Kapitel 8
Aristides und Markus glitten durch das Rohr.
Was hieß hier glitten? Zumindest Aristides kämpfte sich mit dem Bücherstapel durch die Enge und stöhnte und meckerte. Wenn er kein Geist wäre, könnte man ihn im gesamten Rohrsystem hören. Das machten Klagegeister nämlich so. Die setzten oder legten sich in ein Rohr und jammerten und klagten und das zog sich durch alle Rohre und machte den Menschen ...
Aber hier ging es um Aristides, der war kein Klagegeist und wollte auch keiner werden. Er wollte aus seinem Ewigkeits-Dasein befreit werden. Dafür durch ein enges Rohr zu schlittern, nein, das stand ganz unten auf seiner Liste, wenn er denn eine hätte.
„Wo willst du überhaupt hin?", jammerte er herzerweichend. „Müssen wir durch dieses Rohr? Es muss doch einen für Menschen akzeptablen Weg geben."
„Hör auf zu meckern", knurrte Markus, „sei lieber dankbar, dass ich deine Bücher schleppe."
Das half vielleicht für eine halbe Sekunde, ehe Aristides erneut loslegte.
„Mir brechen gleich die Arme ab und meine Schultern sind schon ganz wund vom vielen Anstoßen."
„Du bist ein Geist!" Markus' Stimme näherte sich allmählich einem bedrohlichen Klang.
„Na guuuut", jammerte Aristides weiter, „dann eben nur blaue Flecken und keine abgerissenen Arme."
„Du – bist – ein – Geist!!!" Markus machte Halt, drehte sich irgendwie durch sich selbst und mit den Büchern auf den Armen hindurch und funkelte Aristides aus glühend roten Augen an.
Aristides klappte der Mund weit auf und seine Augen wurden riesig. Das hatte er auch noch nicht gesehen. Ein Geist, der sich durch sich selbst nach hinten drehte. Dabei hatte Markus schon die roten Augen vor diesem Manöver gehabt, was es noch ehrfurchtgebietender machte. Oder vielleicht eher ein klein wenig interessanter? Aristides blinzelte und grübelte nach. Es war so irgendwie ein kleines bisschen einer Schlange ähnlich gewesen, die sich in einem engen Tunnel zurück schlängelte. Ach nein, eine Schlange würde züngeln. Also passte ein Wurm besser. Genau, ein Wurm mit rot glühenden Augen.
Aus Aristides' erstauntem, ehrfürchtigem Blick wurde ein breites Grinsen und schon lachte er los. Gut, dass er kein Klagegeist war, das hätte jetzt wirklich schaurig durch alle Rohrsysteme gehallt.
Markus verengte die Augen. Er war nicht sicher, was diesen Heiterkeitsausbruch veranlasste. Bei Aristides konnte man nie wissen, was er so dachte. Zum Glück. Sonst wäre jetzt ein völlig ungleicher Kampf im unterirdischen Rohr losgegangen. Das wäre für die Bücher gar nicht gut gewesen.
„Wenn du dich dann wieder beruhigt hast, können wir ja weiter", knurrte er bedrohlich. „Und wenn es dir zu eng ist, dann gleite durch die Wand und das Erdreich. Du musst nicht im Rohr bleiben. Du bist ein Geist, du kannst sogar bis zum Erdkern schweben."
„Ach, echt?" Aristides japste noch ein wenig vom vielen Lachen, aber das musste er jetzt genau wissen. Da vergaß er sogar, warum er überhaupt gelacht hatte. „Bist du schon dort gewesen? Ist es da vielleicht so heiß, dass ich von dort direkt in die Nicht-Existenz verpuffe?"
Markus rollte mit den Augen, drehte sich um und schlängelte sich durch sich selbst wieder nach vorn. Wie machte der das nur? Als Aristides es versuchte, fiel ihm gleich ein Buch von seinem Stapel. Nichts zu machen. Er hob das Buch auf und seufzte. Vielleicht glaubte Markus an Wiedergeburt und war in einem seiner früheren Leben tatsächlich eine Schlange oder ein Wurm gewesen. Irgendwie hatte er Fähigkeiten, die nicht normal waren. Vielleicht hätte er von ihm noch was lernen können, wenn sie sich schon vor fünfhundert Jahren oder so begegnet wären. Aber jetzt mit tausend Jahren noch etwas Neues lernen? Nein, das musste nicht sein.
Tapfer folgte er dem anderen weiter durch das Rohrsystem. Und nein, er schwebte nicht schön ausgebreitet halb durch die Wand oder das Erdreich, so wie Markus es vorgeschlagen hatte. Das wäre ja so, als müsste ein Mensch sich durch eine Straße quälen, die bis zum Himmel voller Zuckerwatte war oder Vanillepudding oder sogar Erdbeereis! Welcher Mensch quälte sich da freiwillig durch? Keiner, der nahm auf jeden Fall die Straße, wo es nur frische Luft gab und schöne Gehwege. Also warum sollten sich Geister nicht ebenfalls komfortabel durch freie Gänge fortbewegen?
Na schön, dieses Rohr war nun nicht unbedingt ein komfortabler Gang. Fast erinnerte es Aristides an das Transportflugzeug, das ebenfalls alles andere als komfortabel gewesen war. Und das wiederum erinnerte ihn an Bathilde. Den Gedanken verdrängte er schnell, weil er da auch an Resublimierung denken musste, worauf er gar keine Lust hatte. Also betrachtete er nun die Füße von Markus, die in Schuhen steckten. Er grübelte darüber nach, weshalb er Kleidung sehen konnte, also Geisterkleidung. Weshalb er nicht den Fuß von Markus sah. Er müsste doch eigentlich durch die Schuhe hindurchsehen können. Durch die Bücher konnte er ja auch hindurchsehen und sogar durch den gesamten Markus. Warum also nicht durch die Kleidung? Wenn er sich so vorstellte, dass er den puren Körper sah, weil er durch alle Kleidungsstücke sehen konnte, fand er es nicht so prickelnd. Markus nackt. Nein, bloß nicht!
Mit einem Mal flutschte Markus nach rechts und Aristides knallte gegen das Rohr, das sich hier nach links und rechts verzweigte. Also, in Wirklichkeit knallte er nicht gegen das Rohr, er war ein Geist, er stieß durch das Rohr in das umgebende Erdreich und sah doch tatsächlich einige winzige, wirklich winzige weißliche Würmchen. Das war ja so eklig!
„Bah", kreischte er und fuhr zurück. Nicht so elegant wie Markus, eher unbeholfen wie eine Raupe, die sich mit einem Buckel weiterschiebt. Aber nicht nach vorn, sondern nach hinten, er wollte ja aus dem Erdreich raus.
„Was ist los? Hast du ein Buch verloren?", rief Markus aus weiter Ferne.
Na klar, der rutschte einfach weiter durch das Rohr. Der machte sich gar nicht die Mühe, nach seinem Wegbegleiter Ausschau zu halten, ob es ihm gut ging und ob er die Abzweigung bemerkt hatte.
Eingeschnappt erwiderte Aristides: „Wenn mich die Würmchen gegessen haben, kann ich es ja mitteilen."
Natürlich erhielt er keine Antwort darauf. Vorsichtshalber schaute er unter sich, danach auf seinen Bücherstapel. Alles vollständig. Zumindest damit hatte er Glück. Noch einmal zu den eklig weißlichen Würmchen wollte er wirklich nicht schweben. Aber für ein Buch würde er es tun.
Stöhnend und seufzend folgte er dem Rohr nach rechts und versuchte, Markus einzuholen. Er hatte wirklich keine Lust, allein in diesem Rohrsystem festzustecken. Es war viel zu eng, um bequem zu sitzen und zu lesen. Nebenbei fragte er sich, welchen Sinn dieses Rohr überhaupt hatte. Frische Luft beförderte es garantiert nicht, da müsste es von oben nach unten gleiten, nicht von unten nach noch tiefer unten.
„Äh ... Markus", rief er, weil er den anderen noch immer nicht sehen konnte, „Markus, bist du noch da?"
Allmählich machte er sich doch Sorgen. Hatte er vielleicht Platzangst oder Verlassenheitsängste? Fing er an, schon wieder zu halluzinieren, so wie beim Menschen? Er hatte nämlich das Gefühl, als ob das Rohr nach oben führte. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.
„Nee, weißt du, dein Gemecker und Gejammer hat mich so genervt, dass ich geradewegs durch das Erdreich mit den Büchern abgehauen bin", erscholl Markus' Stimme mit einem so sarkastischen Tonfall, dass es Aristides schauerte. Aber wenigstens wusste er jetzt, gleich hatte er den miesepetrigen Markus eingeholt.
Es dauerte tatsächlich nicht mehr lang. Das lag weniger daran, dass Aristides schneller war als Markus, sondern vielmehr daran, dass Markus angehalten hatte. Er befand sich an einer dreigeteilten Abzweigung. Das Verbundsystem der Rohre hatte hier den Vorteil, dass alles breiter wurde. Aristides strahlte. Endlich konnte er sich gefahrlos ausdehnen, ohne durch die Erde zu gleiten.
„Das ist wirklich nett von dir, Markus, dass du auf mich gewartet hast."
„Hr-mpf."
Aristides flackerte nervös. Dieses Geräusch kannte er. Normalerweise gab der mürrische Markus das nur von sich, wenn er eingeschnappt war, weil Bathilde irgendwas Dummes getan oder gesagt hatte. Hier war weit und breit keine Bathilde. Wie auch? Sie war in irgendeiner Zelle der Geistereinwanderungsbehörde in einer resublimierten Form oder zumindest wartete sie darauf, resublimiert zu werden. Ganz kurz geisterte es durch Aristides Kopf, ob vielleicht alle Statuen resublimierte Geister waren. Irgendwo mussten sie ja die resublimierten Geister aufbewahren.
„Ähm ... geht es meinen Büchern gut?" Was Besseres fiel Aristides auf die Schnelle nicht ein, um Markus abzulenken.
„Hr-mpf", kam es noch mürrischer als zuvor. „Abzweigung hat er gesagt, da war keine Rede von Abdreigung. Wie soll ich denn nun wissen, welches Rohr wir nehmen müssen?"
Aristides flackerte ein bisschen mehr. Da hätte er doch lieber nur ein „Hr-mpf" gehört als so eine lange Schimpfrede. Musste er darauf antworten? Besser nicht, ein mürrischer Markus konnte recht schnell ein meuchelnder Markus werden. Und auf den hatte Aristides keine Lust.
Er legte seinen Bücherstapel ab, schnappte sich das oberste Buch und begann, zu lesen. Irgendwann, wenn Markus sich beruhigt hätte, entschied dieser sich schon für einen Weg. Bis dahin konnte er sich die Zeit angenehmer vertreiben, als über Abzweigungen oder Kreuzungen oder unterirdische Rohre nachzudenken.
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