Kapitel 18
Aristides blickte die drei an und verzog das Gesicht zu einem müden Lächeln. Wo nahm Markus nur all die Energie her? War er vor zweihundert Jahren auch noch so voller Elan gewesen? Er erinnerte sich nicht mehr. Irgendwann verloren sich die Erinnerungen in der Zeit.
„George, meine Freunde Markus und Bathilde sind hier", erklärte Aristides. „Markus hat einen Job bei der Geisterbehörde angenommen. Oder vielleicht eher eine Ausbildungsstelle. Und Bathilde hat herausgefunden, dass deine Vorfahren von Chorinia stammen."
„Chorinia?", wiederholte George irritiert.
„Ja, die Inselmonarchie vor Frankreich, dort komme ich her."
„Ich übrigens auch", warf Bathilde mit spitzem Tonfall ein. „Wenn du wirklich von Chorinia stammst, müsstest ..." Sie verstummte und errötete anstandshalber. Der tausendjährige Aristides kannte natürlich keine Bibliothekarin, die erst in diesem Jahrhundert geboren worden war.
„Also ist Chorinia unsere Verbindung?" George blickte ungläubig. „Und wieso sehe ich dann Bathilde und Markus nicht? Stammen sie nicht auch von dort?"
„Bathilde schon, aber Markus nicht. Und ich habe mich selbst schon gefragt, warum du mich siehst, aber nicht Bathilde."
„Ist doch klar", mischte sich Markus ein. „George stammt aus einer Familie, die deiner Familie immer gedient hatte, Aristides. Und da du nun Hilfe benötigst, ist das Helfer-Gen in George aktiviert worden."
Matthew kam soeben hereingeschwebt und hörte Markus' Erklärung. Er nickte zustimmend, eilte geradewegs neben Bathilde und machte mal wieder Dinge, die gar nichts in der Öffentlichkeit zu suchen hatten, was Bathilde seufzen und erröten ließ. Aristides stöhnte und rollte mit den Augen.
Nach der nicht-Aristides-jugendfreien Aktion wandte sich Matthew Markus zu. „Du wirst wirklich eine Bereicherung für unsere Abteilung sein, Markus, da stimme ich meiner Lieben immer mehr zu. Wo hast du von dieser Familienbindung gehört?"
„Ach, ich hab einige Jahrhunderte in Spanien gelebt, da ist das eine ganz natürliche Sache. Auch wenn die Lebenden gar nicht wissen, dass die Pflicht zu dienen über den Tod hinaus reicht."
„George, mein Freund Markus meint, dass deine Familie vielleicht für meine Familie gearbeitet hat", wandte sich Aristides an den Menschen, damit er auch erfuhr, was los war. „Er ist davon überzeugt, dass du mich sehen kannst, weil du mir ... äh ... wie drücke ich es am besten aus?"
„Ich verstehe", rief George und klatschte vor Begeisterung in die Hände, „ich soll dir helfen, ins Jenseits zu gelangen. Weil ich als Nachfahre deiner Dienerschaft sozusagen ebenfalls dein Diener bin. Und deshalb hat dich das Schicksal nach London geführt und sogar zur British Library, wo ich arbeite. Das ist sowas von aufregend!"
„Markus", Aristides blickte ihn fragend an, „hast du auch eine Idee, wie George mir helfen kann? Ich meine, er kann ja schlecht meine Hand halten, einen Spruch aufsagen und schon löse ich mich auf."
„Ist ein Geist nicht normalerweise an sein Skelett gebunden?", fragte George vorsichtig nach.
„Du kannst ja eine Zeitreise machen", sagte Markus und grinste spöttisch in Georges Richtung, „vielleicht findest du da noch den ein oder anderen Knochen vom Aristides."
„Er kann dich nicht hören", erklärte die belehrende Bathilde.
„George", sagte Aristides und warf den beiden Geistern vernichtende Blicke zu, „meine Knochen sind verbrannt. In Chorinia war vor tausend Jahren die Seebestattung mit brennenden Booten üblich. Sonst wäre die Insel zu einem riesengroßen Friedhof verkommen."
„Okay, wie ist es mit einem Gegenstand? Einem Familienerbstück? Obwohl das ohne Gruft sicher schwierig ist, zu finden. Und ohne Erben wohl kein Familienerbstück."
„Damals gab es leider keine Aufzeichnungen über einfache Leute", sagte Bathilde seufzend. „Sonst könnte man etwas in der frühmittelalterlichen Ausstellung entdecken."
„Einfache Leute?", fragte Aristides. „Meine Eltern waren Adlige und herrschten über Anorchena, das damals allerdings keine Stadt war, nur eine Ansammlung von vielleicht hundert Bauern."
George merkte, dass Aristides mit einem der Geister sprach, aber bei dem Wort Adelige horchte er auf.
„Deine Eltern waren Adelige? Vor tausend Jahren? Und dann hatten sie nur ein Kind und du gar keinen Erben?"
Aristides zuckte verlegen mit den Schultern. „Es sollte nicht sein. Meine Gemahlin und ich haben uns damit abgefunden. Nach meinem Ableben hat der Graf des Nachbarortes die Herrschaft mit übernommen und Anorchena später seinem Zweitgeborenen übergeben."
„Ich bin mir sicher, dass wir in der frühmittelalterlichen Abteilung darüber etwas finden. Vielleicht liegt dort der Schlüssel zu deiner Erlösung." George lächelte zuversichtlich.
„Ich will doch nicht erlöst werden", widersprach Aristides, „ich will einfach in die Nicht-Existenz verschwinden. Tausend Jahre sind wirklich genug."
„Hoffentlich denke ich in zweihundert Jahren nicht so", murmelte Markus.
„Also ich bin der Meinung, es ist immer dann genug, wenn man persönlich alles erlebt hat, was man sich erträumt hat", erklärte Bathilde mit Nachdruck.
Matthew nickte zustimmend und küsste Bathilde – diesmal zum Glück nur auf die Stirn. Konnten die mit ihrem Liebesgetändel nicht langsam aufhören? Das war fast so schlimm wie ein Liebesroman. Nur küssten sich da fremde Geister auf Papier und Aristides musste das nicht miterleben.
„Wenn ihr dann mit eurem Gespräch fertig seid, Aristides, können wir in die Abteilung gehen." George blickte rundherum, als ob er jeden einzelnen Geist ansähe, dabei sah er ja niemanden.
Markus grinste spöttisch. Bathilde kicherte. Matthew zog die Stirn in Falten und Aristides seufzte.
„George, du brauchst nicht so umherblicken. Das sieht nur sonderbar aus. Markus steht direkt neben dir und Bathilde und Matthew neben mir. Und ja, wir sind fertig und können los. Aber darfst du denn das Kellergeschoss verlassen?"
„Ich sehe niemanden, der mich aufhalten könnte." Der Mensch grinste. „Hier verirrt sich nur selten jemand hinunter. Meistens helfe ich in den anderen Geschossen aus, um Besuchern den Weg zu zeigen oder das Lesesystem zu erklären. Da kann ich auch mal in einer der oberen Abteilungen herumspazieren."
„Ich denke, hierbei kann ich nicht helfen", erklärte Matthew. „Markus, wir zwei machen uns auf den Weg zur Geisterbehörde. Du brauchst einen Sicherheitsausweis, musst ordnungsgemäß umgemeldet werden. Das erledigen wir am besten sofort."
Bathilde nickte. „Eine sehr gute Idee. Und ich melde mich bei den Bibliotheksgeistern. Ich möchte doch nicht schon an meinem ersten offiziellen Tag durch Herumgammeln auffallen."
„Also dann", sagte Aristides, „gehen George und ich allein."
Er fühlte ein wenig Beklemmung und so ein störendes Kribbeln im Bauch. Was war, wenn sie in der frühmittelalterlichen Abteilung einen Weg fanden, wie er ins jenseitige Jenseits gelangte? Und dann waren Bathilde und Markus gar nicht dabei? Sonderbar, irgendwie fühlte sich das nicht gut an. Aber ändern konnte er es nicht.
„Viel Erfolg, Aristides, du schaffst das!", sprach ihm Bathilde Mut zu.
Markus klopfte ihm kräftig auf die Schulter und nickte aufmunternd. Mit großen Augen bemerkte Aristides, dass der Schlag nicht geschmerzt hatte. Er schluckte mühsam den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals bildete. War es dem mörderischen Markus bewusst, dass sie sich vielleicht zum letzten Mal sahen?
„Keine Angst, das war kein Versehen", erklärte Markus direkt seinen schmerzfreien Schlag. „Matthew hat mir erklärt, dass ich solche Scherze nicht mehr machen darf. Sonst fliege ich. Also ich werde gar nicht erst zur Ausbildung aufgenommen."
„Ach so." Vorbei war der sentimentale Augenblick, der Aristides soeben zu erfüllen versucht hatte. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn da mehr dahintergesteckt hätte bei Markus' zahmem Abschied. „Na dann, auch euch alles Gute. So, George, wir können gehen."
Er hatte sich noch nicht ganz weggedreht, da erhaschte er aus dem Augenwinkel eine nicht-Aristides-jugendfreie Verabschiedung zwischen Bathilde und Matthew. Also, die würde er garantiert nicht vermissen, wenn er in die Nicht-Existenz hinüberging.
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