4. Heimgesucht
Die Gestalt stolperte durch die Dunkelheit. Starker Regen erstickte jedes Geräusch. Eisiger Wind pflügte durch die flachen Ebenen, viel zu kalt für einen Drittfrühling.
Waren Arme und Beine auch taub, er konnte sie noch benutzen. Kämpfte sich durch dichte Waldstücke, jagte über Hügel. Fühlte überall Risse und Schmerz, trotz der Kälte, der Taubheit. Früher als gewohnt, verließ ihn alle Kraft.
Mit rasselndem Atem kam er zum stehen und starrte auf seine Hände, jene die so geübt waren, ihm Schreiben, handwerkliche Arbeit und Kampf möglich machten. Nichts davon schien ihm mehr möglich. Finger und Gelenke waren verkrampft und blutig, verrenkt wie Krähenfüße.
Egal. Sie mussten nicht schreiben. Er wollte nicht kämpfen. Sie mussten ihn nur fort bringen, einfach nur weg. So wie seine Beine, die schwer an ihm zogen wie Mühlenräder. Die wollten, was er wollte, aber nicht mehr konnten.
Er setzte sich auf einen Baumstamm und presste die Handballen gegen seine Schläfen.
Wovor floh er eigentlich?
Von hier aus sah er die Silhouette des Südwaldes am Horizont, verschleiert und grau. In den vergangenen Stunden musste er tausende Schritte gelaufen sein. Heute morgen noch sah er die Tannen, Eschen und Birken dieser grünen Grenze vor sich. Nun waren sie weit weg.
Das war gut.
Aber wo war er, bevor er den Wald noch vor sich hatte? Was war geschehen?
Er war kein junger Hüpfer mehr aber wenn es eines gab, auf das er sich verlassen konnte, war es sein Orientierungssinn. Ob tiefes Moor oder unendlich weite Ebene, sein Instinkt führt ihn schnell ans Ziel und wenn er einmal nicht wusste wohin, so erinnerte er sich doch an markante Orte und Kleinigkeiten, die ihm den Weg wiesen.
Und jetzt?
Keine Orientierung. Keine Erinnerung. Nichts.
Langsam entflocht er sein dunkles Haar, drückte Unmengen Wasser heraus, band es sorgfältig zusammen und atmete tief ein.
Dass ihn dieses Ritual beruhigte wusste er noch und er genoss die Sekunden, in denen er selbst von seinem Nichts im Schädel nichts mehr wusste.
Dann erbrach er sich auf das Gras zu seinen Füßen.
***
"Herr! Wacht auf. Ihr macht den Kindern Angst."
Grelles Licht nahm Reghas jede Sicht. Zitternd schützte er seine Augen und drückte sich hoch. Vor ihm hockte eine Gestalt, eine bauchige Öllampe in der Hand haltend. Strohduft umgab ihn und es war trocken.
Im Hintergrund drückten sich drei Kinder aneinander. Reghas blinzelte ein paar Mal, bis er schärfer sehen konnte. Ihre Augen waren aufgerissen. Neben ihnen quietschte ein Scheunentor im Wind, dahinter die schwarze Nacht.
Der Bauer wich etwas zurück und senkte die Lampe. Seien Augen waren verquollen, seine Haut schimmerte fahl. Alt konnte er nicht sein. Zauselige Barthaare versteckten einen Teil seines gedrungenen Gesichts.
"Tut mir leid, Herr."
Sachte berührte er Reghas Schulter, wie als um zu spüren, dass er menschlich war.
"Was ist mit dem Mann?", fragte eines der Kinder, ein aufgeweckter Junge mit einem angespitzten Stab in seiner rechten Hand.
"Er hatte Alpträume, Jon. Sicher von der Erschöpfung und den Strapazen der Reise."
Er beugte sich ein Stück vor und flüsterte: "Ich heiße Asga."
Er holte ein Stück Käse aus seiner Tasche und reichte es Reghas.
"Was euch passiert ist, weiß ich nicht. Ich denke, dass euch niemand gefolgt ist aber nachts sucht euch wahrhaft Böses heim, woher auch immer."
"Was habe ich geträumt, Asga?" Reghas drückte sich weiter hoch. Plötzlich einsetzender Schwindel ließ ihn zurück auf sein weiches Bett sinken. Der helle Überwurf, den der Bauer ihm geliehen haben musste, war dunkel vom Schweiß.
Asga musste ihn erkannt haben. Warum sonst bot er ihm einen Platz für die Nacht an? Keine Selbstverständlichkeit in der Grenzregion, wo Misstrauen und Vorsicht tägliche Begleiter waren. Reghas betrachtete den dicken Ring an seiner linken Hand. Das Symbol darauf kam ihm bekannt vor.
Plötzlich zuckte er zusammen. Das kleine Mädchen spazierte auf seine Kleidung zu, die ausgebreitet auf Steinen lag.
"Papa. Da funkelt was!"
Ehe Asga einen Ton von sich geben konnte, vibrierte etwas in Reghas Kopf, donnerte wie eine Kompanie mißgestimmter Instrumente hin und her und presste die Luft aus seinen Lungen.
"Nein! Nicht!" Mehr brachte Reghas nicht heraus.
"Geh da weg, Malya. Sofort. Deine Neugier macht mich noch irre."
Malya zog sich schmollend zurück. "Dann eben nicht."
"Kommt ihr drei," tönte es aus der Dunkelheit. Asgas Frau erschien humpelnd und stützte sich am Torrand ab. "Ich erzähle euch eine schöne Geschichte, damit ihr einschlafen könnt."
Sie mied Reghas Blick und schleifte die Kinder mit sich. Bevor sie aus dem Lichtkreis verschwand, zischte sie "Denk an die Tiere!" und verschwand.
"Danke," stammelte Reghas und spürte, wie sich sein Herzschlag beruhigte.
"Neugier ist ein Geschenk, Asga. Nehmt sie ihr nicht."
Der Bauer sah Reghas verblüfft an: "Ihr habt sie weggescheucht, Herr. Nicht ich."
Reghas nickte müde.
"Warum hilfst Du mir?"
Einige Sekunden schwieg Asga und sah Reghas an, als suche er etwas. "Keine Wunden am Kopf. Wenn nur ein Wundheiler hier wäre."
"Wer bin ich? Sag es mir."
Der Bauer deutete auf den zerbeulten Ring an Reghas Finger. "Ihr seid ein Gesandter des Hochfürsten, aber irgendetwas hat euch das vergessen lassen."
Er erneuerte den Schlafplatz und vermied es, in die Nähe von Reghas Kleidung zu kommen. Als ob er die Blicke seines Gastes im Nacken spürte, drehte er sich um: "Niemand wird eure Sachen durchsuchen. Wir sind ehrliche Leute."
Als ob mich das beruhigen könnte.
Je näher sich Asga seinem Hab und Gut nähert, desto enger zog sich sein Hals zusammen. Etwas drückte auf seine Schläfen.
„Ich lasse die Lampe hier, Herr“, murmelte der Bauer und blickte nach draußen. „Morgen früh müsst ihr gehen. Seid ihr hier, sind die Tiere unruhig und schlafen nicht. Der Winter wird hart, da kann ich mir totes Vieh nicht leisten.“
Er sah Reghas an, als erwarte er Entrüstung oder Schlimmeres.
Der Gesandte hatte die letzten Worte nicht mehr wahrgenommen, starrte in den Schein der Flamme. Es war das erste Mal, dass er sich vor dem einschlafen ängstigte.
Dann kam das flüstern.
***
Der Rest der Nacht war die Hölle. Irgendjemand flüsterte, mal von links, mal von rechts. Gern auch unter ihm, was absurd war. Reghas ertappte sich dabei, auch zu sprechen. Wohl eher, um sich abzulenken, aber egal was er versuchte, die hohlen Stimmen blieben.
Bis Sonnenaufgang entstand traumhafte Stille in seinem Kopf. Wo die Stimmen waren, hatte sich bohrender Schmerz eingenistet, ebenso penetrant betäubend. Immer noch besser so, als die Spinnereien im Schädel.
Reghas kleidete sich an und brauchte länger als sonst. Achtlos warf er den geliehenen Überwurf zu Boden, quälte sich in seine knittrige, dunkelblaue Wanderkluft und schulterte seinen Rucksack.
Er war nicht allein.
Zwei große Schritte rückwärts ließen ihn die Wand im Rücken spüren. Hier war er sicher. Solange er auch wartete, nichts geschah.
Ich muss hier weg.
Reghas stolperte zum Tor. Der Regen hatte nachgelassen, flache Pfützen bedeckten große Flächen zu allen Seiten.
Asga und seine Familie sah er nicht. Das Vieh auf der angrenzenden Weide war gut genährt, einige Tiere stapften durch den Matsch, anderen rieben sich am Zaun oder suchten Streit.
„Was geschieht hier, verdammt?“
So schnell er konnte, lief er davon, hielt das Tempo aber nicht lange durch.
Mit bleischweren Augen erklomm er einen flachen Hügel. Die Sonne bezwang die graue Wolkendecke und ließ die Schatten schwinden.
Auf all seinen Reisen waren ihm diese Momente die liebsten, jetzt aber konnte ihn selbst das nicht aufmuntern. Den Blick auf seine Füße gerichtet hielt er sich an Bäumen fest, die entlang der ausgetretenen Pfade wuchsen. Er schaffte den Anstieg bis zur Hälfe, dann drehte sich alles.
***
„…auf!“
Reghas spürte den feuchten Waldboden unter sich. Er presste seine Hände in den Boden, aber der Schwindel blieb.
„Steh auf!“, dröhnte es von irgendwoher.
Von der Anhöhe hinab näherten sich drei Gestalten. Sie pfiffen vor sich hin. Stimmen hört er keine.
„Ich glaube, ich drehe durch“, murmelte Reghas und biss sich in den Handrücken. Er musste wachsam sein und zog sich an einem Ast hoch. Wackelig stand er auf und sah sich um. In unmittelbarer Nähe war niemand zu sehen.
Immer schneller näherten sich die Fremden. In ihren Händen hielten sie Stöcke, trugen dunkle Kleidung.
Sie kamen noch näher.
Jeden Schritt nahm das Chaos in seinem Kopf zu, blinzelnd und hilflos harrte er aus, bis sie direkt vor ihm standen. Sie stanken nach Schweiß und Blut.
„Du hast aber mächtig die Hosen voll, Mann. Sind wir so furchteinflößend, dass Du dich festhalten musst?“
Das Gelächter ertrug er kaum. Einer der drei hievte seinen dicken Körper bis auf eine Armlänge an ihn heran und schlug wuchtig auf seine Brust.
„Heilige Scheiße. Sammelst Du Steine, Alter? Zeig mal.“
„Nicht! Tut das nicht.“
Wenn sie seine Warnung gehört hatten, war sie ihnen egal. Riesige Finger zerrten am Stoff seiner Weste, zitterten kurz und zuckten zurück, als hätten sie in einem Kohlebecken gesteckt.
„Nicht. Geht!“
Sein Blick wurde klarer. Gesichter schälten sich aus der grauen Suppe, die seine Wahrnehmung fabriziert hatte und offenbarte erstarrte Gestalten, die Augen weit aufgerissen.
Ihr Anführer, ein schmallippiger Bursche von kaum zwanzig Jahren wich zurück, unfähig ein Wort zu sagen. Er riss die Hände hoch und presste sie auf seine Ohren. Grotesk langsam fing er an zu schreien, immer lauter.
Reghas spürte, wie seine Kraft zurückkehrte und baute sich vor den drei Männern auf.
„Geht endlich. Ihr wollt nichts mit mir zu schaffen haben.“
Der Dicke musterte Reghas aufmerksam. Das Geschrei seines Gefährten versuchte er zu ignorieren, wandte sich dann aber um: „Komm Flinn, packen wir ihn. Wir sollten gehen. Komischer Kerl.“
Gemeinsam schleiften sie ihn davon so schnell sie konnten. Selbst als sie die Anhöhe erreicht hatten blieb das Schreien. Erst nach und nach verblasste der gellende Ton.
Reghas genoss die Zeit bis das Rauschen des Windes die Stimme des Fremden übertönte. Als hätte er es geahnt, kehrte das dumpfe Gefühl zurück.
Irgendetwas aber war anders.
Instinktiv griff Reghas in seine Westentasche, in der der Stein verstaut war. Etwas hielt ihn davon ab, seine Oberfläche zu berühren.
[Wo sind wir?]
Reghas zuckte zusammen und wollte sich umdrehen, aber er wusste, dass niemand außer ihm hier war.
***
„Warum sprichst Du nicht mit mir?“
Diesen Satz sagte Reghas vor sich hin, als er in die gleiche Richtung ging wie die Vertriebenen von vorhin. Sie blieben verschwunden.
„Sag etwas!“
Schritt um Schritt näherte er sich einem Bergmassiv, eine graue Macht, stumm und wolkenverhangen.
„Die Grenze. Das muss sie sein. Hörst Du?“
Erinnerungen kehrten zurück und Bilder, die fremd waren.
Das Hügelland flachte ab und wich einer ausdehnten Waldfläche, die Schutz versprach. In Höhlen und Senken versuchte er zu schlafen.
Jedes Mal kehrten die Bilder zurück. Schreie dröhnten, Körper fielen ineinander, Gliedmaßen überall, Trommeln und Tod. Es war furchtbar. Er sah verzerrte Gesichter, Umarmungen, junge Menschen, mal glücklich, mal entsetzt.
Immer wenn er aufwachte war er müder als zuvor. Je erschöpfter er war, desto mehr schwanden die Bilder.
Irgendwann träumte er und traf einen mit Wunden übersähten Mann. Schwer atmend stand dieser gekrümmt auf einem Schlachtfeld, rings um ihn die Leiber grausam zugerichteter Soldaten. Die Hälfte seines langen Haares fehlte, abgetrennt durch einen Hieb, der seiner Schulter galt. Blut sickerte unentwegt zu Boden, aber soviel er auch verlor, er blieb stehen. Langsam versank er im Matsch des blutroten Untergrundes.
Die Gestalt sprach zu ihm, ohne die Lippen zu bewegen. Seine Worte waren unkenntlich und dumpf, mal ein blubbern, mal ein heiseres Flüstern.
Dieser Traum kehrte wieder, bis die Traumgestalt im Traum der nächsten Nacht verschwand. Er starb nicht durch den Blutverlust. Leiber zu seinen Füßen regten sich und griffen nach ihm, zogen ihn in die Nässe, erhoben sich, traten auf ihn ein bis er sich nicht mehr rührte.
Schweißgebadet wachte Reghas auf. Die Dunkelheit über ihm ließ ihn tief durchatmen. Niemand außer ihm befand sich in der kleinen Höhle, niemand überfiel ihn. Er schmeckte Metall und starrte auf seinen Arm. Er hatte sich selbst blutig gebissen.
Er taste nach seiner Wasserflasche, setzte an und leerte sie in einem Zug. Die Schärfe des Alkohols verdrängte den Schmerz einige Momente.
Er fror leicht und zog die Decke ein Stück höher. Als er die Augen schloss, spürte er die unheimliche Nähe von etwas.
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