren hungrige, hohläugige Blicke von jenen, denen ein Shilling mehr wert war als ein Leben. Und gerade jetzt, mit so viel Gold, das die Dracones für mich bezahlen, werde ich noch gieriger angestarrt als früher. Er fragte sich, ob sie von jemandem geschickt worden waren, jemand, der ihn für seine Freveltaten hängen sehen wollte. Vielleicht sogar von den Minotauren, quer durch Nyradon bis hierher in den Osten, selbst wenn sein letzter Besuch in Shyreon beinahe ein halbes Jahr her war.
Sein Blick traf den eines der Gryffs. Der Mann lächelte schief und senkte den Blick wieder auf seinen Bierkrug. Kein finsteres oder herausforderndes Lächeln, wie es die meisten mit verhängnisvollen Plänen hatten. Beinahe freundlich.
Misstrauisch beendete Tiborazo Rote Sonne und spielte die ersten Takte von Der böse Herr Havelle. Einige begannen, mitzusingen, selbst einer der zwielichtigen Gryffs hämmerte mit seinem Krug im Takt auf dem Tisch und versuchte, seine Kameraden zu etwas Enthusiasmus überreden zu wollen.
Eine Amphitere mit einer Fiedel sprang neben ihm auf den Tisch und stimmte mit ein, zwar ein wenig schief mit einem ungestimmten Instrument, doch Tiborazo erinnerte sich an wesentlich unangenehmere Mitspieler und ließ sie gewähren, ohne die Gryffs aus den Augen zu lassen.
Die Zeit verging, die Taverne füllte sich mit erschöpften Hafenarbeitern, mit Huren und Tagelöhnern, mit Handwerkern und Reisenden. Ein Shacani mit einer zweiten Schalmei stimmte in ihr Spiel ein, schließlich ein Lautenspieler, und Tiborazo nutzte die Gelegenheit.
Mit einem Bierkrug in der Hand trat er auf die Gryffs zu. „Gibt es ein Problem?", fragte er bemüht freundlich.
„Du bist der Rattenfänger, stimmt's?", wollte einer von ihnen wissen,ein hagerer Mann mit den Flecken eines Geparden auf dem hellen Fell. Selbst die Federn seiner Flügel waren gescheckt. Der Mann neben ihm rammte ihm den Ellenbogen in die Seite und bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
Tiborazo nickte langsam. „Aye, der bin ich. Warum?" Im Schutze seines Umhanges tastete er nach seinem Dolch. Gegen sie habe ich kaum eine Chance, aber der Versuch ist es wert.
„Ich wusste es!", rief der Gryff begeistert. „Ich sag's euch noch, und ihr glaubt mir nicht!"
„Ist ein verdammter Glücksfall", bestätigte ein zweiter, das fleckige Fell und die zerzausten Federn nachtschwarz. „Was treibt dich nach Ibes?"
„Warum?", hakte Tiborazo skeptisch nach.
Der Schwarze zuckte mit den Schultern. „Wir fragen uns, was dich in dieses Drecksloch verschlagen hat. Eigentlich kaum ein Ort, an dem man jemanden, der es so weit geschafft hat wie du, antreffen sollte."
Weit geschafft? Auf Fahndungsplakate in fünf Königreichen, und in die Gespräche von Strauchdieben wie euch. Ziemlich weit. „Ich weiß nicht, warum euch das interessieren sollte."
Der Schwarze senke verlegen den Blick. „Verzeihung, ich weiß, dass du vorsichtig sein musst. Ich bin Shinn Flaig. Das sind meine Männer, Ramire, Rith, Odenser und Ghanteri." Nacheinander wies er auf die Anwesenden. „Und meine Tochter, Listana. Wir gehören den Sturmsängern an."
„Drachenjäger", ergänzte Rith, der Gefleckte.
„Tiborazo Nastura", stellte der Sirea sich vor. „Aber das wisst ihr sicher."
Shinn lachte kurz auf. „Aye, das wissen wir. Du bist ein Jäger, nicht wahr?"
„Er nennt sich der Rattenfänger, natürlich ist er ein Jäger", mischte sich Ramire, ein struppiger, kleiner Gryff mit ungewöhnlich langen Ohren, ein.
„Der beste von allen, heißt es", fügte Rith begeistert hinzu.
Tiborazo lächelte amüsiert. „Das stimmt."
„Was jagst du?", fragte Shinn.
„Alles, wenn das Gold stimmt." Tiborazo nahm einen Stuhl von einem angrenzenden Tisch und ließ sich bei den Gryffs nieder.
Die Drachenjäger wechselten Blicke. „Hast du schon einmal etwas größeres als eine Ratte gejagt?", fragte Shinn schließlich.
„Zum Beispiel?"
„Einen Drachen."
Das war bei ihrem Handwerk zu erraten. „Ich habe einmal ein Titaneinhorn in den Outlands gejagt."
Ghanteri, ein großer, schlanker Gryff, lächelte dünn. „Einhörner sind leicht zu fangen. Drachen dagegen..." Er wandte den Kopf und zeigte seine linke Gesichtshälfte. Narbengewebe spannte sich scharf über Knochen, sein sandfarbenes Fell war gräulicher, wulstiger Haut gewichen. „Sie brennen dir das Gesicht weg, sobald du ihnen den Rücken zuwendest. Hinterhältige Biester."
Das Einhorn hat mir mehrere Rippen gebrochen. So einfach war es nicht, ihm beizukommen. „Ich habe wesentlich schlauere Wesen verfolgt und zur Strecke gebracht, keine Sorge. Gefährlicher waren sie auch." Das Bild einer grau gescheckten Halbgryff tauchte vor seinem inneren Auge auf, ihre fröhlich blitzenden dunklen Augen, und der Schmerz in ihnen, während der Mond durch ein vergittertes Fenster schien. Schnell scheuchte er sie aus seinem Kopf.
„Nicht so gefährlich wie das, wovon wir reden", seufzte Shinn. „Auf den Hochebenen treibt sich eine Bestie herum. Manche behaupten, es wäre ein Drache, andere reden gar von einem Dämon. Angeblich ist sie so groß wie ein Haus. Nachts schleicht sie sich heran und massakriert unsere Lager. Alle großen Drachenjäger-Clans, die Roten Hellebarden, die Flüsternden, die Nebelspinnen, die Windsucher, alle suchen nach ihm. Manche haben ihn gefunden. Von ihnen kamen nur die Hälfte zurück. Zuerst haben wir geglaubt, es wäre der Große Schatten, aber solange wir ihn in Ruhe lassen, tut er uns nichts an. Was sich auch immer dort herumtreibt, er ist es nicht."
Tiborazo trank einen großen Schluck. „Ich bin ein großer Freund von Geschichten, gerade von denen, die wahr sind, aber das, was du erzählst, hört sich ein wenig nach einem Märchen an. Ein Dämon? Wenn es einer wäre, wäre die gesamte Hochebene voller Stummer, die ihn wieder bannen würden."
„Es ist ein Drache, so viel sei gesagt. Zumindest behauptet das Orcai von den Nebelspinnen", meldete sich Rith zu Wort.
Ghanteri verzog das Gesicht und trank einen Schluck. „Verfluchte Netzespinner."
„Ihr seid Drachenjäger. Wenn es ein Drache ist, warum fangt ihr ihn dann nicht?", fragte Tiborazo.
Listana lachte verächtlich auf. „Ich werde die Bestie allein zur Strecke bringen!", prahlte sie.
Shinn seufzte. „Was meine Tochter andeuten möchte, ist, dass genau das unser Vorhaben ist. Sie ist jetzt alt genug, um ihre Reife prüfungabzulegen. Danach ist sie eine wahre Sturmsängerin." Listana lächelte stolz. „Sie wird den Drachen fangen und ihn zu unseren Anführern bringen."
„Vielleicht fangen wir nebenbei noch ein paar andere und können sie noch verkaufen." Odenser leerte seinen Becher und blickte sehnsüchtig hinein. „Etwas Gold verdienen."
„Wird die Bestie nicht genug Gold bringen?", bemerkte Tiborazo milde amüsiert.
Listana lachte. „Als ob ich einen solchen Drachen jemanden anders überlassen würde", schnaubte sie.
„Wenn das Biest so groß ist, wie es heißt, kann wahrscheinlich niemand Gewöhnliches ihn bändigen. Zumindest niemand ohne Erfahrung oder gar mit Skrupeln." Ghanteri winkte der Schankmaid und bestellte Wein.
„Ich weiß, worauf ich mich einlasse", behauptete Listana und strich über den Griff ihres Messers. Ihr Vater verzog besorgt das Gesicht, doch schwieg.
„Bringt das Geschäft mit Drachen viel Gold?", fragte Tiborazo interessiert. Nach allem, was passiert ist, kann ich ein wenig Gold gebrauchen. Vor allem einen Auftrag, bei dem ich mich nicht in die Politik einmische und mir noch mehr Feinde mache. Oder gar welche auf Whisper aufmerksam mache. So, wie es ihr jetzt geht, kann sie nicht einmal einen durchschnittlichen Soldaten aufhalten.
Odenser zuckte mit den Schultern. „Unterschiedlich. Sturmdrachen bringen mehr als Feuerdrachen, Feuerdrachen mehr als Königsdrachen, Königsdrachen mehr als Windläufer. Dann zählt noch, wie groß und in welchem Zustand sie sind, und ob wir sie ausbilden oder nicht. Es gibt Ausbilder, denen wir Dutzende Drachen auf einmal verkaufen, die sie ausbilden und für das Doppelte weiter verkaufen. Aber ein von uns ausgebildeter Königsdrache, jung und stark und gesund, kostet etwa vierzig Kreuzer."
„Teilt ihr das Gold unter euch auf?"
„Jeder, der hilft, bekommt einen Anteil. Nicht viel, vielleicht zwei Kreuzer, oder drei. Der Rest geht an die Anführer, die uns wiederum versorgen und für uns aufkommen, wenn einer von uns..." Odenser warf Ghanteri einen verlegenen Blick zu. „Du weißt, was ich meine. Warum?"
Tiborazo seufzte und trank einen Schluck. „Könnt ihr zwei zusätzliche Hände gebrauchen?"
Die Gryffs wechselten Blicke. „Du bist der Rattenfänger. Warum willst du stattdessen Drachen jagen?", ergriff Rith schließlich das Wort.
„Ich nehme Aufträge an, und im Moment verlangt niemand nach mir", log Tiborazo. Der halbe Adel der Unterwelt schreit nach mir. Aber ich halte mich fern von ihnen, selbst wenn ich das Gold brauche, nach allem, was die Heiler und die Alchemisten verlangt haben. Gerade jetzt, wo Whisper sich nicht gegen sie wehren könnte, will ich nicht zwischen den Fronten stehen und sie in die Fehden der ungekrönten Könige ziehen. „Ich kann etwas Gold vertragen. Immer nur in Tavernen spielen deckt gerade meine Ausgaben, aber ist nicht gerade etwas, womit man viel Geld verdienen könnte. Davon einmal abgesehen ist es auf Dauer langweilig, so gerne ich es tue."
„Du hast Odenser gehört. Es ist nicht viel, was für dich abfallen könnte", warnte Shinn.
„Und es ist kein Zeitvertreib. Es ist harte Arbeit, und jeder, der nicht genauso stark hilft wie alle anderen, ist nichts weiter als eine Behinderung." Ghanteri bedachte ihn mit einem harten Blick. „Drachen sind etwas anderes als Ratten, glaub mir."
„Ich glaube dir. Ich weiß, dass es gefährlich wird, und ich weiß auch, dass es nicht einfach sein wird, wenn auch nur ein einziges Wort über diese Bestie wahr ist. Aber wenn ich euch helfen kann, dann werde ich mein Bestes tun." Tiborazo hielt ihm stand.
„Kannst du mit anderen Waffen umgehen als Pistolen und Schwertern?", wollte Shinn wissen. „Gegen Drachen werden sie dir kaum etwas bringen."
„Ich war bei den Söldnern im Osten. Bei den Troubadouren. Mit Armbrüsten, Hellebarden und Messern kann ich genauso gut kämpfen wie mit Säbeln."
Der schwarze Gryff musterte ihn von oben bis unten. „Du bist angeheuert. Pro Drache, den wir verkaufen, bekommst du eineinhalb Kreuzer, bis auf das, was die Bestie uns bringen wird. Dieses Gold gehört allein Listana."
„Aber er ist keiner von uns", wandte seine Tochter ein. „Wenn die Anführer erfahren, dass wir uns Hilfe von außen geholt haben, werden sie meinen Fang nicht anerkennen."
Shinn schnaubte. „Er ist ein Rattenfänger. Den Anführern wird er kaum als bemerkenswert erscheinen, wenn er noch nie einen Drachenspeer in der Hand hatte. Außerdem wirst du die Bestie mitbringen. So, wie sich diese Geschichten ausbreiten, ist es, als würdest du Tarnovec selbst fangen."
Listana lächelte, doch schien nicht gänzlich überzeugt.
Shinn wandte sich wieder an den Sirea. „Einverstanden, Nastura?"
Tiborazo nickte. „Einverstanden." Er reichte Shinn die Hand, und der Gryff schüttelte sie.
„Bei Sonnenaufgang treffen wir uns vor der Taverne." Shinn erhob sich, die anderen Gryff taten es ihm nach. „Sieh zu, dass du ausgeruht bist. Es wird ein harter Ritt." Grüßend tippte er sich an die Stirn. „Nastura."
Tiborazo nickte den Gryff zu, die ihre Becher leerten, nach ihren Waffen griffen und die Taverne verließen. Rith lächelte ihm aufgeregt zu.
Ghanteri blieb ein wenig zurück. Umständlich schulterte er die schwere Armbrust und blickte ihm schließlich unverwandt in die Augen. „Es ist mehr als nur ein wenig seltsam, dass du gerade jetzt auftauchst, wo sich die Geschichten über die Bestie ausbreiten wie ein Buschfeuer", raunte er. „Scheint fast, als wolltest du sie töten und den ganzen Ruhm für dich gewinnen. Und all das Gold, das damit verbunden ist. Ich denke, du weißt von dem Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt ist."
„Aye, ich wusste davon. Das Gold ist auch ein Grund, warum ich hier bin und Drachen statt Ratten jage. Aber es ist nicht das Gold für den Kopf der Bestie", sagte Tiborazo ruhig.
„Warum bist du wirklich hier?", wollte Ghanteri wissen. „Warum suchst du hier nach Gold statt bei denen, die ihre Ratten loswerden wollen?"
„Die, die mich beauftragen, sind gefährlicher als Drachen. Und von ihnen will ich mich fernhalten. Vorerst." Die ungekrönten Könige, jene, die nach dem Rattenfänger verlangen, sind tatsächlich nicht zu unterschätzen. Weil sie schlauer sind als jeder noch so mächtige Berg aus Schuppen, Feuer und Flügeln, und ich werde sie meiden, bis die Wogen um Whisper sich wenigstens ein bisschen gelegt haben.
„Warum?", hakte der Gryff nach. Kerzenlicht warf hellen Schein und tiefe Schatten auf die zerklüfteten Narben auf seinem Gesicht.
„Das geht dich einen Scheiß an", knurrte Tiborazo kalt.
Ghanteri richtete sich auf. „Angst vor dem eigenen Geschäft. Einen schönen Helden hat Flaig gefunden. Jemanden, der Gold und Geschichten sucht." Ein herablassendes Lächeln zuckte über sein zerstörtes Gesicht. „Wenn du uns hintergehst, wenn du plötzlich feige wirst oder denkst, uns in einem entscheidenden Moment im Stich lassen zu können, werde ich dir beweisen, dass ein Drachenjäger alles zur Strecke bringen kann. Auch Sireas."
~ ~ ~
Im Nachhinein ist mir einiges aufgefallen. Wie vertrauensselig Tiborazo hier ist. Dass diese Geschichte erstaunlich wenig Handlung hat. Dass man Tiborazo einfach rausschneiden, einen der Gryffs erzählen lassen könnte, und sich mehr oder weniger nichts ändern würde. Und dass sie eigentlich nur für Worldbuilding geschrieben wurde.
Aber die Bestie und wie Listana ihr Manieren beibringt, wird wunderbar zu sehen sein.
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