17
»Du konntest meine Frage noch nicht beantworten.«, sagte Tyler auf einmal, während sein jüngerer Bruder auf sein Handy starrte. Er meinte die Brückengeschichte. Ich wollte ihm vorhin wirklich die Wahrheit erzählen, doch nun lag sie mir wie ein Stein im Magen. Es war vielleicht noch zu früh, um ihm diese Kate zu zeigen, deswegen setzte ich ein gefälschtes Lächeln auf und sah zu dem Gebäude vor uns. Ich hasste es lügen zu müssen.
»Es ist bescheuert, glaub mir.«, wollte ich zuerst versuchen ihn abzuwimmeln, doch wie konnte ich nur daran denken, dass er lockerlassen würde?
»Glaub' mir, ich habe heute schon viele bescheuerte Dinge gehört.«, gab er von sich und nickte zu Ned. Daran war rein gar nichts bescheuert. Er konnte ja nichts dafür, dass Nathan so ein feiges Arschloch war, welches sich nur an jüngere herantraute. Ich zog tief die Luft ein und suchte nach einer passenden Lüge. Ich hasste mich dafür, doch ich konnte es einfach nicht aussprechen. Diese paar Worte konnten in mir Einiges auslösen, wie ich in den letzten Monaten erfahren hatte. Ich nahm mir fest vor ihm die Wahrheit irgendwann zu sagen, als ich begann zu sprechen:
»Du wolltest es hören. Als Kind habe ich so einen Film gesehen, keine Ahnung mehr wie er heißt, ich glaube es war 'Die Brücke nach Therabitia, jedenfalls ist doch jemand durch eine Brücke gestorben, als Kind nimmt man so etwas vielleicht viel krasser auf.«
Ich betrat die Schule, wie eigentlich jeden Morgen, doch nun war es anders. Sie wussten es alle, selbst die, die kein Facebook hatten, wussten es von ihren Freunden. Ich hätte nie gedacht, dass es wirklich so die Runde machen würde. Überall spürte ich die Blicke auf mir ruhen, ich hätte nie erwartet, dass es wirklich so schlimm werden würde. Aber hatten sie nichts Besseres zu tun als über mich zu reden? Es gab weitaus wichtigere Themen, zum Beispiel das was momentan in der Welt vorging. Ich richtete meinen Blick geradeaus, es gab Schlimmeres, das wusste ich zu genüge. Ich war nicht wütend auf Tyler, sein Handeln war richtig, aber dennoch erfüllte es mich mit Schmerz, da ich vermutlich wusste, dass wir nicht mehr miteinander reden können. Wie konnte ich auch glauben, dass meine Lüge keine Konsequenz hatte?
Als ich die Klasse erreicht hatte, zeigte sich das nächste Problem, wir waren Sitznachbarn und es war Bio, wir mussten also weiter am Vortrag arbeiten. Wie sollte ich ihm nur in die Augen sehen? Ich biss die Zähne zusammen, es gab keinen anderen Weg. Ashley warf mir sofort einen wölfischen Blick zu, dem ich geschickt auswich, wie auch ihrer Tasche, die sie mir extra in den Weg gestoßen hatte, das war jedoch nicht das Schlimmste, denn sie hatte es geschafft. Mein Leben lag erneut in Trümmern vor mir. Die letzte Woche fühlte sich an als wäre sie Jahre her, obwohl in ihr so viel passiert war, denn ich hatte wieder gelernt was es hieß zu leben, obwohl ich wusste wie gravierend, aber immer noch klein der Unterschied zwischen Leben und Tod war, denn es reichte ein Fehltritt, um zu entscheiden.
Ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz, wobei ich versuchte Tyler nicht anzusehen. Ich dachte immer es gäbe nichts was das Aussehen eines geliebten Toten übertrumpfen konnte, doch es war weitaus schlimmer zu wissen, dass ein geliebter Lebender einen hasste. Ich hielt es nicht länger aus, also nahm ich meinen Block heraus und starrte abwesend auf meine Notizen. Er wusste dass ich nicht wirklich arbeitete, daran hatte ich keine Zweifel. Wieso? Wieso hatte ich ihm nicht einfach die Wahrheit gesagt? Er hätte mich doch niemals für das was passiert war verurteilt, so war er nicht. Die Vibration meines Handys ließ mich schließlich aufschrecken. Mr. White war ohnehin noch nicht da, also warf ich schnell einen Blick darauf und öffnete mit zittrigen Fingern die Nachricht von Lucys Eltern.
Hey Kleines... wir waren gerade in Lucys Zimmer, es ist vielleicht an der Zeit dafür. Doch das ist es nicht, sie hat etwas für dich dagelassen, bitte ruf an wenn du bereit bist.
Ich sah die Nachricht mit großen Augen an. Was war es? Vielleicht ein paar Bilder? Ich schüttelte benommen den Kopf, daran war im Moment gar nicht zu denken, mein Leben hatte ein weiteres Tief erreicht, ich durfte nicht zulassen noch weiter zu fallen. Vermutlich irgendwann, in einem Jahr, wenn ich diese Schule verlassen durfte, vielleicht war ich ja dann bereit. Ich wusste, dass ich es nicht ertragen würde, egal was sie mir hinterlassen hatte. So wie ich Lucy kannte war es höchst wahrscheinlich etwas Wichtiges, doch gerade das ließ mich zurückschrecken. Ich biss die Zähne zusammen und steckte mein Handy zurück in meine Tasche, genug davon, ich musste versuchen mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auch wenn meine Gedanken immer wieder zu ihr abschweiften.
»Macht es wenigstens Spaß?«, fragte ich leise lachend, während er den Film seiner Kamera wechselte. Es war wirklich schön ihn auch mal so zu sehen, er war nicht mehr so ernst wie man ihn kannte. Er hatte nun schon das gefühlte tausendste Foto gemacht, ein paar davon waren simple Erinnerungen, wie das von mir, welches er geschossen hatte, als ich auf der Gitarre gespielt hatte. Andere, wie das, welches er von dem, durch das Kerzenlicht, hell erleuchteten Pavillon geschossen hatte. Ich hatte das Foto noch nicht gesehen, da er sie erst entwickeln musste, doch die Art wie er es geschossen hatte, verriet es mir bereits. Es war als wäre er in einer ganz anderen Welt gewesen, daran erkannte man auch wie sehr er dieses Hobby liebte.
»Wenn du wüsstest, ich habe eine Digitale, aber die ist im Dunkeln echt beschissen.«, erklärte er, schloss die Klappe und legte die Kamera beiseite. Die anderen waren bereits rein gegangen, weil es ihnen zu kalt wurde, dabei fand ich es eigentlich noch recht warm.
»Wie bist darauf gekommen? Ich meine Will und Christa sind nicht wirklich Fotografen.« Seine Mom hatte mir während des Essens erlaubt sie zu duzen, da sie sich sonst so alt fühlte, dabei war sie sogar jünger als meine Eltern. Er seufzte leise aus und sah mich auf einmal ganz ernst an. Ich versuchte die Antwort aus seinen fast rehbraunen Augen zu lesen, doch er war wie ein verschlossenes Buch, vielleicht mochte ich gerade das an ihm. Er war nicht so vorhersehbar wie andere Menschen, dies hatte ich bisher nur bei Lucy erlebt. Ich verglich die beiden keineswegs, bis auf das hatten sie kaum Ähnlichkeiten, außer vielleicht die Haarfarbe, obwohl sein Braun dunkler war als das ihre.
»Mein echter Vater hat so sein Geld verdient, daraus wurde nur nicht wirklich etwas.«, antwortete er mir. Das war das erste Mal, dass er über seinen Vater sprach, doch man merkte, dass dort mehr hinter sein musste. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er keinen Kontakt zu seiner Mutter hatte, aber über seinen Vater hatte er nichts gesagt.
»Habt ihr noch Kontakt?«, fragte ich ganz leise und stützte den Kopf auf meine Hände, wobei er mir ein kleines Lächeln schenkte, doch dann auf die kleine Kerze zwischen uns blickte. Manchmal wünschte ich mir wirklich in seinen Kopf hineinsehen zu können. Gerade bei ihm, ich wusste fast immer wie sich der Mensch vor mir fühlte, ob traurig oder glücklich, doch bei ihm war es so schwer zu entziffern.
»Ich bekomme an meinem Geburtstag und zu Weihnachten immer eine Karte, es steht aber nie wirklich viel drauf.« Sollte ich wirklich weiter fragen? Es interessierte mich ja wirklich, aber ich mochte es auch nicht wenn man mich über Lucy ausfragte. Vielleicht sollte ich es auf den empathischen Weg versuchen.
»Habt ihr euch mal wieder getroffen seitdem du hier bist?« So viel zu Empathie zeigen. Es war beinahe unmöglich die Fragen einfühlsam statt neugierig klingen zu lassen. Ich fühlte mich schrecklich deswegen, gerade als ich merkte wie unangenehm ihm meine Frage war.
»Nein... natürlich wollte ich, aber auf den Karten stand nie eine Adresse, immer nur sein Name.«, antwortete er mir nach einer langen Pause.
»Wie heißt er denn?«, versuchte ich mehr zu erfahren, wobei er leise auflachte.
»Du gibst auch nie Ruhe oder? Sein Name ist Christoph-«
»Wollt ihr nicht langsam reinkommen? Ihr werdet noch krank!«, rief Christa aus dem Wohnzimmerfenster hinaus in die dunkle Nacht.
Ich ließ fast mein Essenstablett fallen. Ich musste Ned finden! Es musste doch möglich sein diesen Christoph zu finden, koste es was es wolle. Es war nicht als Wiedergutmachung gedacht, nichts konnte das was ich ihm angetan hatte wiedergutmachen, aber ich wollte ihm helfen, immerhin hatte er mir auch geholfen, obwohl ich nun dachte wieder am Anfang zu stehen. Er hatte mir die schönen Dinge gezeigt, auch wenn es Kleinigkeiten waren. Zum Beispiel hätte ich ohne ihn gestern nicht meine alte Gitarre vom Dachboden geholt. Ich hatte zwar noch nicht auf ihr gespielt, aber es reichte auch schon, sie wieder neben meinem Bett stehen zu wissen. Aber dennoch vermisste ich ihn, auch wenn es kitschig klang. Ich vermisste es, nicht mehr mit ihm reden oder ihn necken zu können. Dieser Umzug war gut für mich gewesen, doch nun schien sich das Blatt erneut für mich zu wenden, ein weiterer Schicksalsschlag, wenn man es so nennen konnte. Würde ich dieses Mal vielleicht nicht mehr so schwach sein wie ich eigentlich war?
»Hey«, begrüßte ich Ned und setzte mich vor ihn an der langen beinahe leeren Tisch. Ich hatte ihn fast immer allein essen sehen, nur manchmal saß er hier mit einem schwarzhaarigen Mädchen. Ich kannte ihren Namen nicht, doch sie mache einen netten Eindruck, jedenfalls schien sie besser zu sein als die anderen.
»Hey Kate... das mit Tyler und dir tut mir leid.«, sagte er leise. Ich biss kräftig die Zähne zusammen. Lass dich nicht aus der Bahn werfen!, ermahnte ich mich selbst und versuchte ein wenig zu lächeln.
»Schon okay, kann ich dich mal was fragen?«, versuchte ich langsam auf das Thema zu gelangen, da ich wusste wie unangenehm es ihm war. Ich erinnerte mich noch genau an meinen ersten Tag hier, an dem Nathan ihn auf seine echte Mutter 'angesprochen' hatte. Eine solche Entwürdigung wünschte ich niemandem. Wem würde es schon gefallen so schikaniert zu werden?
»Klar, was ist denn?«, antwortete er mir mit klarer Stimme und sah mich mit diesen braunen Augen an, die auch seine Geschwister hatten. Ich wollte ihnen ausweichen, doch ich musste aufhören an mich zu denken.
»Danke... hör zu Tyler hat mir über eure richtige Mutter erzählt.«, ich machte eine kleine Pause, damit er dies erst einmal verdauen konnte, doch entgegen meiner Befürchtung, schien es ihn nicht wirklich zu interessieren. »Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht etwas über seinen Vater weißt... ich meine er hat bereits seinen Vornamen und früheren Beruf erwähnt, aber das hilft nicht wirklich.«, erklärte ich weiter, wobei er leise auflachte.
»Ich weiß selbst nicht viel, genauso wie Mom und Dad. Als sie uns adoptierten, wurde es unseren richtigen Eltern verboten uns zu sehen, das Übliche eigentlich. Wenn die Karten von Tylers Dad ankommen, sind sie meistens schon weg bevor der Postbote den Briefkasten schließen konnte, aber du hast Glück. Vor ein paar Tagen hat er ein bisschen ausgemistet und als er weg war, war ich kurz in seinem Zimmer und konnte den kompletten Namen lesen.« Meine Augen weiteten sich etwas vor Erstaunen. Kaum zu fassen, dass er mir wirklich helfen wollte. Allein der Nachname würde die Suche vielleicht einschränken und es mir vereinfachen.
»Kannst du ihn mir bitte sagen?«, bat ich ihn und versuchte ihn innig anzusehen, wobei er etwas zu lächeln begann.
»Christoph Patrick Theodore, tut mir leid mehr weiß ich selber nicht.« Es tat ihm leid? Wenn er nur wüsste wie sehr er mir gerade geholfen hatte. Ich konnte gar nicht verstehen warum Tyler ihn so behandelte.
»Nein Ned, du warst wirklich eine große Hilfe.«, versicherte ich ihm, wobei sein Lächeln nur noch größer wurde.
»Ich habe übrigens das Foto von dir gesehen, auf dem du spielst, es ist wirklich gut geworden. « Die Gitarre, die Bilder des Abends traten zurück in meine Erinnerungen, aber auch die, in denen ich meine Gitarre damals einfach so weggelegt hatte.
Ich verbannte meine Gitarre zurück in ihren alten Koffer, es machte einfach keinen Sinn mehr es weiterhin zu versuchen. Ich hatte es aufgegeben. Nun war es vier Tage her, doch es war wie eine Ewigkeit für mich gewesen. Eine Ewigkeit, in der ich nur im Bett gelegen, ihr Foto angestarrt und versucht hatte mit ihr zu reden. Erst heute Morgen hatte ich es geschafft aufzustehen, doch als ich dieses wundervolle Instrument in die Hand genommen und versucht hatte ein paar Lieder aus meinem leeren Kopf zu spielen, war es nicht besser als das Gejammer einer Katze. Also was brachte es mir es weiter zu versuchen? Ich würde es doch ohnehin nicht schaffen, es war hoffnungslos. Ich stand mit meinen zittrigen Knien mit samt des Koffers in meiner linken Hand auf, dann ging ich meine ersten Schritte zur Tür. Seitdem ich von ihrem Tod wusste, war es immer derselbe Traum gewesen, sie redete mit mir, dann fiel sie. Es war allein meine Schuld, dass sie nicht mehr singen oder ihr Leben leben durfte. Allein meine.
Ich drückte mit meinen kalten Fingern die Klinke hinunter und betrat den Flur. Seit Tagen hatte ich mein Zimmer nicht verlassen, geschweige denn jemanden außer Ava hineingelassen. Meine Eltern dachten vermutlich, dass ich verhungerte, doch ich hatte noch etwas zu Essen unter meinem Bett, wie Lucy es mir immer vorgemacht hatte. Ich erinnerte mich noch genau an Moms Flehen sie doch bitte hineinzulassen, es tat weh sie so zu hören, doch ich konnte es ihr auch nicht antun mich so zu sehen. Genau das war auch der Grund weshalb ich so leise wie ich konnte die knarzende Holztreppe des Dachbodens hinaufschlich. Ich hatte Dad heute Morgen wegfahren sehen, doch Moms Auto stand noch. Hatte sie sich wirklich wegen mir frei genommen? Ich konnte es nicht mit ansehen, ich war niemals so gewesen, sie kannten mich lebendiger, ich hatte Freude am Leben. Wie hätte ich reagiert, wenn meine Eltern auf einmal so geworden wären wie ich? Vermutlich hätte ich mir Sorgen gemacht und genauso wie sie versucht mich dazu zu bringen meine Tür zu öffnen. Ich hielt es nicht mehr aus, mein Leben war vorbei, ich musste es loslassen. Meine Gitarre hatte ihren Platz neben meinen Erinnerungen aus der Kindheit gefunden. Früher hätte ich die Kiste vor Freude aufgerissen, doch nun entfernte ich mich. Lucy war ein zu großer Teil von diesen Erinnerungen.
»Was machst du da Schätzchen?«, hörte ich Mom ganz plötzlich hinter mir reden. Der Klang ihrer traurig müden Stimme ließ mich zusammenzucken, sie hatte es nicht verdient sich solche Sorgen machen zu müssen.
»Schon gut«, seufzte ich und wollte mir einen Weg an ihr vorbeibahnen, um zur Treppe zu gelangen, doch sie umfasste sanft mein Handgelenk, sodass sie in meine dicken roten Augen sehen konnte. Nun war er da, der Moment, dem ich schon seit Tagen versuchte auszuweichen.
»Bitte rede mit mir, ich weiß doch wie schwer das ist.«, flehte sie ganz leise und zerbrechlich zugleich. Ihr braunes Haar hing schlapp herunter. Man hätte meinen sollen, dass ich meine Haarfarbe von meinem Vater geerbt hätte, doch sein Haar war so schwarz wie das eines Raben, dafür hatte ich aber seine grünen Augen.
»Lass mich los.«, bat ich sie leise. Ich konnte nicht mit ihr darüber reden, es würde sie nur noch mehr verzweifeln lassen. Sie dachte jedoch nicht einmal daran lockerzulassen.
»Bitte Kathrine«, hackte sie nach. Ich sah zu Boden, um mein trauriges Gesicht vor ihr zu verstecken, es ging einfach nicht anders.
»Verstehst du es nicht? Ich kann nicht darüber reden Mom. Es liegt doch auf der Hand oder nicht?«, fragte ich mit gehobener Stimme. Ich hätte es wirklich nicht so sagen dürfen, ich meinte es doch auch gar nicht so. Ihre Stirn hatte sich ganz verwundert in Falten gelegt, vielleicht war das der auslösende Moment für die beiden mich zu Dr. Grayson zu schicken.
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