22
Ich konnte es immer noch nicht glauben. Nicht nur dass wir nach London fuhren, auch die Gesamtsituation. Es kam mir immer noch wie ein Traum vor, aus dem ich irgendwann aufwachen und feststellen müsste, dass nichts von alldem passiert war. Ich hatte Lucys Eltern gleich gestern zurückgeschrieben, morgen sollte es dann soweit sein, jedoch wollten wir schon heute losfahren, denn der Plan war voll. Ich musste mich unbedingt mit Jonah, Grace und Nick treffen, sie waren vollkommen aus dem Häuschen, als sie es gehört hatten. Dann kam jedoch etwas worauf ich mich nicht wirklich freute. Mom und Dad meinten es wäre gut, wenn ich ein letztes Mal mit Dr. Grayson sprechen würde. Ich musste natürlich zustimmen, sonst hätten sie mich auf Grund der letzten Wochen nicht fahren lassen. Sie hatten zwar gemerkt, dass sich etwas verändert hatte, seitdem ich gestern Abend nach Hause gekommen war, aber sie glaubten es noch nicht so recht. Ich verstand es durchaus, aber wenn mir dieser Teufel in Menschengestalt wieder solche Dinge einredete, würde ich mit bloßen Händen sein Büro zerstören, das schwor ich. Er würde es nicht noch einmal schaffen mich so runterzuziehen.
Ich sah schnell aus meinem Fenster, weil Tyler extra zu mir kommen wollte, um mir mit den Sachen zu helfen. Vielleicht sollte ich die Gitarre wirklich nicht mitnehmen, aber ich konnte mich nicht mit allen bei Grace treffen, wenn ich sie nicht dabei hatte. Er kam gerade um die Ecke, mein Herz begann sofort zu rasen als ich ihn sah. War das kindisch? Lucy hätte wohl sofort Kotzgeräusche gemacht, wenn sie mich so gesehen hätte. Ihre Eltern hatten mir in ihrer Antwort gesagt was in Lucys Zimmer gelegen hat, es war ein Brief und ein schwerer wohl dazu. Ich zog scharf die Luft ein, es war an der Zeit. Selbst wenn ich vielleicht nicht bereit war, ich musste es einfach wissen. Mit der Gitarre an den Rücken geschnallt und meinem Koffer in der linken Hand, in dem sich auch Lucys silberne Kette befand, lief ich schnell die Treppen runter, wobei mich Dads missbilligender Blick traf. Ich ahnte bereits, dass es nichts Gutes sein konnte, gerade als ich Mom neben ihm stehen sah.
»Kathrine West, was ist das?«, fragte mich Dad ganz aufgebracht, als er Tylers Zigarette aus meiner Jackentasche zog. Ich hatte sie vollkommen vergessen. Sie war noch von Ashleys Party. Wieso hatte ich sie nicht einfach weggeschmissen? Mein Herz begann sofort aus Angst zu rasen. Dieser scheiß Raucher!
»Das ist nicht meine.«, versuchte ich ihm zu versichern. Das war doch absolut unmöglich, man hätte es gerochen.
»Wir machen uns Sorgen.«, mischte Mom sich ein, aber man merkte, dass sie mir glaubte. Ich seufzte leise aus, wobei ich das rettende Klopfen an der Tür vernahm. Danke Tyler, auch wenn das deine Schuld ist., dachte ich leise vor mich hin.
»Dad, ein Raucher braucht ein Feuerzeug, ich schwöre dir dass es nicht meine ist. Wenn denn fange ich schon mit richtig harten Drogen an. Aber ich muss jetzt echt los.«, versuchte ich die Situation mit einem schlechten Witz aufzulockern. Sie sahen mich noch immer ganz perplex an, aber ich umarmte sie bereits zum Abschied und ging dann zur Tür. Als meine Eltern gehört hatten, dass Tyler mitkommen würde, hatten sie es mir sofort erlaubt und mir sogar noch ein paar Pfund gegeben. Wenigstens mochten sie ihn, es hätte auch einer von diesen typischen Konflikten werden können, in denen die Eltern versuchten den Freund ihrer Tochter zu vergraulen. Ava wusste noch nichts davon, sie war zurzeit im Prüfungsstress.
Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, gab er mir einen flüchtigen Kuss, wobei er mir gegen meinen Willen den Koffer aus der Hand nahm, jedoch war mir etwas ganz anderes aufgefallen. Ich roch kein Nikotin. Auch gestern hatte ich das nicht, es war mir nur dank der Nervosität nicht aufgefallen. Hatte er etwa wirklich aufgehört?
»Du hast mir noch gar nichts von deinem Treffen mit Christoph erzählt.«, sagte ich, als er unsere Koffer mit samt meiner Gitarre in den Kofferraum steckte. Ich sollte vielleicht langsam anfangen und ihn nachher wegen der Zigaretten fragen. Ich wusste ohnehin, dass meine Eltern uns aus dem Küchenfenster hindurch genau beobachteten.
»Ja... ich war ziemlich überrascht als er von dir erzählt hat. Die Karte kannst du übrigens behalten.«, antwortete er mir endlich, als ich den Motor gestartet hatte. Hatte er sie mir etwa absichtlich gegeben? Das konnte ich mir bei ihm nicht wirklich vorstellen.
»Wusstest du, dass es in Wahrheit dein Block war?«, fragte ich ganz automatisch, während wir mein Zuhause verließen. Ich wollte gar nicht wissen was Mom und Dad sich nun wohl ausdachten, wenigstens machten sie sich momentan nicht mehr ganz so viele Sorgen, seit gestern hielten sie sich in Maßen.
»Nein, mir ist es erst aufgefallen, als ich zuhause war. Außerdem hat es ausgesehen als hättest du Zuckungen, als du die Sachen runtergeworfen hast. Nach seinem Anruf habe ich es dann verstanden.« Ich würde wohl keine gute Spionin abgeben, aber das war mir ziemlich egal, ich hatte mein Ziel immerhin erreicht.
»Wie war das Treffen?«, fragte ich und warf ihm einen flüchtigen Blick zu, den er nicht erwiderte, da er monoton geradeaus auf die Straße sah.
»Es war komisch, immerhin habe ich mich ständig gefragt wer er ist und wer er sein mag, dann stand er plötzlich vor mir... Ich habe ihn vielleicht irgendwie sogar für ein Vorbild gehalten, da ich mein Hobby ja von ihm habe, aber... na ja er ist nicht der, den ich mir erhofft hatte.«, erklärte er. Ich seufzte ganz leise, jedoch nicht aus Mitleid, das konnte ich ihm nicht antun. Aber waren es nicht meist unsere Vorbilder, die uns enttäuschten? Nicht jedes natürlich, aber viele. Ich hatte mir auch mehr unter Tylers echtem Vater vorgestellt, doch es gab solche Happy Ends nicht. Immerhin war es klar, dass die beiden sich nicht im Arm liegen würden, dafür war Christoph zu lange weg gewesen.
»Und jetzt? Ich meine wollt ihr euch noch einmal treffen?«, hackte ich nach, wobei er leise auflachte.
»Ich habe alles erfahren was ich wissen wollte Kate. Er hat über meine Mutter geredet, wie sie sich kennengelernt haben... wie sie ihn mit mir verlassen hat. Das musste ich erstmal selbst verdauen. Ich bin ehrlich, ich bin froh weg zu sein, lange hätte ich es dort wohl nicht ausgehalten.« Für mich war es schwierig zu verstehen, immerhin war ich in einer heilen Familie aufgewachsen, aber ich konnte in etwa nachvollziehen wie er sich fühlte. Es war sein Geheimnis gewesen, auf das er nun endlich eine Antwort gefunden hatte. Wollte er deswegen mit mir nach London? Um es wiedergutzumachen? Nein, er war nicht der Typ dafür.
»Darf ich fragen was es war?«, erkundigte ich mich. Er zog scharf die Luft ein und warf mir einen Blick zu.
»Typische Geschlechterrollen, sie war zuhause, er war nur im Studio, ich erzähle dir vielleicht später alles, du solltest dich auf die Straße konzentrieren.« Darunter konnte man sich einiges vorstellen. Ich hasste es in meine Rolle als Frau gezwungen zu werden. Einem wurde gesagt was man zu tun und zu lassen hatte, doch wer bestimmte das? Wer sagte, dass Frauen sich für Mode und Schminke und nicht für Autos interessieren sollten? Wie sollte man denn so jemals sich selbst finden, wenn man stets dazu gezwungen wurde so zu sein wie jeder andere? Heute war es längst nicht mehr so schlimm, dafür gewannen aber andere Dinge die Oberhand. Es war normal dünn zu sein, also machten viele die dickeren Menschen fertig. Wo war da die Gerechtigkeit? Es veränderte den Menschen doch nicht.
Es war normal bildschön zu sein, wobei man sagen musste dass Schönheit im Auge des Betrachters lag. Was tat man jedoch, wenn man nur von Menschen umgeben war, die einen hässlich nannten? Ein paar hatten das bemerkenswerte Talent so selbstbewusst zu sein, dass es ihnen nichts ausmachte, doch wieder andere begannen sich selbst dafür zu hassen, obwohl sie in Wahrheit wundervoll waren.
Es war normal in einer guten Familie zu leben, die gut verdiente. Wenn es nicht so war, wurde man armes Kind genannt oder bekam Wörter wie mutterloses Kind an den Kopf geworfen, obwohl die Mutter des Kindes an einem schlimmen Unfall oder eine Krankheit gestorben war.
Durch diese Gründe entstanden oft Depressionen, in denen die Person begann sich selbst zu hassen und die schlimmsten Krankheiten wie Essstörungen oder Selbsthass zu entwickeln und sich manchmal sogar selbst verletzte. Denn so war unsere Welt geworden. Streben nach Perfektion hatte die Oberhand gewonnen. Doch wer bestimmte was perfekt war? Es waren die Menschen, die durch Photoshop in den Zeitschriften posierten. Hatten sie Pickel, dicke Beine oder waren 'hässlich'? Nein, sie waren es nie. Doch mit welchem Recht? Also, wo war da die Gerechtigkeit oder eher Menschlichkeit geblieben? Mit welchem Recht machten einige von uns andere fertig? Denn eigentlich waren wir doch alle gleich, wir wollten leben und uns selbst dabei finden.
Als wir nach gefühlt kurzer Zeit in London ankamen, sah Tyler sich, während ich so gut es ging durch den Verkehr fuhr, voller Begierde um. Kaum zu fassen, dass er wirklich noch nicht hier war. Für mich war es nicht wirklich mehr etwas Besonderes, aber ich wusste es natürlich noch zu schätzen, obwohl ich seit meiner Geburt hier gelebt hatte.
»Ich muss noch einmal kurz zu Dr. Grayson bevor wir zu den anderen fahren. Es kann vielleicht etwas dauern. Wenn du dein Handy mitnimmst kannst du ein paar Fotos machen und ich hole dich ab.« Seine Praxis war in der Nähe von Big Ben, da würde sich Tyler bestimmt stundenlang beschäftigen können.
»Gut, schreib mich an wenn du fertig bist... und bitte zerstöre den Laden erst, wenn ich dabei bin.«, setzte er noch schnell hinzu, als ich auf dem Parkplatz neben der Praxis parkte. Ich hatte ihm die Fahrt über von diversen Besuchen bei Dr. Grayson erzählt, er hielt ihn übrigens auch für einen Psychopaten.
»Du bringst mich auf echt gut Ideen, weißt du das?«, fragte ich grinsend und stellte den Motor ab.
»Also wenn du willst komme ich mit und warte, wir bleiben ja noch etwas in London.« Ich lachte etwas, wieso auch nicht? Man sollte es eher als Gelegenheit nehmen, denn wenn Dr. Grayson mir wieder Dinge wie Schizophrenie an den Kopf warf, konnte er mir nichts anhaben, da es geistige Unzurechnungsfähigkeit war. Das Problem war nur, dass ich vielleicht in eine Klinik kommen könnte.
»Guten Tag Ms. Jones, ich habe einen Termin.«, ratterte ich vor der Sekretärin meinen Text herunter. Sie nickte wie immer und deutete mir sein Büro zu betreten. Ich fragte mich wirklich was wohl passieren würde. Vielleicht erkannte er ja, dass ich mich verändert hatte, vielleicht aber auch nicht. Als Psychiater hatte man eben viel Spielraum, den viele ausnutzten. Doch genau das war falsch, denn viel Macht in den Händen von falschen Menschen konnte erhebliche Auswirkungen haben.
»Guten Tag Kathrine.«, begrüßte er mich ganz höflich von seinem Sessel aus. Es stank noch mehr nach Kaffee als ich es in Erinnerung hatte, außerdem schienen sich die Auszeichnung vermehrt zu haben. Natürlich musste er damit angeben. Ich konnte kaum beschreiben wie viel Hass ich für ihn empfand.
»Wir sollten gleich zur Sache kommen. Mein Freund wartet und wir haben besseres zu tun.«, erwiderte ich kalt und ließ mich auf den Stuhl nieder. Ich wusste gar nicht, dass ich wirklich so mies sein konnte wenn ich wollte, aber hatte er es denn anders verdient? Er räusperte sich leise und murmelte ein leises natürlich, wobei er meine Akten beiseite legte.
»Wie ist es dir ergangen?«, er fragte die typischen Fragen, die ihn eigentlich nicht im Geringsten interessierten. Ich überlegte mir bereits eine möglichst reservierte Antwort.
»Es gab Höhen und Tiefen.«, meinte ich und legte ein Bein auf das andere.
»Was ist mit den Tiefen?« Ich beschloss meinen bösen Gedanken einfach freien Lauf zu lassen, denn in Wahrheit war es egal welche Antworten ich ihm gab, er hatte sein Urteil bereits jetzt gefällt. Gerade deswegen hatte ich Marlin auch so geschätzt, sie hatte mich nie wie das gebrochene Mädchen behandelt, dessen Freundin einfach so gegangen war ohne ein Wort zu sagen. Ich schüttelte ganz benommen den Kopf. Es war nicht die richtige Zeit dafür.
»Was verstehen sie unter Tiefen?«, versuchte ich meinen Plan zu verwirklichen. Er lachte leise auf und lehnte sich nach hinten, wobei er sich durch sein ergrautes Haar fuhr.
»Schlimme Zeiten selbstverständlich«, meinte er. Noch hatte ich ihn nicht. Ich musste mir mehr Mühe geben.
»Warum sind Sie Psychiater geworden? Ich meine wenn Sie unbedingt mehr über die Probleme anderer erfahren wollen, hätten Sie auch Friseur werden können.«, baute ich einen Witz ein. Er fraß ihn sogar und beugte sich nun etwas vor. War er nervös? Sonst blieb er fast immer still sitzen.
»Die Psyche der Menschen kann so faszinierend sein Kathrine. Gerade du solltest das wissen, deine Psyche hat sich nach Lucys grundlosen Selbstmord auch verändert.« Es war ein Köder. Ein Köder, der mich sonst in Tränen ausbrechen ließ, aber es war ein Kampf, den ich nicht verlieren durfte. Zum ersten Mal spürte ich die Stärke in mir, da ich nicht einmal mit den Tränen kämpfen musste, sie kamen nicht einmal. Es tat schon weh, aber nicht mehr so stark wie früher. War es überhaupt schlecht zu weinen? Nein, das war es nie, ich hatte es nur so empfunden, doch das war falsch. Selbst Kämpfer weinten, also auch Lucy, denn das was sie getan hatte war nie grundlos gewesen. Genau das behauptete ich, obwohl es keinerlei Beweise gab, nur einen nämlich, meine eigene Zuversicht.
»Da gebe ich Ihnen durchaus Recht, sie ist vielseitig und kann durch diverse Gründe in Stücke zerschlagen werden, genau wie bei Ihnen. Ihre Frau verließ Sie, Ihr Sohn hasst Sie, genau wie Ihre gesamte Familie. Es muss schlimm sein zu wissen dass niemand zu Ihrer Beerdigung kommen würde.« Ich konnte selbst kaum glauben was ich da eben gesagt hatte. Es war fast noch schlimmer als ein Schlag ins Gesicht, es war genau das was ich immer sagen wollte, denn es stimmte. Dr. Grayson hatte mit seiner kalten Art dafür gesorgt, dass er allein war auf dieser riesigen Welt mit ungefähr sieben Milliarden Menschen. Ich hatte mich einmal genauso gefühlt, doch ich war niemals allein gewesen. Ich hatte meine Familie, Jonah, Nick, Grace und Lucy, die in meinem Herzen immer anwesend sein würde... Moment, was war das? Hatte ich mir gerade selbst Mut gemacht?
»Mein Sohn ist ausgezogen als er achtzehn war.«, hörte ich ihn auf einmal ganz leise murmeln. Ich war noch immer ganz perplex durch meine Gedanken. Genau so war ich immer gewesen und nicht anders. Ich hatte es fast geschafft.
»Warum hat er Sie gehasst?«, tauschte ich nun wie zuvor geplant die Rollen. Er war reingefallen. Ich musste zugeben, dass ich hier nicht wirklich etwas Gutes tat, aber ich versuchte etwas zu beweisen.
»Ich hatte nie Zeit... er war im Schultheater, ich konnte zu nicht einer seiner Vorstellungen kommen. Ich wollte, aber die Arbeit hielt mich auf, dafür hasste er mich, glaube ich, am meisten. Aber was sollte ich denn tun? Seine Mutter konnte nichts zahlen, sie war Verkäuferin und mein Gehalt reichte damals kaum, ich konnte mir nicht einfach so frei nehmen, auch wenn ich es zu gern getan hätte.« Ich versuchte einen möglichst mitfühlenden Blick aufzusetzen, denn irgendwie empfand ich sogar wirklich Mitleid für ihn, obwohl ich seinen Sohn auch verstand. Wir wollten doch alle nur geliebt werden. Sein Sohn dachte bestimmt sein Vater würde ihn nicht lieben, denn Kinder waren leicht zu enttäuschen, aber man gewann bei manchen auch schnell das Vertrauen.
»Haben Sie ihn jemals angerufen seitdem er weg ist?«, fragte ich ihn, wobei er mich traurig ansah. Ich versuchte das Gefühl der Macht zu unterdrücken, es war nicht richtig auch wenn er es verdient hätte. Eigentlich hätte ich wirklich ein Recht darauf ihm das anzutun was er mir auch angetan hatte, aber ich war besser als er.
»Nein... er mich auch nicht, ich weiß nicht einmal genau wo er ist. Als er weg war, lag nur ein Zettel mit seiner Nummer auf dem Tisch. Sein Zimmer war noch wie vorher, aber sein Bankkonto war leer.« Er musste es wirklich verbockt haben. Eigentlich hätte Tyler das hören müssen, aber Psychiater mussten sich an die Schweigepflicht halten, auch wenn mir noch der nötige Collegeabschluss dazu fehlte.
»Dann rufen Sie ihn doch endlich an. Wenn er Ihnen die Nummer hinterlassen hat, wartet er bestimmt nur auf Ihren Anruf.«, redete ich auf ihn ein, wobei ich eine einzige Träne auf seiner Wange sehen konnte. Ich hatte ihn, ich hatte es geschafft die Gefühle meines alten, eigentlich gefühlslosen, Psychiaters zu knacken, doch nun war es wirklich Zeit zu gehen, ich wollte nicht bei seinem Ausbruch dabei sein.
»Gut, unsere Zeit ist um, ich muss jetzt auch echt los, auf Wiedersehen Dr. Grayson.<< Hoffentlich war es ein Abschied für ein Leben lang. Ich wollte ihn niemals wiedersehen. Das hier war für mich der Abschluss gewesen. Der Abschluss, der mir geholfen hatte wieder die Alte zu werden. Ich spürte, dass ich mein Ziel fast erreicht hatte.
»Komm«, sagte ich hastig zu Tyler und spurtete durch das Wartezimmer.
»Was ist?«, fragte er ganz verblüfft und sprang schnell auf, um mir zu folgen.
»Ich habe die Psyche meines Psychiaters geknackt, reicht das erstmal? Wir müssen hier weg bevor er seinen Ausbruch kriegt.«, erklärte ich schnell und rannte mit ihm die Treppen hinunter. Endlich hier weg zu sein war ein befreiendes Gefühl, es war ein weiterer Schritt für mich.
»Du hast sein Büro also doch nicht auseinander genommen?«, fragte Tyler mich, als ich auf die Hauptstraße fuhr. Ich konnte ein Grinsen nicht verbergen. Es wäre natürlich lustig gewesen all diese scheußlichen Auszeichnungen zu zerstören, aber dann hätte ich nicht so abschließen können. Denn eigentlich war Dr. Grayson fast genauso gebrochen wie ich es vor drei Monaten war, genau deswegen war er auch immer so gewesen, es war der Hass über sich selbst und die Trauer über sein verlorenen Sohn, die aus ihm sprach. Ich hoffte dennoch für ihn, dass die beiden sich wieder vertrugen, auch wenn ich es nicht musste, es war einfach menschlich.
»Nein, ich habe die Rollen getauscht.«, erklärte ich ihm, wobei er mich mit großen Augen ansah.
»Was? Du hättest es aufnehmen sollen.«, sagte er schnell, wobei ich leise lachte. Vielleicht hatte er Recht, aber es wäre nicht richtig gewesen.
»Er hat geweint Tyler, das hat mir gereicht. Vielleicht sieht er ja jetzt endlich ein wie er sich gegenüber seiner Patienten verhalten sollte.«, erklärte ich mit gesenkter Stimme. Aber vielleicht hatten meine Worte ihn wirklich zum Umdenken gebracht.
Als ich bei Grace parkte, begrüßte sie mich schon mit einer herzlichen Umarmung an der Tür. Ich hatte ihren wilden Blondschopf wirklich vermisst. Wir mussten unbedingt reden, auch wenn wir nicht lange bleiben konnten, da wir gleich morgen früh zu Lucy fahren würden und wir hundemüde waren.
»Meine Eltern sind weg, lasst die Schuhe an, kommt lieber ins Wohnzimmer.«, sagte sie ganz aufgeregt und zog mich an meiner Hand hinterher. So war es immer gewesen, sie schien über den Verlust hinweggekommen zu sein. Ich warf Tyler über die Schulter hinweg ein Lächeln zu, welches er sofort erwiderte und uns ins Wohnzimmer folgte.
»Ist es ein Phantom?«, scherzte Nick von dem alten Ledersessel aus, der wie ein drittes Augen von ihrem Vater beschützt wurde. Ich hatte keine Ahnung wie alt das Ding wohl schon war, aber wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen es wäre aus der Kreidezeit.
»Ein Phantom mit der Kraft dir so schnell es geht den Mittelfinger zu zeigen.«, entgegnete ich und schloss ihn in die Arme.
»Da ist aber jemand bissig.«, mischte sich Jonah grinsend ein und stellte etwas zu trinken auf den Tisch. Mir wurde wirklich erst jetzt richtig bewusst, wie sehr ich die Drei doch vermisst hatte. Die Zeit in Bristol war weitergelaufen, doch hier schien sie fast stehengeblieben zu sein. Als ich Jonah ebenfalls zur Begrüßung umarmte und Tyler vorgestellt hatte, wobei sie mir alle grinsende Blicke zugeworfen hatten, setzte ich mich mit ihm auf das Sofa und sah in die Runde. Früher war es entspannter gewesen, jetzt eher reserviert. Auch wenn es nicht so aussehen mochte, die vergangenen Monate hatten uns voneinander entfremdet. Ich hatte diesen Abstand wirklich gebraucht, aber wir hatten es immer noch geschafft Freunde zu bleiben. Denn genau das war wahre Freundschaft, man musste sich nicht jeden Tag sehen, miteinander schreiben oder telefonieren. Wenn man sich selten sah, hielt man die Zeit für ein Geschenk, da sie keine Selbstverständlichkeit war. Genau das hatte ich begriffen als sie gestorben war. Es gab nichts Kostbareres als Zeit, denn jede Sekunde war einmalig, man konnte sie nicht wiederholen. Ich hatte es für eine Selbstverständlichkeit gehalten sie jeden Tag zu sehen, doch als ich sie dann verloren hatte wurde es mir bewusst.
»Wie geht es euch?«, brach ich die Stille nach einer Weile.
»Ziemlich gut eigentlich, es ist nur komisch euch beide nicht mehr dabei zu haben. Was ist mit dir?«, antwortete Grace mir. Das war eine ziemlich gute Frage. Wie ging es mir? Ich würde sagen, dass ich meine Gefühle langsam unter Kontrolle bekommen hatte, aber sich meine Denkweise seitdem ich umziehen musste verändert hatte. Es war nicht schlecht würde ich meinen.
»Es war schon schlimmer. Ich meine wenn ich daran denke wie es vor drei Monaten war, ist es besser geworden.«, versuchte ich kurz zu erklären, da ich wirklich nicht näher darauf eingehen wollte. Ich hasste es wenn Leute mit ihrem Leid hausieren gingen. Man zog nur unnötig Aufmerksamkeit auf sich, obwohl viele es sogar wollten.
»Spielst du wieder?«, fragte mich Jonah und deutete auf den alten braunen Lederkoffer neben mir. Ich konnte nur lächeln.
»Ich habe letztens wieder angefangen.«, gab ich leise zu. Ich musste mehr dazu stehen, denn eigentlich war es eine der besten Entscheidungen, die ich hätte treffen können, da mir das Spielen dabei half meine eigenen Gefühle zu verarbeiten. Es hörte sich wirklich blöd an, aber jeder der selbst spielte und sein Instrument liebte wusste wovon ich sprach.
»Wie sieht es mit 'Let her go' aus?«, stellte er mir die nächste Frage. Ich konnte nur schwer schlucken. Ich hatte das Heft von ihr hervorgesucht, aber ich hatte mich nur an die Lieder gehalten, die am wenigsten für mich aussagten, wovon es wirklich wenige gab. 'Let her go' stand ganz oben auf meiner Liste, die ich mir im Kopf gemacht hatte. Ich hatte vor es irgendwann wieder zu spielen, aber ich wusste worauf Jonah hinaus wollte.
»Ich habe es noch nicht gespielt.«, erwiderte ich, wobei er leise in sich hinein lachte.
»Na dann wäre jetzt wohl der richtige Moment, findest du nicht?«, antwortete Grace für ihn. Ich wusste nur zu gut, dass dies keine Bitte war. Mein Atem begann zu zittern. Sie hatte absolut Recht, es war der richtige Moment.
»Meinetwegen«, murmelte ich leise vor mich hin und quälte mir ein kleines Lächeln für Tyler raus, der mich prüfend ansah, als ich die Gitarre aus ihrer Gefangenschaft befreiten. Ich umfasste die Gitarre mit schlappen Händen. War ich bereit? Nein, das war ich nicht, aber ich musste diesen Schritt wagen. Viele konnten nicht verstehen warum mir gerade Lieder solche Probleme machten, aber es war eigentlich ganz simpel. Lieder konnten solche unglaublichen Gefühle ausdrücken, aber man verband mit ihnen auch Erinnerungen. So war es auch bei mir. Lucy und ich hatten es so oft gehört, doch es war für uns eines dieser Lieder, die man problemlos mehrmals hintereinander hören konnte. Mit kalten Händen begann ich ganz sanft über die Saiten zu zupfen. Man musste härter an ihnen ziehen, aber sanft gespielt klang es fast noch schöner. Ich spürte wie mich die Erinnerungen überkamen. Sei es das Streichen ihres Zimmers, das Konzert oder sogar mein erster Schultag nach ihrem Tod. Ich befreite mich immer mehr, doch war ich bereit dazu endlich die Wahrheit zu erfahren? Es nervte, mir ständig dieselbe Frage stellen zu müssen, aber was wenn die Wahrheit mich zerstörte? Ich spielte sicher in den Refrain ein, ihre Stimme ertönte in meinem Kopf. Wie sie einfach nur da saß und grinsend mitsang. Ich schloss die Augen, da ich das allzu bekannte Brennen spürte. Es war richtig sich an diese schönen Momente zu erinnern, sie machten einen stärkerer als die schlimmen, da diese einen nur schwächten.
Die Trauer war wie ein ewiger Kampf. Man flehte um Erholung, doch man musste sie sich verdienen. Jede Entscheidung konnte ein Fehltritt sein, doch so war das Leben, nur das diese Fehler einen während der Trauer noch mehr berührten. Man warf sich so viele Lügen vor, was nur bewies dass der größte Feind man selbst war. Es gab zwei Stimmen im Kopf, die eine laut, die andere still, letzteres war sein wirkliches Ich, ersteres die Trauer vermischt mit Hass und Wut auf sich selbst. Genau dort entstand dieser fürchterliche Kampf, man bekam oft ein Schwert ins Herz gerammt, aber man durfte nicht aufgeben, denn dann verlor man die stille Stimme im Kopf, die einen auszeichnete. Ich hatte meine fast verloren, doch nun schien sie lauter als jemals zuvor zu sein. Ich wollte leben.
Nach ein paar vergangenen Stunden saßen wir wieder in meinem Auto, jedoch war ich aus Müdigkeit auf dem Beifahrersitz, er musste mir jedoch erstmal seinen Führerschein zeigen bevor ich ihm den Schlüssel gab. Ich konnte mir immernoch kaum glauben, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Es war eine weitere Sache, die ich von meiner Liste streichen konnte.
»Willst du jetzt darüber reden?«, fragte ich ihn und warf ihm einen flüchtigen Blick vom Beifahrersitz aus zu, er wusste, dass ich auf sein echten Eltern hinaus wollte, gerade glücklich schien er aber nicht darüber zu sein.
»Meine Mutter war... na ja sagen wir es so, ihre Kinder waren eher Unfälle, sie brauchte das Geld, wenn du verstehst. Als Christoph erfuhr, dass sie schwanger von ihm war, ist er natürlich sofort zu ihr gezogen. Wenn du mich fragst stimmt das nicht, er ist nicht der Typ für Verantwortung.«, erklärte er und hielt kurz inne, um sich weiter auf die Straße konzentrieren zu können. Ich sah auf meine Hände. Hatte Nathan nicht an meinem ersten Tag so etwas in der Art zu Ned gesagt? Ich erinnerte mich noch genau daran, als er ihn „Sohn einer versoffenen Hure" genannt hatte.
»Wusstest du was sie ist?«, fragte ich auf einmal ganz leise ohne ihn dabei aufzusehen.
»Ja natürlich, Ned wusste es auch, obwohl er erst vier war, Sophie sagen wir es irgendwann.«, antwortete er und fuhr in die Einfahrt des kleinen Hotels, in dem wir für ein paar Nächte bleiben würden. Sophie würde es gar nicht verstehen können, wenn man es ihr jetzt erzählte. Es wunderte mich ohnehin, dass Ned es damals verstanden hatte, aber ich konnte mich nur schwer in die Lage hineinversetzen.
»Rauchst du deswegen nicht mehr?«, sprach ich auf einmal, da mir diese Frage schon seit heute morgen im Kopf steckte. Ich hatte in Christophs Studio definitiv diesen ekelhaften Qualm gerochen.
»In etwa ja, es war vor einer Woche als die Karte ankam. Bevor du sie hattest, hat sie nach Zigarren gestunken. Ich habe sie etwas nach draußen gepackt und sie dann in meinen Block gelegt, weil Ned mich darauf angesprochen hatte. Ich denke das war der Grund, ich hätte es ja liebend gern weitergemacht, um mir deine Kommentare anzuhören, aber das wars mir nicht wert.« Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht, wobei ich Christoph innerlich danken musste. Hätte er keine geraucht während er die Karte geschrieben hatte, wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen. Ich wusste dass er jeder Zeit wieder anfangen konnte, immerhin war es erst eine Woche her, aber ich wusste, dass er es ernst meinte.
Als wir das Hotelzimmer betraten, wurde mir erst richtig bewusst was morgen passieren würde. Ich wusste nicht genau was, vielleicht bereitete mir genau das auch eine solche Angst, die Ungewissheit. Ich konnte nicht aufhören mir darüber immer und immer wieder meinen Kopf zu zerbrechen. Warum schrieb Lucy einen Brief an mich und ließ ihn einfach liegen? Sofort schossen die Bilder wieder in meinen Kopf, wie sie da lag mit blauen Lippen und blasser Haut. Ich musste es vergessen. Ich durfte nicht daran denken. Aber warum war sie gesprungen? Sie hätte doch mit mir über alles reden können.
»Du bekommst noch graue Haare, mach' dir keine Gedanken, morgen sind wir schlauer.«, wollte mich Tyler beruhigen und setzte sich neben mich. Ich wusste, dass er Recht hatte, doch wie sollte ich das Denken einstellen? Morgen bekam ich vielleicht endlich meine Antworten.
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Das war das letzte Kapitel vor der Lösung. An dieser Stelle würde mich auch wirklich mal eure Theorien, aber auch Meinungen zu dem Buch interessieren, weil es ja leider fast zu Ende ist.
Außerdem schreibe ich momentan eine kleine Danksagung und wollte fragen ob noch irgendwer Fragen hat, sie können natürlich auch nach dem letzten Kapitel geschrieben werden. :)
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