Kapitel 6
Aristides hatte eindeutig zu viele Vorurteile gehabt. Nirgends lauerte jemand, nirgendwo drohte eine Gefahr, es gab überhaupt gar keine Probleme.
Genau das war das Problem! Weil absolut alles unvorstellbar einfach ging, kamen die beiden Geister kaum vorwärts. Immer wieder drehten sie sich um. Starrten misstrauisch anderen Geistern hinterher, die entweder hier lebten oder nur zu Besuch waren.
Hatte nicht der Geist dort im Doppelbus eine Inspekteur-Plakette? War der weibliche Geist, der ihnen schon seit drei Straßenzügen folgte, auf sie angesetzt, um sie an die Einwanderungsbehörde zu verraten? Wieso überhaupt gab es hier so verdammt viele Geister, die noch dazu in allen möglichen Farben schimmerten? Da konnte einem ja schwindlig werden!
Fast war Aristides froh, als er endlich die riesige Bibliothek erreicht hatte. Dass Markus nicht minder froh war, konnte man diesem zwar ansehen, aber zugegeben hätte er es niemals. Fast schon erleichtert stürzten sie über den gigantischen Vorplatz. Die roten Ziegelsteine leuchteten fast so rot wie Markus, wenn er richtig mies drauf war. Ob die weißen Steine dazwischen einfach nur der Schönheit dienten, begriff Aristides nicht, war ihm aber auch ziemlich egal. Er wollte ja keine Architektur studieren, sondern Zauberbücher.
Mit einem flauen Gefühl in seinem Geistermagen schwebte er in das Gebäude, das fast schon vertraut roch – zumindest für Aristides. Was für Markus vertraut riechen mochte, wollte sich der tausendjährige Geist lieber nicht vorstellen. Sicher hatte es mit Sprengpulver, Pfeffer oder Ähnlichem zu tun. Wichtig war nur, dass es scharf roch und garantiert schadete.
„Ich suche dann mal die Abteilung mit Zauberbüchern", flüsterte Aristides, kaum dass sie im großen Eingangsbereich standen.
Ach was, groß. Riesig! Hier in London war alles riesig! Bathilde würde Augen machen und Schnappatmung bekommen, wenn sie das hier sehen könnte.
„Warum flüsterst du?", fragte Markus und sah sich um. „Es hört uns doch sowieso niemand. Eigentlich schade. Ich würde echt gern ausprobieren, ob es hier hallt."
Er starrte nach oben zur haushohen Decke.
„Gigantisch", flüsterte Aristides, „allein hier unten passt die Bibliothek von Anorchena zweimal hinein, mindestens."
„Du flüsterst immer noch", beschwerte sich Markus.
„Ich bin eben so ergriffen."
„Toll, dann sei du ruhig ergriffen. Wenn du damit fertig bist, kannst du mir erklären, wo die Bücher sind. Ich sehe nämlich keine."
Beide Geister blickten die breite weiße Treppe nach oben, sahen auf die weißen Brücken, die wohl Gebäudeteile auf mehreren Stockwerken verbanden. Es sah alles total modern und schick aus, irgendwie sauber. Und jetzt begriff Aristides auch, dass er sich den typischen Bibliotheksgeruch nur eingebildet hatte. Von wegen trockener, leicht muffiger Büchergeruch, wie er von teppichausgelegten, mit uraltem Holz verkleideten Bücherregalen stammte.
„Äh, du hast recht", stammelte er verwirrt, „hier sind gar keine Bücher."
Schon schwebte er los, den Treppenaufgang hinauf, um die versteckten Bücher zu finden. Hatte er etwa den weiten Weg vergebens gemacht? Diese schreckliche Tortur im Frachtraum des Flugzeugs, die beengte Flucht in der metallenen Transportbox? Er verharrte augenblicklich und drehte sich zu Markus um.
„Glänze ich?"
„Häh?"
„Schimmere ich golden oder silbern?"
Markus sah ihn an, als wäre er geistesgestört. Vielleicht war er das ja auch. Aber ihm war soeben das Gold eingefallen, mit dem er so intensiv gekuschelt hatte. Anscheinend hatte es keine Substanz an ihn übertragen. Ärgerlich! Ging denn heute alles schief?
Erst wurde Bathilde eingefangen und resublimiert.
Dann mussten sie sich durch ganz London kämpfen bis zur British Library.
Schließlich gab es hier kein einziges Buch.
Und nun glänzte er nicht einmal!
Knurrig schwebte er weiter. Wenn das hier die größte Bibliothek der Welt war, dann musste es hier irgendwo Bücher geben. Die modernen Menschen waren zwar sehr sonderbar, aber doch nicht so sonderbar. Er verdrängte rasch den Gedanken, dass sie in Anorchena Bücher zerschnitten und ausgehöhlt hatten. Nein, das war eine absolute Ausnahme gewesen. Ganz sicher.
Auf dem ersten Absatz des Treppenaufgangs hielt er an und starrte gedankenverloren auf die Rolltreppe, die neben den Stufen langsam empor glitt. Es waren nur sehr wenige Menschen unterwegs. Viel zu wenige, für so einen riesigen, gigantischen Bau. Vielleicht brauchte niemand mehr Bücher. Sicher bekamen die Lebenden all ihr Wissen aus dem Internet. Wozu also in einen Bau gehen und nach Papierwissen suchen?
Nun wurde es Aristides richtig flau im Geistermagen. Es konnte doch sein, dass die Menschen unter größter Bibliothek eine Ansammlung allen Online-Wissens verstanden. Deshalb war es hier sicherlich auch so weiß und sauber. Computer vertrugen keinen Schmutz.
Bestürzt eilte er weiter hoch, dicht gefolgt von Markus. Der war nun wohl auch interessiert, wo hier Bücher versteckt sein konnten. Noch ein Treppenabsatz und noch einer und ... Aristides fing an zu leuchten. Bücher!
Glückselig stürzte er los und schwebte durch das Glas, tauchte ein in die wunderbaren alten Kostbarkeiten, die abgeschirmt von der sterilen Außenwelt hinter Glas versteckt waren.
„Oh, ihr wunderbaren Kleinode!", rief er fröhlich. „Meine fantastischen Schätze!"
Er schlang die Arme um einige, wobei er durch die drumherumstehenden hindurchgreifen musste. Aber das war egal. Es ging ja nur um die symbolische Geste. Es gab hier also doch Bücher, richtige Bücher, mit Seiten. Er schnupperte, inhalierte die Luft und seufzte selig.
„Bücher."
„Ja ja, krieg dich mal wieder ein." Markus schwebte neben ihm mit verschränkten Armen und tippte mit dem Fuß in der Luft herum. „Das heißt noch nicht, dass sie hier auch Zauberbücher haben."
„Aber natürlich haben sie welche", widersprach Aristides. „Und ich werde sie finden. Du kannst ja nach deinem Jack Ausschau halten."
Schon eilte Aristides ohne den miesgelaunten Markus weiter, senkrecht nach oben, später ganz tief nach unten. Leider gab es in diesem Glaskasten keine Bücher über Zaubersprüche. Und noch viel weniger Geisterbücher. Dafür entdeckte er an einem Fahrstuhl die Aufschrift: King's Library.
Nun, wenn in diesem gigantisch hohen Glasbau nur Bücher eines Königs waren, dann befanden sich mit Sicherheit noch viele weitere Räume in dieser Bücherei, wo von weiteren Königen Bücher lagerten. Irgendein König hatte sicherlich auch Zauberbücher gehortet.
Doch so einfach war es wirklich nicht. Vielleicht hätte Aristides besser seinen Reisegefährten um Hilfe bitten sollen. Denn nach vier Stunden hatte er zwar etliche Lesesäle entdeckt, doch noch keine Spur von Geisterbüchern. Auf jeden Fall hatte er gelernt, wie man anderen Geistern auswich oder möglichst unauffällig tat. Dazu legte er grübelnd seine Hand unters Kinn und tippte mit dem Zeigefinger an die Lippen, den Kopf nach oben gerichtet und die Augen irgendwie ins Nichts blickend. Das war seine Denkerpose. Wer so blickte, da war sich Aristides sicher, wurde von niemandem angesprochen.
Nach diesen vier Stunden fand Markus ihn sonderbarerweise. Verwundert blickte er den Geist an, der fast schon golden schimmerte. Woher hatte er diesen Farbton?
„Du fragst dich jetzt bestimmt, wie ich dich gefunden habe." Markus blickte überheblich.
„Nein, eigentlich nicht. Ich frage mich, woher du diesen goldenen Schimmer hast."
Markus blickte an sich herunter, hob eine Hand und hielt sie vor das Gesicht. Dann grinste er breit.
„Tja, wahrscheinlich ist das mein Zufriedenheitsanblick. Denn ich habe dich gefunden, was nicht sehr schwer war, und deine Geisterbücher über Zauberei."
Sofort stürzte Aristides auf Markus zu. „Wo, wo sind sie?"
„Komm mit." Markus schwebte mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck voraus. „Ich hab einen der Bibliotheksgeister gefragt. Die haben die Geisterbücher ganz unten im Keller, so tief unten, dass sich nur sehr selten ein Mensch hin verirrt. Und überhaupt darf da nur spezielles Personal rein. Damit sind die Bücher sicher vor eventueller Beschädigung oder Auflösung."
Aristides blickte ungläubig. Geisterbücher konnten beschädigt werden? Ach, was wunderte er sich überhaupt? Wenn einer sich damit auskannte, dann natürlich Markus!
„Und wenn ich schon beim Aufklären bin, du bist allen Geistern aufgefallen mit deinem In-die-Luft-Starren. Sie wollten schon die Einwanderungsbehörde rufen, ob die vielleicht wissen, ob aus irgendeinem Sicherheitsgefängnis ein irrer Geist ausgebrochen ist."
Aristides klappte die Kinnlade herunter. „Die ... die wollten was?!"
Markus grinste breit. „Dich in ein Geisterirrenhaus abschieben. Damit du nicht per Zufall hier irgendwas Dummes anstellst. Aber ich konnte versichern, dass du harmlos bist und zu mir gehörst."
Im ersten Moment war Aristides zu geschockt, dann aber räusperte er sich und brachte ein „Danke" hervor. Ob er Markus mochte oder nicht, Höflichkeit hatte dieser auf jeden Fall verdient.
Unten im Keller gab es einen riesigen Raum, in dem nur leere Metallregale standen. Scheinbar leer. Für Menschenaugen nicht sichtbar waren sie bestückt mit Geisterbüchern, eins neben dem anderen. Es mussten Tausende sein! Mehr als alle Bücher – die Menschenbücher eingerechnet – in der Anorchenaer Bibliothek. Jetzt leuchtete Aristides auch.
Er stürzte von Reihe zu Reihe, bis er ein Regal voller Zauberbücher fand.
„Hier, hier sind sie!", rief er begeistert, schnappte sich gleich ein paar Bücher und schwebte glückselig zu einem Tisch am anderen Ende des Raumes. Er setzte sich auf den Stuhl und begann zu blättern. Vergessen war Markus. Vergessen war Bathilde.
Ein Räuspern schreckte ihn hoch. Wegen der vielen Bücher, die er im Verlauf der Stunden um sich geschart hatte, konnte er kaum erkennen, wer da vor ihm stand und ihn mit hochgezogenen Brauen anstarrte.
„He-rm", machte die Person erneut. „Erstens ist die Öffnungszeit längst vorbei. Und zweitens darf hier unten sowieso nur mehrfach überprüftes Personal hinein."
Aristides flackerte unsicher. Er drehte sich um, doch hinter ihm stand niemand. Wie auch, da war die Wand. Er blickte wieder nach vorn in das erzürnte Gesicht.
„Äh, du kannst mich sehen?", fragte er schließlich ungläubig und starrte fassungslos den Menschen vor sich an.
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