Alte Geschichten und ein Stein
Sinan war es gelungen, die Kapelle wohnlich einzurichten. Viele der Möbel hatte er selbst angefertigt. Vor allem der massive Eichentisch mit runden Schubfächern zog die Blicke der Sucher auf sich. Alles war sauber und exakt gearbeitet.
Der riesige Raum wurde durch drei Holzwände abgeteilt. Im hintersten Bereich befand sich eine Kochstätte, direkt hinter der Eingangstür lag der Wohnbereich, der über einen Kamin verfügte. Von der rundgewölbten Decke hingen Kerzen an schlichten stählernen Haltern und spendeten eine angenehme Helligkeit. Der Duft von Rosen lag in der Luft.
Sinan gab den Suchern Tücher, um sich zu trocknen und deutete auf eine schmale Holzbank, auf der die drei Platz nahmen. Gäste waren wohl selten hier, da es kaum Sitzmöglichkeiten gab. Über dem Kamin hingen verschiedenste Waffen mit langen Klingen, was Jack sichtlich interessierte.
"Das mit dem Gott war nur Spaß. Bin ja kein Ungläubiger, wisst ihr? Wenn man allein wohnt und kaum jemanden sieht fühlt man sich ab und zu einsam und allmächtig. Irgendwie. Aber darum gehts nicht. Erzählt mir von euch."
Er stand auf und holte Tee. Kira wartete, bis Sinan wieder Platz genommen hatte. Seine Bewegungen waren bedächtig aber präzise.
Sie stellte Ingwer, Jack und sich vor, erzählte woher sie kamen. Als ihr Gastgeber hörte, dass sie Sucher sind lächelte er: "Ihr wisst, dass ich Sucher war? Klar tut ihr das. Ihr kommt aus Arwan?"
Jack riss die Augen auf: "Woher wisst ihr das?"
Sinan lächelte: "Ich bin viel rumkommen und habe in einem Umkreis von mehreren Wochen Reisezeit ziemlich alles gesehen. Vor meiner Zeit als Hauptmann war ich Späher. Feinde auszukundschaften empfand ich als gefährlich und spannend. Die Chance, dass ich zurückkomme und etwas zu berichten habe, machte mich wertvoll für viele, die was zu sagen hatten. Eure Herkunft habe ich an euren Worten erkannt. Arwaner sprechen anders als Khoorer, diese anders als Bewohner der Eissteppen."
"Ihr wisst, dass die Fürstin entführt wurde?", fragte Ingwer.
"Mir kam etwas zu Ohren. Wenn ich auch weitab vom Schuss lebe, manch wichtige Nachricht erreicht mich. Die Fürstin wurde gewählt, als ich auf dem Weg hierher war. Persönlich kenne ich sie nicht."
Der alte Soldat stopfte sich eine lange, dunkle Pfeife, steckte sie an und blies Ringe in die warme Luft. Kurz verzog er das Gesicht, als ob er Schmerzen hätte: "Ist sie die Tante von der Du sprachst?"
Kira fuhr fort: "So ist es. Zum Glück haben wir sie gefunden. Allerdings ist sie gefangen. In einem Schild aus irgendeiner merkwürdigen Kraft, über die wir und andere kaum etwas wissen." Sie schilderte die Eigenschaften der Hülle, die Quinia umschloss. Sinan folgte ihr aufmerksam. Lautes Donnergrollen untermalte ihr Gespräch, begleitet von starkem Regen, der gegen die bunten Scheiben des Gebäudes trommelte.
"Und was kann ich für euch tun?"
"Wir haben erfahren, dass der Angreifer euch verwunden konnte. Wie hat er das geschafft?"
"Ah. Jetzt verstehe ich." Sinan lehnte sich zurück und musterte die drei: "Ihr seid noch jung und habt euch ein hohes Ziel gesteckt. Das ist gut aber überschätzt euch nicht, so wie ich es getan habe. All die Jahre, seit ich meine Fähigkeit beherrsche, ist nie etwas passiert. Pfeile sind an mir abgetropft, Äxte zersplittert und Feinde verzweifelt. Und dann kommt dieser dahergelaufene Lump und plötzlich war meine Welt eine völlig andere. Dabei sah er nur krank aus, schlurfte und hatte eingefallene Gesichtszüge, als ob er von schweren Schicksalsschlägen gezeichnet war."
Seine Gesichtszüge verfinsterten sich schlagartig. Sekunden lang starrte er ins Nichts.
"Wie konnte das passieren?" Kira wusste, dass es viel Kraft gekostet haben musste, die Schutzbarriere längere Zeit, zum Beispiel über die Dauer eines Kampfes, aufrecht zu erhalten.
"Zunächst war mir nicht klar, was geschah. Als der Kerl mich angriff, leuchtete etwas auf, kurz bevor er mich traf. Sein breites Grinsen verfolgt mich noch heute. Er muss geahnt haben, dass er mir damit Schaden kann. Wir kämpften also und kurz nach diesem Leuchten explodierte alles. Das einzige, was ich noch hören konnte, war ein grässliches Kreischen, als ob man jemanden mit Gewalt die Seele aus den Gliedern bohrt. Dann ein Knall und irrsinniger Schmerz. Dann Stille."
"Das muss furchtbar gewesen sein."
"Das war es Ingwer. Ich war betäubt, wie lange weiß ich nicht mehr. Dann fanden mich meine Leute, ziemlich übel zugerichtet."
"Stammte das Leuchten von einem Spürstein?", fragte Kira. "Die pulsieren wenn ein Sucher in der Nähe ist."
"Ihr seid klüger als ich dachte. Aber ich neige dazu, Menschen zu unterschätzen. Wartet einen Augenblick." Sinan zwinkerte, verschwand und kehrte mit einem roten Gegenstand in der Hand zurück.
"Dies habe ich gefunden. Der Kerl hat es nach dem Kampf fallen gelassen."
In seiner flachen Hand lag ein mehrfach gezackter tiefroter Stein, offensichtlich ein Bruchstück. In seinem Inneren pulsierte langsam und gleichmäßig ein helles Licht Kira bewegte ihre Hand darauf zu, woraufhin das Leuchten schneller ab- und zunahm.
"Das ist unheimlich, findet ihr nicht?", bemerkte Jack. "Mit so etwas hat Vier uns gefunden."
Sinan streckte die Hand aus: "Ich weiß nicht, wer Vier sein soll, aber ihr könnt den Stein gern berühren. Keine Angst, es passiert nichts."
Alle drei befühlten ihn. Seine Oberfläche war kalt und glatt, er mochte einst so groß wie ein Ei gewesen sein. Als Ingwers Finger darüber glitten, nahm die Helligkeit schlagartig zu, das Licht schien wild zu tanzen. Vor Schreck wich zurück.
"Ich habe was gespürt. Es fühlte sich an, als ob darin etwas lebt." Am ganzen Leib zitternd griff sie nach der Tischkante. "Das war unglaublich."
"Ich hab nichts gemerkt. Du Jack?" Kira sah den alten Soldaten an, als erhoffte sie von ihm eine Antwort. Dieser sah ebenso überrascht aus und zog mehrmals an seiner Pfeife.
"Das ist merkwürdig. So etwas ist noch nie geschehen. Und ihr seid nicht die ersten Gäste, die mich besuchten und denen ich den Stein gezeigt habe. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus, aber könnte das mit Deiner Kraft zu tun haben?"
Er sah Ingwer an die immer noch leicht zitterte und hektisch ihre Haare zusammenzubinden versuchte.
"Keine Ahnung. Wenn ich das wüsste. Alle sagen, ich wäre etwas Besonderes, aber ich merke davon gar nichts." Sie sah Kira und Jack an: "Ständig passiert etwas und immer schafft ihr es zu helfen mit dem was ihr könnt. Was kann ich? Wie kann ich helfen? Ich hab das Gefühl ich weiß gar nichts, nichts über mich, nichts über das, was passiert, rein gar nichts. Es ist zum kotzen."
Sinan stand auf, ging zu einem schmalen Regal, nahm ein kleines Holzdöschen heraus und reichte es Ingwer: "Hier. Das sind Nussplätzchen. Die werden Dich aufheitern." Ingwer sah auf und griff zögerlich zu während Kira sie zu beruhigen versuchte: "Irgendwann wirst Du es wissen. Hab Geduld."
"Oh ja. Geduld ist wichtig." Sinan deutete auf den runden Deckel der Dose. Kleine Buchstaben und Zahlen war dort eingraviert. "Lies vor, was dort steht." Er nickte Ingwer aufmunternd zu. Diese wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und las: "4 Jahre, 6 Monate, 13 Tage." Verwirrt sah sie ihren Gastgeber an.
"Diese Zeit hat es gebraucht bis ich gemerkt habe, was meine Kraft ist. Zuvor hatte ich gehofft, irgendjemand könne mir dies sagen, damit die nervenaufreibende Suche ein Ende hat. Aber niemand konnte mir helfen. Ich selbst stieß nur aus Zufall darauf. Als junger Soldat im Kampf gegen die Norder stand ich waffenlos einem ihrer Krieger gegenüber. Er holte mit seinem langen Messer aus und verfehlte mich. Meine Angst vor dem Tod war der Auslöser und ich verstand plötzlich. Hoffentlich findest Du es auf andere Weise heraus."
"Dauert es oft solange?" Ingwer wirkte etwas gelassener.
"Das kann ich nicht sagen. Ich kenne zwar einige Sucher aber soweit ich erinnere, war das unterschiedlich. Sei nicht traurig. In einem kannst Du sicher sein. Wenn Sie sagen, Du seist etwas Besonders dann ist das so. Leider wissen die Spürsteine nicht, was Du kannst sondern nur, wie intensiv die Kraft in Dir lebt."
"Danke für Eure Worte. Das ist sehr nett. Irgendwie hatte ich mir das alles leichter vorgestellt." Verlegen sah sie den immer noch hell leuchtenden Stein an.
"Du kannst ihn gerne mitnehmen. Ich denke, Du hast eine Verbindung zu ihm, die ich nie haben werde. Vielleicht hilft sie Dir herauszufinden, was Dich besonders macht."
"Wirklich? Das wäre wunderbar. Dieses Ding hat mir einen riesigen Schrecken eingejagt aber vielleicht finde ich etwas heraus, um Quinia zu befreien. Habt Dank Sinan. Ihr seid ein guter Mensch."
"Gern geschehen. Wir Sucher müssen doch zusammen halten." Der Soldat nickte ihnen freundlich zu: "Hoffentlich gelingt es euch die Fürstin zu befreien. Mögen die Götter euch beistehen."
"Wir werden alles dafür tun", sagte Jack, der hin und wieder seinen Kopf Richtung Fenster gedreht hat.
Sinan schien seine Gedanken zu ahnen: "Ihr könnt über Nacht bleiben wenn ihr wollt. Bei diesem Wetter schicke ich euch nicht weg. Das würde ich ohnehin nicht tun. Es ist hier nicht so luxuriös wie ihr es kennt aber trocken, Essen koche ich gleich noch. Wir müssen aber im Morgengrauen aufbrechen, da ich vorhabe einen guten Freund zu besuchen."
Kira fiel ein Stein vom Herzen. Nicht auszudenken, wenn sie noch ihr Zelt hätten aufbauen müssen. Jack gähnte herzhaft: "Frühes aufstehen sind wir gewöhnt. Danke für euer Angebot. Wir nehmen es gerne an."
Gemeinsam aßen sie Kartoffelsuppe zu Abend und fielen kurz darauf in einen tiefen Schlaf. Nur Ingwers Augen blinzelten noch lange im Schein der einzigen Öllampe. Dieses verstörende, vertraute und beängstigende Gefühl, dass die Berührung des Spürsteins ausgelöst hatte ließ sie nicht los. Waren das ihre eigenen Gefühle die der Stein verstärkte? War es etwas ganz anderes, wildes und umbändiges?
So sehr sie auch nachdachte, eine gute Erklärung die sie zur Ruhe kommen ließ war nicht in Sicht. Irgendwann in den frühen Morgenstunden übermannte sie die Müdigkeit.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro