𝕂𝕒𝕡𝕚𝕥𝕖𝕝 𝟙𝟝- 𝕃𝕪𝕣𝕒
Sechzig Sekunden.In sechzig Sekunden würde ein Gong ertönen, der uns von unseren Metallscheiben ließ.
Ich musste im entscheidenden Moment bereit sein.Ein,zwei Sekunden konnten mein Leben retten.Mitzuzählen wäre vermutlich keine schlechte Idee.
Fünfundfünfzig Sekunden. Danach könnte ich schon tot sein.
Fünfzig Sekunden. Die letzten Worte, die Madge zu mir gesagt hatte, hallten in meinen Ohren nach. »Lauf und versteck dich,ich werde dich finden.«
Fünfundvierzig Sekunden.
Vierzig Sekunden. Meine Metallscheibe befand sich in einer Art Zelle. Ich war von Stein umgeben, vor mir stand ein goldenes Gitter leicht offen. Der Boden war aus einem hellen ,sandfarbenen Material.
Fünfunddreißig Sekunden. Wenn ich mich bemühte,konnte ich das goldene Füllhorn hinter der Gittertür sehen.
Dreißig Sekunden. Wer befand sich in der Zelle neben mir? War es Madge?Rory?Gale?Wer von uns würde wohl zuerst sterben?
Fünfundzwanzig Sekunden. Ich knetete meine Hände. Es machte mich aufgeregt,dass ich die Arena nicht sehen konnte und bis jetzt in diesem kleinen Raum gefangen war.
Zwanzig Sekunden. Gleich würden wir alle aus unseren Zellen in die Mitte stürmen.Hoffentlich würde ich einen Ausgang finden.Hoffentlich würde Madge es schaffen.
Fünfzehn Sekunden. Bitte ,dachte ich. Falls es doch noch irgendeinen Gott gibt, hilf Madge und mir.Bitte.
Zehn Sekunden. Ich atmete tief durch.
Neun
Acht
Sieben Sekunden.Ich stellte mich breitbeinig hin,damit ich gut weglaufen konnte.
Sechs
Fünf
Vier
Drei
Zwei
Eins
»Fröhliche Hungerspiele!Und möge das Glück stets mit euch sein!«,verkündete Claudius Templesmith,der Moderator der Spiele,durch die Lautsprecher.
Der Gong ertönte. Ich sprintete los, stieß das Gitter schwungvoll zur Seite und blickte mich kurz um.
Die Karrieros rannten schon zum goldenen Füllhorn. Ich suchte panisch nach einem Ausweg aus der Arena in der Arena,aber wir alle schienen uns in einem großen,steinernen Saal zu befinden. Nirgendwo war eine Tür oder ein Fenster. Mein Herz raste wie verrückt,während das Adrenalin durch meine Adern floss.
Da!Eine Treppe führte die Mauer hinauf. Ich rannte wieder los, so schnell ich konnte.Drei Stufen auf einmal nehmend gelangte ich schließlich in einem von einer weiteren niedrigen Mauer umgebenen, nach oben hin offenen Gang und wagte einen kurzen Blick zurück.
Die ersten Schreie ertönten. Ein dunkelhaariger Tribut lag in einer Blutlache auf dem Boden. Ein blondes Mädchen humpelte mühsam davon.
Mir wurde speiübel. Und wo war überhaupt Madge? War sie der blonde Tribut, der mit dem Gesicht nach unten und einem Dolch im Rücken auf dem Boden lag?
Alles begann sich zu drehen.Ich stützte mich mit der Hand an einer rauen Zinne auf der kleinen Steinmauer ab. Irgendjemand rannte an mir vorbei.Oder waren es mehrere Menschen?Ich wusste es nicht.Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte ich noch immer auf das tote Mädchen.Ich konnte mich nicht lösen,ich war wie erstarrt.
»Da oben ist die Kleine aus zwölf.« Eine tiefe Stimme riss mich aus meiner Starre. Aurelian.Jetzt hörte ich auch den Klang vieler Schritte auf der Steintreppe.
»Holen wir sie uns.« Eine weitere Stimme antwortete der ersten.Entsetzt lief ich los, einfach den unbeleuchteten Gang entlang. Die Welt um ich herum verschwamm,der Wind trieb mir Tränen in die Augen, ich rannte immer schneller weg vor den Karrieros.
Irgendwann wurde ich schnaufend langsamer.Wie lange würde dieser Gang noch gehen? Jetzt erkannte ich erst, dass er eine Art riesigen Kreis bildete, aber viele Abzweigungen hatte. Über mir war nichts als die steinerne Decke. Normalerweise sollte alles stockdunkel sein,da es weder Fenster noch Lampen gab,aber irgendwo schien es doch eine Lichtquelle zu geben,denn ich konnte gerade so noch sehen,wo ich hinlief.
Dann nahm ich ein das Hallen von Schritten wahr. Sie waren immer noch hinter mir her.Und ich hatte keine Kraft mehr.
Ich zwang mich, weiterzulaufen,bis zur nächsten Abzweigung. Diese war eine Treppe, die nach unten führte. Ich raste nach unten,meine Beine schmerzten .Da entdeckte ich eine kleine Öffnung in einer Art Röhre.Rasch quetschte ich mich hindurch,ich war in einem weiteren Raum angelangt. Zum Glück war ich eher klein. Ein massiger Karriero wie Aurelian,der mir zusammen mit seinem Bruder folgte,würde mich hier drinnen vorerst wohl nicht erwischen.
Dunkelheit umgab mich.Die einzige Lichtquelle in diesem Raum war eine kleine flackernde Laterne, die vielleicht einem Quadratmeter um sich herum schummriges Licht spendete.Es roch muffig. Noch dazu nahm ich ein leises Plätschern wahr. In der Mitte der Röhre floss Wasser.
Auf mehr konnte ich mich jetzt nicht konzentrieren. Mir war schlecht vor lauter Anstrengung. Mühsam setzte ich mich hin und lehnte mich mit mit dem Rücken gegen die kalte, feuchte Steinwand. Ich nahm ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Schädel wahr.
Irgendwann verging die Übelkeit und ich konnte wieder normal atmen.
Ich ging zur Laterne,hob sie auf und betrachtete sie. Ohne dieses Licht konnte ich meine Hand vor Augen nicht sehen. Andererseits würden andere mich sehen können, wenn ich das einzige Licht weit und breit hatte.Wenn ich die Laterne jedoch zurückließ, würden die Karrieros sie bekommen,sollten sie es hier herein schaffen.
Meine Entscheidung musste schnell fallen.Ich konnte nicht ewig hier stehen bleiben und überlegen.
Wenn ich die Laterne zerstören würde, würde keiner sie bekommen.
Kurz entschlossen lief ich mit dem einzigen Licht los. Wenn ich etwas tiefer in dem Gebäude,in dem wir uns befanden, war, würde der Stein bestimmt das Klirren des Glases verschlucken. Nur ein paar Schritte noch. Ich musste auf Nummer sicher gehen.
Jetzt. So fest ich konnte,schleuderte ich die Laterne zu Boden.
Ein helles Klirren hallte durch den Gang und wurde wieder und wieder von den Wänden zurückgeworfen. Einen Moment lang stand ich nur da und starrte auf den Boden, dann fuhr ich herum und wollte loslaufen.
Hatte man das Klirren nur im Tunnel gehört, oder war es auch nach draußen gedrungen?
Dann sah ich, dass zwar die Laterne kaputt war, aber das anscheinend elektrische Teelicht leuchtete noch. Neben ihm lag eine riesige, spitze Glasscherbe.
»Eine Waffe kann nicht schaden«,dachte ich und hob die Scherbe auf. Dann stampfte ich fest auf das Licht.
Jetzt gab es keine einzige Lichtquelle mehr im ganzen Tunnel.
Ich legte meine Hand an die Wand und tastete mich vorsichtig vorwärts.Wie lange ich mich so vorwärts tastete, ohne auch nur irgendetwas erkennen zu können, die kühle Luft um mich herum, ein muffiger Geruch in der Nase, konnte ich nicht sagen.
Schnell kam ich jedenfalls nicht vorwärts,hin und wieder stolperte ich. Tasthaare wären ziemlich praktisch gewesen. Andererseits würden zum Beispiel Schnurrhaare bei einem Menschen sehr seltsam aussehen.
Aber was interessierte mich jetzt noch mein Aussehen? Hier ging es ums blanke Überleben.
Früher hatte mich die Vorstellung, dass ich überall in Panem im Fernsehen zu sehen sein würde, abgeschreckt. Vermutlich war ich schon mehrere Male zu sehen gewesen.Jetzt war es mir egal. Ich wollte nur leben.Und dass Madge überlebte.
Sollten wir jedoch sterben, hoffte ich, dass es ein schneller Tod sein würde. Vielleicht war Madges Idee mit der Schere doch nicht so schlecht gewesen.
Ich hatte jetzt auch eine Waffe.Ich könnte es doch jetzt schon hinter mich bringen.
Plötzlich verstand ich Madge sehr gut.
Dann fuhr ich mit den Fingern über mein Armband. Nein, das konnte ich meiner Familie nicht antun. Sie würden es mir nie verzeihen, wenn ich nicht wenigstens ums Überleben gekämpft hätte. Außerdem hatte ich mir geschworen, Madge zur Seite zu stehen.
Und das würde ich tun. Ich würde nicht kampflos aufgeben.
Meine Schritte wurden schneller, schwungvoller.
Irgendwann meinte ich,einen Lichtschein am Ende des Tunnels zu sehen.
Jetzt ließ ich ihn zu, den winzigen Hoffnungsfunken, den ich so oft begraben hatte und der doch in meinem Inneren zu glühen schien.
Ich hatte das Ende des Tunnels erreicht.
Er war am Ende geschlossen, nur weiter unten befand sich eine schmale Öffnung, durch die das Wasser floss und die kleines bisschen Licht durchschien.
Jetzt hatte ich die Wahl.Ich konnte entweder mit dem Wasser durch die Öffnung irgendwohin schwimmen, oder den ganzen Weg durch die Dunkelheit zurückgehen und wieder auf den Mauern herauskommen.
Bitte, dachte ich wieder. Gott, wenn es dich gibt, lass mich Madge finden. Bitte. Dann holte ich tief Luft, hielt mir die Nase zu und ließ mich ins Wasser gleiten.
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