Jack
Im Halbdunkel des nächsten Morgens wachte Kira auf. Müde blinzelte sie. Das Flackern des Lagerfeuers hielt sie einen Augenblick gefangen. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um.
Mutter und Vater verstauten Essensrationen in ihrem Rucksack und unterhielten sich leise. Marko lag zusammengerollt auf seinem Bett. Von Vier war nichts zu sehen.
Später, Kira kaute nervös auf einer warmen Scheibe Nussbrot herum, klopfte jemand gegen die Eingangstür. Es war der Detektor. In seiner Hand hielt er einen Bund Kräuter, aus einem Tuch über seiner Schulter lugte ein Pilz hervor. "Guten Morgen Kira. Bist Du soweit?" Unwohlsein machte sich in ihr breit. Ob es richtig war, zu gehen?
"Ich ... denke ... schon."
"Das ist gut. Wir haben eine lange Reise vor uns und ich möchte ungern länger als nötig unterwegs sein."
"Ist gut. Mama, gibst Du mir den Rucksack?"
Mit Tränen in den Augen half ihre Mutter ihr, das schwere Gepäck zu Schultern. "Pass auf Dich auf mein Kind. Und melde Dich, wenn Du kannst. Wir werden Dich vermissen." Beide umarmten sich kurz, anschließend fiel Kira ihrem Vater um den Hals. Zuletzt weckte sie Marko. Er schien geträumt zu haben, er erkannte sie nicht gleich. "Wir brechen jetzt auf, kleiner Krieger. Ich werde euch schreiben, sobald ich gelernt habe, wie das geht."
Sie warf Vier einen fragenden Blick zu. Dieser nickte kurz. "Luna wird bei mir sicher sein und gut auf mich aufpassen."
"Ich weiß." Marko fiel ihr um den Hals und wollte nicht mehr loslassen. Kira hörte ihn leise schluchzen.
Kurz darauf marschierten sie und ihr Begleiter am Ufer des Schlangenflusses westwärts. Der Wind des Vorabends hatte sich gelegt und es war insgesamt freundlicher als die Wochen zuvor. Hin und wieder trauten sich neugierige Fische an die Oberfläche des Wassers, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. In den ersten Stunden legten sie kaum Pausen ein. Gegen Mittag machten sie an einer umgestürzten Eiche halt und aßen.
Vier reichte ihr ein paar Beeren, die er gesammelt hatte: "Wenn wir gut vorankommen, sollten wir die Stadt gegen Ende des zweiten Tages erreichen." Behutsam nahm er einen Kessel mit heißem Wasser vom Feuer und schenkte ihr duftenden Tee in eine seiner hölzernen Tassen. "Ich weiß".
"Oh. Du warst dort? Aber nicht im letzten Jahr. Soweit ich mich erinnere." Er zwinkerte ihr kurz zu und trank einen Schluck.
Gruselig, was er alles wusste. "Letzten Sommer haben wir dort eingekauft und ich durfte ausnahmsweise mit. Meist haben mir meine Eltern das verboten. Warum kannst Du dir denken."
Nach einer kurzen Pause entgegnete Vier: "Das tue ich. Wie geht es Dir?"
Kira zögerte: "Gut. Irgendwie." Sie sah auf den Fluss. Ein langes, mit Säcken beladenes Boot fuhr an ihnen vorbei stromabwärts. Sie erkannte die Gestalt darauf und winkte ihr zu. Es war Fohre, der einen Teil des geernteten Getreides in die Stadt brachte und freundlich zurückgrüßte.
"Wie machst Du das?"
Vier zog die Augenbrauen hoch. "Was meinst Du?"
"Du weißt immer wo ich bin! Wie hast Du mich gefunden? Meine Eltern geben sich viel Mühe, damit nur wenige Menschen von meinen... Fähigkeiten... wissen." Entschuldigend fügte sie hinzu: "Bin nur neugierig."
Vier sagte zunächst nichts und holte einen Gegenstand aus seinem Rucksack. Es war der Stein, den Kira schon bei ihm bemerkt hatte. Achteckig und schwarz glänzend füllte er die Hand des Detektors aus. Vorsichtig hob er seinen Arm, bis ihr Gesicht zwanzig Zentimeter entfernt war. Irgendetwas im Inneren des dunklen Gebildes pulsierte. Ihr stockte der Atem.
"Damit habe ich Dich gefunden."
"Mit einem Stein? Das soll ein Scherz sein?" Sie rückte etwas näher.
"Nein. Kein Scherz. Man nennt sie Spürsteine. Jeder Detektor besitzt einen. Er und ich sind verbunden. Das Ganze funktioniert nur, wenn ich als sein Besitzer ihn berühre."
Kiras Finger waren dem Stein ganz nah. Sie fürchtete sich.
"Darf ich?" Ihre Hände zitterten leicht.
"Natürlich. Es kann nichts passieren." Die Oberfläche war kühl und glatt. Keine Kerbe war zu sehen. Das tiefe schwarz verschluckte jeden Lichtstrahl.
"Diese Steine werden gefertigt, um den Ort und die Stärke besonderer Kraftfelder aufzuspüren. Und du bist ein ziemliches auffälliges und bewegliches Exemplar. Zumindest für den Stein." Vier lächelte.
"Du fühlst wo ich bin?"
"So kann man das nennen. Es ist schwer zu erklären und ich verstehe auch kaum, wie es funktioniert."
"Wie fühle ich mich an?"
Überrascht hielt der Detektor kurz inne.
"Das ist eine komplizierte Frage, Kira." Er machte sich daran, alles ordentlich zu verstauen.
"Stell Dir vor, Du stehst am Rande einer Schlucht, verfolgt von Glutwölfen aus dem Feuerwald. Nur ein dünnes Seil trennt Dich von der rettenden anderen Seite und Du musst entscheiden, was zu tun ist. So fühlst Du dich für mich an, wenn ich mich auf den Stein konzentriere."
"Dich haben Glutwölfe gejagt? Ich dachte, die gibt es nur in Geschichten."
"Das haben sie und ich kann von Glück sagen, dass ich in einem Stück hier sitze."
"Wahnsinn. Und beunruhigend, dass ich mich so anfühle. Übersehen kannst Du mich wohl kaum." Sie lächelte. Immerhin konnte sie dann nicht so einfach verloren gehen.
"Tut mir leid. Das mit dem Feuer. Ich hatte Angst und war nicht sicher, wer Du warst. Wollte Dich nur aufhalten." Sie deutete auf die versengten Stellen seiner Kleidung. Vier bemerkte ihre Unsicherheit.
"Das ist in Ordnung. Ich wusste, wen ich suche und habe vorgesorgt, um nicht zu Asche zu zerfallen."
Nachdem er die Kochutensilien im Fluss gesäubert und verstaut hatte, zog er ein kleines Fläschchen aus einem Beutel am Gürtel. "Deine Mutter sagte mir, Du würdest das kennen." Er zog den Korken ab und gab einen Tropfen der zähen Flüssigkeit auf seinen Handrücken. Kira verrieb einen Teil zwischen ihren Fingern. "Das ist Plumpschneckenschleim! Du kennst das? Er hilft mir, mich nicht zu verbrennen, wenn ich versehentlich Dinge entzünde. Woher hast Du den?"
"Vom Markt in Arwan. Aber von dort hast Du ihn vermutlich nicht." Er lächelte milde. "Wir müssen weiter."
Der Rest des Tages und auch die erste Hälfte des nächsten vergingen. Kira und Vier sprachen wenig. Ab und an begegneten ihnen Händler, die auf dem Weg in die Stadt waren oder von dort kamen. Der Detektor kannte einige von ihnen schon länger, denn er grüßte sie mit Namen und Handschlag.
Am späten Nachmittag, Kiras Beine schmerzten noch mehr als gestern, wurden die Waldgebiete dünner und wichen flachem Ackerland. Immer öften kamen sie an kleinen Bauernhöfen vorbei auf denen geschäftiges Treiben herrschte. Die Sonne schien und die Silhouette von Arwan zeichnete sich vor dem Horizont ab.
"Bevor wir die Stadt betreten, werden wir noch jemandem einen Besuch abstatten. Sein Name ist Jack und auch er bekam vor längerer Zeit eine Einladung der Fürstin. Ich sollte ihm noch Zeit zu geben, weil er sich nicht entscheiden konnte. Da die Geduld der Fürstin gelitten hat seit ich ihn das letzte mal sah, werden wir ihn besuchen.
Ich warne Dich. Er mag Besuch nicht und es kann sein, dass er versucht uns zu verscheuchen. Einmal hat das bereits geklappt."
Vier grinste leicht. "Also: lass Dich überraschen und sei wachsam."
Sie näherten sich einem umzäunten Gehöft mit riesigen Ländereien im Hintergrund. Ein großes Steinhaus mit angegliedertem Schuppen ragte in den Spätsommerhimmel.
Das Gebäude wirkte auf Kira ungepflegt. Die Art Sorgfalt die ihre Eltern Tag für Tag aufwandten um alles ordentlich und in Schuß zu halten suchte man hier vergeblich. Die Außenwand war verschmiert, vor und neben den Seitenwänden rosteten Werkzeuge vor sich hin. Ein zerstörter Pferdewagen lehnte schief am Tor des Schuppens.
"Warte hier." Vier ging langsam auf das wuchtige Holztor zu, über das man auf das Gelände gelangte. Sekunden lang verharrte er dort.
"Jack? Bist Du da? Hier ist Detektor vier. Du erinnerst Dich?"
Nichts regte sich. Aus den Augenwinkeln sah Kira, dass sich hinter einem großen Heuballen etwas bewegte. Ehe sie einen Ton herausbrachte, kroch etwas rauhes ihre Füße hoch. Sie blickte nach unten und erschrak. Der Rasen auf dem sie stand wuchs unfassbar schnell und wickelte sich wie von Geisterhand um ihren Knöchel.
"Hilfe! Vier!" Sie riss verzweifelt an den Halmen nur um festzustellen, dass diese unbeirrt weiterwucherten, egal wieviele sie entfernte. Ihren Fuß konnte sie kaum noch rühren.
"Jack Ingrain! Behandelt man so seine Gäste?" Ihr Begleiter wirkte erstaunlich ruhig. Sekunden lang rührte sich nichts. Dann ertönte eine dumpfe Stimme: "Wer ist sie? Ich kenne sie nicht."
"Das ist Kira. Die Fürstin hat sie ebenfalls eingeladen. Es wäre höflich, wenn Du sie loslassen könntest. Immerhin werdet ihr in Zukunft Zeit zusammen verbringen." Vier drückte das Tor auf und hielt inne, als ein rothaariger Kopf um die Ecke des Strohballens linste. "Ich kann ihr trauen?"
"Ja, kannst Du. Ihr habt vieles gemeinsam, glaub mir."
Kira merkte, dass sie ihre Beine bewegen konnte. Hastig trat sie einige Schritte zurück. Jack kam aus seinem Versteck hervor und blieb stehen, einen Grasbüschel in der Hand haltend. Er trug lederne Stiefel und robuste Arbeitskleidung, als sei er gerade von der Feldarbeit gekommen. Er kratzte seine runde Nase, spuckte aus und kam ihnen entgegen. Vieles gemeinsam? Von wegen! Kira setzte sich in Bewegung.
"Mein Vater ist wieder mal nicht hier", entgegnete Jack und reichte zunächst Vier die Hand. Dann war Kira an der Reihe.
"Hallo. Ich bin Jack. Das mit dem Gras tut mir leid. Hier kommen viele Fremde vorbei, die etwas von mir und meinem Vater wollen. Deshalb bin ich misstrauisch."
"Ist schon gut." Kira reichte ihm die Hand. Seine fühlte sich warm an. Sie bemerkte neben seinem Lächeln, dass er eine tiefe Narbe auf seiner Stirn trug: "Das war beeindruckend, Jack."
"Danke. Was kannst Du?"
Kira fühlt sich überrumpelt: "Ich... mache... Feuer." Mist. Warum fiel ihr nichts besseres ein? Jack nickte, sagte aber nichts.
Vier blickte suchend in Richtung Haupthaus. "Dein Vater ist nicht da?" Jacks Stimmung veränderte sich schlagartig. "Er ist in der Stadt. Wie immer. Seit drei Tagen. Keine Ahnung wann er zurückkommt. Das letzte Mal blieb er eine Woche weg. Zum Glück war alles abgeerntet. Er ist dagegen, dass ich mitkomme, weil sich dann niemand mehr um irgendetwas kümmert. Das ist mir aber ziemlich egal." Jack ballte seine Fäuste. "Ich gehe rein und packe zusammen." Leicht humpelnd ging er ins Haus.
Kira sah ihm nach. "Er und sein Vater vertragen sich nicht." Vier nickte und setzte sich auf den Heuballen. "Jacks Mutter ist früh gestorben. Sein Vater hat ihren Tod nicht verkraftet und betrinkt sich. Jack lässt er allein hier zurück."
"Das ist furchtbar. Wie kann man so sein?"
"Jacks Vater wäre ohne seine Hilfe niemals so erfolgreich geworden. Macht er so weiter, riskiert er alles zu verlieren. Ich hoffe nicht, dass das passiert. Er ist ein anständiger Mann."
Beide warteten auf Jacks Rückkehr.
Minuten später erschien er mit einem umgeschnallten Rucksack. Eine dunkle Mütze verbarg seine lockigen Haare. Sorgfältig schloss er die Tür und gesellte sich zu ihnen. Ein schwerer Gurt mit Lederbeuteln hing schief an seiner Hüfte. "Wir können los."
"Ich werde Deinem Vater ausrichten lassen, wo Du bist. Die Fürstin kann ihm vielleicht jemanden zur Seite stellen, der ihm bei der Arbeit hilft." Jack schnaufte: "So jemanden hätte ich auch gebraucht."
Vier sagte nichts dazu und alle machten sich auf den Weg. Jack musste ab und an das Tempo verlangsamen. Aufgrund seiner Größe war er schneller als seine Mitreisenden. Gegen frühen Abend erreichten sie die Tore von Arwan.
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