Elis' Spiel
Wirkte die Wachbarracke von außen schon nicht sehr einladend, so offenbarte erst der Innenraum wie heruntergekommen das Gebäude war.
Von einem großen Versammlungsraum aus, den ein beißender Ölgeruch durchzog gelangte man in die Schlafnischen, kleine feuchte und enge Räume, die von einem schmalen Flur aus zugängig waren. Im dahinter liegenden Bereich waren verschmutzte Ausrüstungsgegenstände in Regalen aufgetürmt, befanden sich Waschgelegenheiten, die einem vieles brachten aber keine Sauberkeit. Die schwere Dachkonstruktion wurde von massiven, aber rissigen Stützbalken in Schach gehalten. Die besten Zeiten dieses Gebäudes gehörten zu einer längst vergangenen Zeit.
Ferans Männer hatten Elis an einen der besser erhaltenen Balken derart gefesselt, dass sie sich kaum rühren konnte.
Als Feran, Tamm und Ingwer eintraten richteten sich sechs Augenpaare auf sie. Den anwesenden Männern war die Erschöpfung anzusehen. Sie hatten offensichtlich Hunger und waren dabei die Vorräte zu plündern. Kauend sprach einer der älteren, den ein beeindruckender Bart zierte, Feran an: "Da bist Du ja, Mann. Wo warst Du und wer ist das?" Er musterte Ingwer oberflächlich. Sein dickes, dunkles Haar lag zu einem Zopf geflochten auf seiner Schulter. Um seine Hände hatte er dicke Lederriemen gebunden, vermutlich, um sich nicht zu verletzen.
Als Elis die Neuankömmlinge wahrnahm und Ingwer einen kurzen Blick zuwarf, erschrak die Sucherin zutiefst. Aus den dunklen Augenhöhlen ihrer 'Lehrerin' quoll unverhohlener Hass. Ihre blutigen Lippen waren aufgeplatzt und nur noch ein schmaler Strich. Die Kleidung war an einigen Stellen zerrissen, Schrammen und Striemen überzogen Gesicht, Arme und Hände. Sie musste sich mit aller Kraft gewehrt haben. Alles freundliche und zuvorkommende, dass Ingwer trotz der Gefangenschaft geschätzt hatte, war wie ausradiert.
Feran sah Elis mitleidig an und schmunzelte: "Spar Dir deine Kraft für den Rückweg Jorund. Der wird noch lang genug."
Ehe er fortfahren konnte, platzte es aus der Sucherin heraus: "Ich heiße Ingwer. Diese Frau hat mich und meine Freunde gefangen gehalten und euren Leuten Furchtbares angetan."
Elis spuckte ihr direkt vor die Füße und fauchte: "Undankbares Miststück."
"So. Hat sie das?" Der Bärtige ging auf die blaue Frau zu und verschränkte die Arme. "Wird sie uns freiwillig davon erzählen, Mädchen?"
Ingwer zuckte kurz zusammen. Als ob sie noch ein Mädchen wäre? Egal. Er kannte sie ja nicht. Würde sie reden? Vermutlich nicht. Es schien, als wären alle Masken von Elis' Gesicht gefallen. Kaum vorstellbar, dass sie in diesem Zustand gesprächig sein könnte.
"Für diese Dummheit werden ihr und eurer Abschaum einen hohen Preis zahlen." Sie starrte Ingwer an. Ohne ein Wort zu sagen bewegte sie ihre Lippen, aber die Sucherin erkannte sofort, was sie sagen wollte: 'Du weißt es genau'.
"Pass ja auf, dass wir nicht deinen hässlichen Schädel an die Glutwölfe verfüttern," drohte ein eher schmächtiger junger Mann, der sehr mitgenommen aussah.
"Beruhigt euch. Hier wird niemand verfüttert. Wir sind ja keine Ungeheuer, oder etwa doch?" Feran übergab Tamm seine Waffe und lehnte sich entspannt in einem der zahlreichen Stühle zurück.
"Dein Name ist Elis, richtig?"
Die Angesprochene gab keinen Laut von sich. Ingwer drückte ihren Rücken an eine der Wände und wartete ab.
"Nun, Elis, ihr ahnt sicher, warum wir hier sind. Bisher wissen wir von mehreren Menschen, die ihr für eure obskuren Zwecke umgebracht habt." Er wartete kurz, ehe er fortfuhr. Die blaue Frau schwieg. "Dass es für euch von Vorteil ist, zu sprechen, dürfte klar sein."
"Für euch und meinen Frieden wäre es von Vorteil, wenn ihr die Klappe haltet. Schert euch fort solange ihr noch könnt."
"Wir bleiben und genießen eure Gastfreundschaft gerne, Elis." Feran holte ein kleines Fläschchen aus seiner Gürteltasche, entkorkte es und nahm einen tiefen Schluck. Der Duft von Beeren verteilte sich überall im Raum.
"Wo bringt ihr die Toten hin?" Er deutete auf die junge Sucherin: "Ingwer kennt ihr gut. Wenn es stimmt, was sie sagt, müsste es einige geben, die für eure obskuren Zwecke gestorben sind. Wo sind sie?"
"Obskure Zwecke? Eure Leute haben dazu beigetragen, dass dieses Land sicherer ist als es noch vor einigen Dekaden war."
Feran starrte sie ungläubig an und ballte die Fäuste. Er hatte sichtlich Mühe ruhig zu bleiben. "Das interessiert mich nicht. Es interessiert mich auch nicht, ob der Hochfürst sie eigenhändig ausgesucht hat oder nicht. Wir möchten sie zurück zu ihren Familien bringen, damit diese sich verabschieden können. Ob euer Tun sinnvoll ist oder nicht, ist mir egal."
"Ich werdet von mir nicht erfahren wo sie sind."
"Ist das euer letztes Wort?"
"Vielleicht. Solange ihr mich nichts mehr fragt." Elis grinste leicht. Ihre Überheblichkeit überraschte Ingwer, ließ Feran und die anderen aber nicht kalt. Den ungeduldigen Bewegungen nach zu urteilen würde etwa die Hälfte der Anwesenden ihr zu gerne eine Tracht Prügel verpassen.
"Ihr müsst meine Freunde und die Wandler freilassen." Ingwer ging einen Schritt auf Elis zu und verschränkte die Arme.
"Warum sollte ich das tun? Du hast ja keine Vorstellung davon was es bedeutet, heimatlose und undisziplinierte Wandler unbeaufsichtigt durch die Lande streifen zu lassen."
"Vielleicht habe ich das ja doch. Ich bin keineswegs so blauäugig, wir ihr denkt. Sie sind nicht heimatloser als ich. Sie brauchen Chancen und ein normales Leben. Was euch ängstigt weiß ich nicht, aber sicher ist, dass sie sterben werden, wenn sie länger unterhalb der Kuppel wohnen."
"Das würden sie. Ohne Zweifel." Elis versuchte sich etwas aufzurichten. Dies gelang ihr kaum, denn ihre Beine waren an mehreren Stellen fest am Stützbalken verknotet. Bewegen konnte sie sich fast gar nicht.
"Um die Kuppelwand zu öffnen benötigt ihr einen Ring, den ich natürlich nicht bei mir trage."
"Das tut sie in der Tat nicht," frotzelte einer der Anwesenden. "Wir haben sie gründlich durchsucht."
"Verdammter Verräterbastard," giftete Elis ihn an. "Nur ich weiß, wo sich dieser Ring befindet. Ihr würdet Jahre vergeblich danach suchen."
Feran leerte die Flasche in einem Zug, fuhr mit dem Ärmel über seinen Mund und stand auf: "Rück schon raus damit. Was willst Du?"
"Ihr werdet mich gehen lassen. Als Dank dafür werde ich einen Boten schicken, der das Versteck kennt und euch sagen wird, wo es ist. Nach zwei, vielleicht drei Tagen sollte er hier ankommen. Sofern ihm nichts zustößt."
Ingwers Herz schlug bis zum Hals. Was wäre, wenn Feran und seine Leute beschlössen zu gehen und Kira, sie und die Wandler zurück ließen? Die toten Kameraden würden sie irgendwann finden und mitnehmen und hätten ihr Ziel erreicht.
Die Sucherin nahm ihren Mut zusammen und ging in die Offensive: "Wie sollen wir Dir trauen?"
"Ihr habt keine Wahl. Behaltet mich hier und sie werden alle sterben und ihre Schreie werden euch euer Leben lang begleiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr das wollt."
Feran sah Ingwer an, ging dann an der Gefangenen vorbei zu einem der kleinen Rundfenster und sah hinaus. Ingwer wusste, dass bei Tageslicht die Kuppel zu sehen wäre. Jetzt hatte die Dunkelheit sie fast verschlungen.
Als er zurückging, blieb er dicht neben Elis stehen und flüsterte ihr etwas ins Ohr und das so leise, dass es gerade noch hörbar war: "Verratet uns wo die Toten sind, dann könnt ihr gehen."
Dann nahm er wieder Platz und sah die blaue Frau abschätzend an: "Wir werden warten. Einen guten Rat gebe ich euch. Solltet ihr beabsichtigen, euren Teil der Abmachung nicht einzuhalten, werden wir euch finden und zur Rechenschaft ziehen."
Elis überlegte sehr lange, bevor sie antwortete. Während die Minuten verstrichen blieb sie für Ingwer kaum zu durchschauen. Einerseits nahm sie ihre Aufgabe sehr Ernst und es mochte in Ihren Augen gerechtfertigt sein, Menschen zu töten, um künftiges Unheil zu vermeiden. Andererseits erschien sie der Sucherin wie ein übervolles Fass an guten und schlechten Gefühlen, die in ihr um die Herrschaft rangen. Mal siegte das eine, mal das andere.
"Ihr lasst mich gehen, egal was ihr in den Gräbern findet?"
"Jetzt kommen wir der Sache schon näher," murmelte Tamm, der auf einem Strohhalm kaute und sichtlich genervt war.
Feran musterte die Gefangene und entgegnete knapp: "So soll es sein. Was immer ihr zu verbergen habt, wird uns nicht daran hindern, euch ziehen zu lassen."
Glücklich war er mit dieser Entscheidung nicht, hatte Ingwer den Eindruck. Immerhin hatte er sie getroffen und ihr fiel ein gigantischer Stein vom Herzen.
"Ihr wirkt auf mich wie ein Mann, der seine Versprechen hält. Ich glaube euch. Bindet mich los."
Die Fesseln wurden entfernt. Elis rieb sich ihre blutunterlaufenen Gelenke, flocht ihre langen Haare zu einem einfachen Zopf und ging ohne zu zögern zur Tür. Als sie an der Sucherin vorbei kam wirkte sie leer und übermüdet.
Der Zugang zur Grabstätte befand sich in einem der unzähligen Seitenstollen der Mine. An seinem Ende war ein grobes Loch in das Gestein gehauen worden. Dicke Holzbalken davor erschwerten das Weiterkommen, waren aber schnell aus dem Weg geräumt.
Elis deutete auf den Durchgang: "Noch ein paar Schritte. Ihr solltet euch die Nase zuhalten."
Feran nickte seinen Männern zu und zwei von ihnen postierten sich neben dem dunklen Loch, drei weitere bewachten die blaue Frau.
Ein merkwürdig süßer Geruch kroch in die Lungen derer, die in die Dunkelheit eintauchten. Schnell war klar, dass diese Düsternis nach wenigen Metern ein Ende fand und in einem ungleichmäßigen Erdfeld mündete. Ein schmales Grablicht spendete aus einer kleinen Nische in der Wand etwas Helligkeit, aber mehr als Schatten waren kaum zu sehen. Ingwer fiel auf, dass hinter dem Licht das Symbol Morans in das Gestein gehauen war. Der Gott des Todes war Schutzpatron all jener, die das Reich der Lebenden verlassen hatten.
Hier und da ragte etwas aus dem Boden. Als Ingwer näher hinsah erkannte sie, dass es verschiedenste Kleidungsstücke waren, die sich in die abgestandene Luft bohrten.
"Los. Gehen wir an die Arbeit. Holt Werkzeug."
Feran nahm das Tuch um seinen Hals und band es sich um Mund und Nase. Schaufeln waren schnell beschafft.
Nach einer Stunde glich alles einem Schlachtfeld. Überall lagen tote Körper über- und nebeneinander. Der Gestank war unerträglich und Pausen zum durchatmen notwendig. So dauerte es bis zum Einbruch der Nacht, bis alle Männer aus Dunkelholz gefunden waren.
Ingwer half zunächst mit, hielt es aber vor Übelkeit nicht mehr aus und unterrichtete ihre Gefährten über Ferans Plan bevor sie schlafen ging. Matratze und Kissen hatte sie aus dem kleinen Raum geholt, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte. Kaum mehr fähig zu denken fielen ihr milde lächelnd die Augen zu.
Es war bereits hell, als sie wieder aufwachte. Notdürftig machte sie sich zurecht und ging nach draußen. Einige von Ferans Männern hatten Wache geschoben und nickten ihr mit müden Gesichtern zu. Erst jetzt fiel der Sucherin auf, wie stark verwundet einige von ihnen waren. Sie ging zu ihren Freunden und leistete ihnen Gesellschaft. Danach schnappte sie sich ein hartes Stück Brot und etwas Käse und machte sich daran, Wunden zu versorgen. Sie hatte in einem der Bücher darüber gelesen und obwohl ihr Kräuter fehlten, gelang es ihr sauber und genau zu arbeiten.
Sie merkte kaum, wie schnell die Zeit verging, war aber zugleich sehr dankbar, dass sie nicht ins Grübeln kam und ihre Sorgen vergass. Kira und Jack sahen ausgemergelt und schwach aus obwohl sie regelmäßig aßen. Nicht viel, aber um bei Kräften zu bleiben, sollte es reichen. Tat es aber nicht.
Ihre Gesichtszüge waren eingefallen, die Augen rot umrandet. Sie schliefen sehr oft und redeten nur wenig.
Was geschähe, wenn Elis sie alle belogen hatte und niemand hier aufkreuzte, wagte sie sich nicht auszumalen. Sie war froh, dass Ferans Leute die Bestattung der Toten vornahmen. In den letzten Wochen hatte sie soviel Blut und Leid gesehen, dass beides sie in ihre Träume hinein verfolgte. Das Maß war voll. Übervoll.
Feran war ihr Arbeitseifer aufgefallen. In einer ruhigen Minute setzte er sich zu ihr und reichte einen heißen Tee. Nach einer kurzen Pause sagte anerkennend: "Du hast viel mitgemacht, Ingwer."
Beide lehnten an der Rückwand der Barracke. Die Gefangenen hatten sie in einen der Räume gesperrt. Dort waren sie leichter zu bewachen.
Die Sucherin wischte sich etwas Blut aus ihren verklebten Haaren und von der Stirn und blickte zum Himmel: "Ja. Mehr als mir lieb ist."
"Meine Leute sind Dir sehr dankbar dafür, dass Du ihre Wunden versorgt hast. Bist ein Naturtalent."
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wenige Augenblicke fühlte sie sich sinnvoll und gebraucht, bevor die Düsternis der vergangenen Tage ihre Gedanken eintrübte. Sie nippte an dem heißen Becher und spürte einen leicht erdigen Alkoholgeschmack. "Ist Elis fort?"
"Wir haben sie bei Sonnenaufgang gehen lassen. Mögen die Götter uns beistehen, dass sie ihr Wort hält."
"Ich denke, das wird sie."
Feran sah sie abschätzend an und deutete nach oben: "Sicher kennst Du sie besser. Aber wenn ich eines weiß dann, dass Menschen alles tun und versprechen würden, um ihre Haut zu retten."
Ingwer zog die Beine an sich und legte ihren Kopf darauf. Ferans Leute hatten in einer verrotteten Kiste etwas entfernt von den Gräbern Waffen gefunden. Einige davon, hauptsächlich Schwerter aber auch Äxte, trugen sie gerade zusammen und legten sie gut sortiert auf eine große Decke.
"Wer waren all die Toten?" Ingwer sah den Schmied müde an.
"Der Kleidung nach zu urteilen Wachen des Hochfürsten. Keine von ihnen hatte sichtbare Wunden. Wer immer sie umgebracht hat wusste, wie man das lautlos und unauffällig tut."
Tamm erschien, auf seinem Rücken ein größeres Bündel tragend. Mit bedächtigen Schritten näherte er sich der Decke und schüttete den Inhalt auf das letzte verbliebene freie Stück Stoff. Es schienen die metallenen Überreste von Rüstungen zu sein.
"Soviele Waffen können eure Leute gar nicht benutzen. Was habt ihr damit vor?"
"Nun, ich und ein paar andere sind Schmiedemeister. Wenn ich günstig an Rohstoffe von so guter Qualität komme, dann lasse ich sie mir nicht entgehen. Diese zu benutzen ginge ohnehin nicht gut."
Er stand auf, holte eines der kürzeren Schwerter und hielt es Ingwer hin. Zögerlich nahm sie die Waffe in die Hand. So lang wie ihr Arm war die Klinge, ohne Scharten oder Beschädigungen, der Griff weich und stabil zugleich.
"Das ist eine hervorragende Arbeit. Besser könnte das keiner von uns. Sieh Dir mal den Knauf genauer an."
Die Sucherin drehte die Waffe und verstand, was Feran sagen wollte. Tief eingraviert schimmerte das Symbol des Hochfürsten dunkel hervor. Die Vertiefung war geschwärzt, glänzte aber auffällig. Jeder der eine solche Waffe führte und nicht dazu befugt war, machte sich strafbar. Keine gute Idee, mit einer davon umherzuziehen.
"Wir werden sie mitnehmen und einschmelzen. Tamm sucht alle brauchbaren Klingen zusammen. Er war meine rechte Hand in der Schmiede und ist bis heute ein guter Freund."
"Was ist mit den Gefangenen? Wir können sie doch nicht hier verhungern lassen."
"Nein, das wäre nicht gottgefällig sondern grausam. Wir haben darüber geredet als Du noch geschlafen hast. Auf dem Weg in unseren Unterschlupf passieren wir eine vielbefahrene Handelsstraße. Dort werden wir sie zurücklassen. Unseren Spuren werden sie kaum folgen können, khoorische Soldaten sind Meister im Zweikampf aber gewiss nicht im Fährtenlesen."
"Das ist ein guter Plan." Ingwer trank noch einen Schluck und spürte, wie ihr warm wurde. "Aber irgendwie ist alles sinnlos."
Feran nickte zustimmend und sagte ein Weile nichts. Tamm schnürte unterdessen die Decke zusammen, hievte die enorme Last auf seinen Rücken und ging zurück in Richtung Mine.
Der kräftige Schmied trank aus und deutete auf den Finger an Ingwers Hand, der untrennbar mit dem schwarzen Ring den Quinia ihr gegeben hatte verbunden war.
"Das Symbol kenne ich." Als fühlte sie sich bei einem Diebstahl ertappt, versteckte Ingwer die besagte Hand unter ihrem Bein, merkte aber sofort, wie überflüssig diese Reaktion war.
"Ihr seid Sucher. Was um alles in der Welt habt ihr hier verloren? Wurdet ihr entführt?"
Ingwer zögerte kurz: "Wir sind freiwillig hier. Mehr oder weniger."
"Das verstehe ich nicht. Sprechen Sucher gern in Rätseln?"
"Nein, nein. Manchmal frage ich mich, was wir überhaupt tun. Wir mussten fliehen."
"Habt ihr einen Handelszug ausgeraubt?" Feran grinste und schien sich köstlich zu amüsieren. "Versteh mich nicht falsch. Ihr seid eine ziemlich ungewöhnliche Gruppe von Flüchtigen. Wie Diebe seht ihr nicht aus."
"Meine Tante ist meinetwegen gestorben."
"Das tut mir leid für Dich, Ingwer."
"Sie war die Fürstin von Arwan."
Der Schmied starrte sie an, als wäre sie ein böser Dämon, der gekommen war ihn lebendig zu fressen. Es dauerte etwas bis er sich gefangen hatte.
"Das ist furchtbar. Ein Unfall vermute ich?"
Die Sucherin nickte knapp. Sprechen konnte sie jetzt nicht, leerte den Becher in einem Zug und streckte die Beine von sich.
"Kennt ihr die Geschichte?"
"Nur Gerüchte, grobes Zeug."
"Sie ist entführt worden und zunächst ging es nur darum, sie zu finden. Das gelang uns auch, aber irgendjemand hatte sie in ein Feld eingeschlossen, ganz ähnlich der Kuppel hier. Keiner von uns hatte eine Idee, wie wir sie da rausholen könnten."
"Du hast immer an einen Weg geglaubt?"
"Ja. Lange habe ich gegrübelt und Tage später wusste ich, wie es gelingen könnte."
"Was ist schief gegangen?" Feran zog aus seinem Rucksack einen Apfel, teilte ihn und reichte Ingwer eine Hälfte. Die Sucherin biss hinein und verzog das Gesicht, als sie merkte, dass dieses tiefgrüne Exemplar überaus sauer war.
Wieviel konnte oder durfte sie ihm erzählen? Er und seine Männer hatten die Gefangenen gerettet, aber konnte man ihnen trauen? Ingwer nahm sich vor, so allgemein wie möglich zu bleiben.
"Ich habe versucht die Hülle zu zerstören. Sie war anders als diese hier, vor allem dünner. Man konnte Essen durch die Wand nach innen reichen, ohne einen Schlüssel zu benötigen. Sie sollte einfach nur verschwinden. Stattdessen wurde sie rissig und zersplitterte unter einer enormen Druckwelle. Tante Quinia war schon sehr geschwächt. Sie hat die Explosion nicht überlebt."
"Das ist furchtbar, Ingwer. Hoffentlich kannst Du dir das irgendwann verzeihen."
Ingwer zuckte mit den Schultern und deutete langsam auf zwei von Ferans Leuten, einer von ihnen trug eine kleine Kerze bei sich und eine schmale Rolle Papier.
Der Schmied erhob sich und half der Sucherin beim aufstehen: "Man unterstellt euch, dass es Absicht war, oder? Seid ihr deshalb geflohen?"
"Ja. Wir konnten nicht bleiben."
"Konntet ihr finden, was ihr hier gesucht habt?"
"Ja und nein." Ingwer überlegte kurz bevor sie fortfuhr. "Wir wussten nicht, was uns erwartet und vieles von dem, was ich gesehen habe, verwirrt mich. Warum bringt sie die Soldaten des Fürsten um oder lässt es geschehen? Wer hat meine Tante eingesperrt und warum? Ist es richtig was hier geschieht und wenn nicht, was ist falsch? Ich... wir brauchen Antworten werden aber so schnell keine bekommen. Das macht mich verrückt."
"Ich bin zwar kein Priester, glaube aber dass Adnan für Gerechtigkeit sorgen wird. Wer Antworten sucht, wird sie finden. Früher oder später. Los. Die Zeremonie der Vergangenen beginnt gleich."
Sie eilten zur Mine. Fast alle Männer aus Dunkelholz hatten sich um ein kleines Feuer in einer der zahlreichen kleinen Höhlen versammelt. Nur wenige waren zurückgeblieben, um die Gefangenen nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Die Luft war trocken, aber angenehm, denn es roch nach Erde und Beeren, die den Flammen beigefügt worden waren. Mehrere große Erdhaufen lagen aufgeschichtet an den Seitenwänden.
Die toten Dörfler lagen in metertiefen Mulden, mit verschränkten Armen respektvoll aufgebahrt und gesäubert, so gut es ging. Ihre Kleidung war schlicht und in keinem guten Zustand, was Ingwer bei jenen, die schon länger tot waren erwartet hatte.
Je näher sie den Gräbern kam, desto fauliger roch es. Sie zog sich schnell zurück
in den Hintergrund. Dann ging es los.
Die Sucherin lauschte den Worten von Mäon, dem kleinsten der Anwesenden. Seine tiefe Stimme intonierte die neun Verse, die den Weg der Seelen in das Anderreich beschreiben so rhythmisch und ausdrucksstark, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Niemand rührte sich, Trauer füllte den Raum und Ingwer schloss die Augen. Die Worte hallten in ihrem Kopf, verzehrten und verklärten sich ehe eine unheimliche Stille folgte. Bis zum nächsten Vers, dem übernächsten, zum letzten, der dann vielstimmig erscholl. Alle, die die Verstorbenen kannten, erzählten etwas über sie, gemeinsame Erfahrungen, lustige und ernste Geschichten, manchmal Dinge, die nicht für jedes Ohr bestimmt sind.
Die Zeremonie endete mit einer Phase des Schweigens, an deren Ende die Gräber mit Erde bedeckt wurden und die Körper endgültig ihre Ruhe finden konnten.
Aufgewühlt verließ Ingwer den Ort und wurde von einem wolkenlosen Himmel begrüßt. Sie konnte sich gegen die Tränen nicht wehren und rannte zur Kuppel, um den Rest des Tages mit Kira und den anderen zu sprechen. Sie erzählte von der Zeremonie und beantwortete bereitwillig Fragen zu Elis, dem Ritual und ihrer Gefangenschaft. Auch wenn die Gespräche sie die Trauer und die Furcht vergessen ließen, wurde sie durch den Zustand ihrer Freundin brutal daran erinnert, dass ihre Welt mit allem Schönen darin dabei war zu zerfallen und sie nichts dagegen tun konnte.
Nach zwei Tagen tauchte ein junger Mann auf und mit ihm die Hoffnung.
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