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War es nicht unfassbar wie sich durch den Tod einer einzigen Person gleich das Leben von vielen anderen änderte? Eliza und Mike waren nie wieder die zwei verliebten Eheleute, die Schulband war nicht mehr dieselbe... und für mich wurde einfach alles farblos. Ich hatte nie gewusst wie sehr ich sie wirklich liebte, bis ich sie einfach so verloren hatte. Es hätte mich lehren sollen die einfachen Dinge mehr zu schätzen, aber wie, wenn ich sie nicht genießen konnte? Gerade jetzt, wo ich wieder aus einem weiteren Albtraum hochschreckte, mich fertig machte und dann zur Schule fuhr. Es war eine Routine geworden. Man hatte mich einmal als Emo bezeichnet, das war ich aber keineswegs. Es war sowieso ziemlich unnötig jemanden als solchen zu bezeichnen, wenn man nicht einmal wusste was genau es war.
»Hey, hier bin ich Kate!«, hörte ich Ashley rufen, als ich den Biologieraum betrat. Und der wahre Albtraum begann...
»Ich habe dich gestern irgendwie nur in den Stunden gesehen. Wo warst du?«, fragte sie mit definitiv gespieltem Interesse. Es wäre fies, wenn ich ihr sagen würde, dass ich auf der Toilette gegessen hatte, nur um allein sein zu dürfen, also ließ ich es besser sein.
»Komisch, ich habe dich auch die ganze Zeit gesucht, irgendwann habe ich mich verlaufen.«, log ich mit Leichtigkeit, wie auch bei Dr. Grayson. Ich hatte immer versucht bei der Wahrheit zu bleiben, nickte aber später nur noch, wenn er mir mal wieder etwas unterstellte.
»Ah, Ms. West, ich denke es ist nicht gut, wenn Sie so nahe an Ms. Smith sitzen. Setzen Sie sich doch bitte neben Mr. Hardin.«, sagte Mr. White, unser Biologielehrer. Mir rutschte das Herz nach einer Schrecksekunde in die Hose. Ned ging ganz sicher nicht in diese Klasse, also konnte es ja bloß sein großer Bruder sein. Was dachte er sich denn dabei? Er konnte zwar nicht wissen wie unsere erste Begegnung abgelaufen war, doch der Blick, den er mir nun zuwarf je näher ich kam, sagte mehr als Worte es beschreiben konnten, da er nahezu vor Boshaftigkeit triefte. Wenigstens schien sein Hass auf mich ihn vielleicht ruhig zu schalten, dann konnte ich mich zumindest auf den Unterricht konzentrieren. Als ich mich neben ihn auf meinen Stuhl sinken ließ, starrte er stur nach vorne. Wenn man sich bei ihm noch sehr viel hellere Haut hinzudachte und ein etwas anderes Gesicht, könnte man beinahe an Twillight denken. Jedenfalls soweit ich es verstanden hatte, denn ich hatte dieselbe Beziehung zu den Filmen, wie auch zu Milch, wenn ich zu viel davon hatte musste ich mich übergeben. Es stellte sich heraus, dass das derzeitige Thema in Biologie Krankheiten wie Demenz oder Krebs war, ein Thema, welches ich schon in der alten Schule hatte.
Als Ava gestern mein Auto gesehen hatte, hatte sie Mühen nicht gleich vor Lachen zusammenzubrechen. Sie fand die Tatsache mir als, laut Dr. Grayson, Selbstmordgefährdete ein Auto zu schenken. Wir hatten uns die ganze Fahrt darüber lustig gemacht.
»Geh vom Gas runter, nicht dass du noch mit hundert Sachen gegen den Baum fährst oder den Zug übersiehst.«, scherzte sie. Uns war durchaus bewusst, dass es gar nicht lustig war. Gestern war ein Tag gewesen, an dem ich mich wie früher gefühlt hatte, denn sonst lachte ich nie so viel, dass ich Bauchschmerzen bekam und sogar an den Rand fahren musste, um mich wieder ein zubekommen. Leider war sie wieder weg, aber nun lebten wir in der Nähe, also war es für uns ein Leichtes uns zu treffen.
Doch jetzt fühlte ich mich wieder nur wie eine leere Hülle. Ich wusste wie komisch es klang, es war aber die Wahrheit. Ich hatte eigentlich alles, wundervolle Eltern, ein Zuhause... aber dennoch konnte ich es einfach nicht vergessen. Vielleicht lag es daran, dass es noch nicht lange her war.
»Es würde einfach zu lange dauern all diese Krankheiten zu erklären, deswegen werden Sie nun mit Ihrem Tischnachbar links von Ihnen einen Vortrag ausarbeiten. Die Wahl des Themas ist dabei ganz Ihnen überlassen, dafür gebe ich Ihnen nur ein paar Minuten.« Vielleicht hatte Dr. Grayson doch recht, nun hegte ich wirklich den Wunsch mich aus dem Fenster zu stürzten, obwohl es bloß der erste Stock war. Ich rammte meine Nägel in die Handballen. Da würde ich ja lieber mit Ashley arbeiten, ich mochte sie irgendwie nicht wirklich, aber ich würde für die Note mit ihr arbeiten.
»Irgendwelche Ideen?«, fragte ich ohne ihn dabei anzusehen, ich wusste aber genau, dass er mit seinem Stift rumspielte, da mich dieser ungleiche Takt schon die ganze Zeit auf die Nerven ging.
»Vielleicht etwas mit Krebs.« Etwas mit Krebs, ich bewunderte seine Kunst mit Wörtern umzugehen. Was war auf einmal mit mir los? Ich regte mich doch sonst nie so auf.
»Was für einen? Lungen-, Brust-, Knochenkrebs, es gibt viele Möglichkeiten.«, meinte ich ganz wie er mit genervten Unterton. Es gab aber auch noch die Möglichkeit aus dem Fenster zu springen und wegzulaufen. Meine Mundwinkel zuckten ein wenig. Allein die Vorstellung mich in einer Sportart zu sehen war zum Schreien. Es geschah schon wieder oder eher immer noch. Egal, ich war dankbar nun meine eigentliche Seite, wenn auch nur für jetzt, zurückzuhaben.
»Such du dir was aus.«, antwortete er monoton. Wenn er mir schon so kam, wählte ich die Krätze, sie war angenehmer als er.
»Dann Tuberkulose, die kann auch tödlich sein.« Was redete ich da? Selbst ein simpler Schnupfen konnte unter Umständen tödlich sein. Oder auch ein simpler Gedanke, der einen dazu verleitete... Stopp, daran durfte ich jetzt nicht denken. Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten. Es war zu spät, um es verhindern zu können, aber ich tat mein Bestes, auch wenn ich wusste ich wäre zu schwach.
»Wieso nicht gleich Alkoholiker oder Drogenabhängigkeit? Es ist ebenfalls eine tödliche Krankheit.« Ich kniff die Lippen zusammen. Konzentrier dich!, zwang ich mich innerlich. Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter und versuchte endlich zu antworten.
»Du hast recht... aber du hast ihn gehört.«, sagte ich mit erstickender Stimme, in der Hoffnung er würde nichts merken. Ich hatte oft nach Dingen wie Depressionen, Suchtverhalten und vor allem Essstörungen im Internet gesucht, seit Dr. Grayson sie mir anhing. Deswegen wusste ich auch, dass es zwei Arten dieser, um es hart auszudrücken, 'Patienten' gab.
Einmal die, die alles verstecken wollten, als wären sie normal, vielleicht hatte Dr. Grayson recht und ich steckte in einer Depression, der Hacken an der Sache war nur, dass ich keinerlei absurden Vorstellungen hatte oder sonst etwas, ich war höchstens leicht depressiv. Die Zweite Gruppe wären dann die, die möglichst viel Aufmerksamkeit kriegen wollten, zum Bespiel durch das Ritzen. Damit meinte ich nicht die Krankheit an sich, denn sie war durchaus gefährlich, ich meinte damit die Leute, die ihre Wunden der ganzen Welt zeigten und sagten wie schlecht es ihnen ging. Meine Mom hatte mich einmal zu einer dieser Gruppentherapien geschickt. Ich erinnerte mich noch zu gut an diesen Tag, ich hätte mir am liebsten die Kugel gegeben.
»Amber, möchtest du mit uns über deine Probleme reden?«, hatte Dr. Grayson, der sich natürlich auch als Gruppentherapeut engagierte, das bleiche rothaarige Mädchen neben mir gefragt.
Ich konnte mich noch genau an die roten Striche erinnern, die ihre Arme zierten, davon einige auf der Pulsader. Ich wollte nicht respektlos oder fies sein, doch wenn ich mich schon auf diese Weise umbringen wollte, informierte ich mich zumindest, obwohl sie es wohl wissen müsste.
Falls sie es wieder versuchen sollte, sollte sie daran denken von oben nach unten zu schneiden, nicht von rechts nach links, das war oft etwas für die, die Mitleid wollten. Wie schon gesagt, es war nicht böse gemeint.
»Hi, ich bin Amber und bin gestern neunzehn Jahre alt geworden.«, sie strahlte mit einem falschen Grinsen in die Runde. Vielleicht wartete sie ja auf Glückwünsche. Sie gehörte definitiv zur Mitleidsgruppe und ließ alle die ein wirkliches Problem hatten somit lächerlich aussehen. Sie räusperte sich leise und fuhr fort:
»Als ich hier mit«, sie deutete auf ihre Arme. »Angefangen habe, war ich achtzehn. Meine Eltern haben mich misshandelt und...« Deswegen zog sie diese Scheiße ab? Ich kannte Leute, die wirklich misshandelt wurden. Sie besaß dafür viel zu viel Fröhlichkeit, außerdem hatte ich sie an ihrem IPhone spielen sehen und wessen Eltern, die einen hassten, kauften einem so etwas?
»Wir wünschen dir viel Glück, Amber.«, sprach Dr. Grayson. Ich seufzte beinahe schon, da man genau raushörte wie wenig es ihn interessierte. Wie hatte der Mann es bloß durch seine Abschlussprüfung geschafft?
»Kathrine, möchtest du deine Sorgen nicht mit uns teilen?«, fragte er mich mit seinen eisigen blauen Augen. Ich wollte eigentlich wütend protestieren, beschloss es jedoch mit der netten Art:
»Lieber nicht«, meinte ich trocken. Es fiel mir immer schwer vor ihm irgendeine Form des Respektes zu zeigen, er hatte mir ja auch nie welchen gegeben.
»Wieso denn nicht? Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht.« Ich seufzte leise und erhob mich von meinem Stuhl. Wenn ich widersprach, würde ich gegen eine Wand sprechen, er hätte immer wieder irgendwelche dummen Gegenargumente gefunden.
»Mein Name ist Kate... ich bin vor drei Monaten achtzehn geworden.« Ich betonte die Drei extra, es musste einfach sein. »Ich bin hier weil ich... ich schätze ich bin hier weil...« Ich konnte den Satz damals nicht beenden und sah deswegen panisch an die große Wanduhr, um festzustellen, dass es noch fast eine ganze Stunde war, die ich noch vor mir hatte.
»Deine Freundin Lucy Selbstmord begangen hat. Wie fühlst du dich?« Es war für mein Herz einen Stich gewesen. Ich fragte mich diesem Moment wie er bloß so kalt sein konnte. In meinen Augen bildeten sich Tränen. Ich war gegen meinen Willen dort und war nicht mehr als eine Lachnummer gewesen. Du bist Schuld., hatte ich ihre Worte in mir wiederhallen gehört. Ich ließ mich schnell auf meinen Stuhl nieder und fixierte meine Hände. Ich durfte nicht daran denken.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Tyler etwas genervt. Ich schreckte hoch und sah geradewegs in seine wirklich braunen Augen.
»Was?«, meinte ich aus reinen Reflexen. Ich musste mit diesen Tagträumen aufhören, obwohl ich mich nun wieder etwas beruhigt hatte. Er schnaufte leise auf.
»Gib mir deine Nummer, dann können wir das besser regeln.« Ich rechnete sowieso schon mit einer schlechten Note, immerhin harmonierten wir nun wirklich nicht miteinander. Ich zog schnell ein Stück Papier aus meinem Block und versuchte sie so gut es ging aus dem Gedächtnis zu schreiben.
Ich war in Gedanken immer noch in dieser Gruppentherapiestunde. Ich wurde danach nicht mehr aufgerufen und konnte mir die Probleme anderer anhören, nicht dass es schlimm war, eher im Gegenteil. Ein paar von ihnen glaubte ich, denn so etwas konnte man sich gar nicht ausdenken. Ich hätte sie gern noch einmal allein angesprochen, um ihnen helfen zu können, aber Dr. Grayson hatte es uns verboten.
Ich reichte ihm den Zettel, aber da bemerkte ich auch schon das Notenblatt in seiner Hand. Ich erkannte es sofort wieder, es war aus dem selbstgemachten Heft, welches Lucy mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte vermutlich eine Ewigkeit gebraucht, um all diese wunderschönen Lieder zu finden, doch dieses schleppte ich seitdem immer mit mir rum. Es war das Lied 'Let her go' von Passenger, wir hatten es beide geliebt, weshalb ich es auch nahezu ständig gespielt hatte.
»Du spielst?«
»Gib das her!«, meckerte ich und versuchte es ihm zu entreißen, doch er zog es rechtzeitig weg. Es ging ihn doch überhaupt nichts an.
»Wo war das Bitte?«, fragte er und begutachtete die Noten weiterhin. Das war doch reine Schikane! Als ob er die Noten wirklich lesen konnte, für mich waren sie damals auch Glyphen gewesen.
»Das ist meins, ich möchte es bitte zurück.«, flehte ich jetzt schon. Er grinste selbstzufrieden und lehnte sich etwas zurück. Ich versuchte ihm eine Gruppe zuzuordnen, aber es war schwierig. Für mich war er ein Arschloch, aber kein Sportler, dafür hatte er dann doch zu wenige Muskeln, auch wenn es ein Vorurteil war.
»William hat in seinem Keller gefühlte tausend Gitarren.«, meinte er, wobei ich einen leicht abwertenden Ton vernahm, und gab mir die Noten zurück. Warum sagte er mir das? Ich spielte sowieso nicht mehr. Wenn ich mich nicht irrte, müsste meine Gitarre in ihrem Koffer auf dem Dachboden liegen, das meinte jedenfalls Dad.
»Dein Vater?«, fragte ich desinteressiert und schob das Blatt sorgfältig zurück. Ich musste heute dringend auspacken, damit ich es wieder in die Mappe legen und diese ebenfalls auf den Dachboden bringen konnte.
»Nein, also welches Thema nehmen wir?« Mir war dieser plötzliche Themenwechsel keineswegs entgangen. Was hatte Nathan nochmal zu Ned gesagt? Versoffene Hure von Mutter, wie konnte er nur? Ich wusste nicht ob es stimmte, aber falls doch war es kein Grund es ihm auch noch unter die Nase zu reiben. Es war noch das Wort Ersatzmutter gefallen, also ging ich stark davon aus, dass die beiden adoptiert waren.
»Ned meinte gestern-«
»Er meint so Einiges. Also welches Thema?«, fragte er nun etwas härter. Ich beschloss das Thema zu belassen, es ging mich ja auch gar nichts an.
»Tuberkulose, der Rest wären für ihn wohl keine richtigen Krankheiten.«, meinte ich, wobei im nächsten Moment schon die Pausenglocke ertönte.
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