
11
»Was sehen Sie?«, fragte mich Dr. Grayson. Ich saß wie immer auf diesem weinroten Sessel, doch um mich herum war alles schwarz, nur er und ich wurden ein wenig durch das grelle Licht erhellt. Was war hier los? Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas sagen würde, doch ich vermisste den mich depressiv machenden alten Raum.
»Wie bitte?«, fragte ich ein wenig perplex. Er lachte leise und zeigte mir sein offenes Lächeln, welches seine monströsen Zähne zur Schau stellte. Das wirklich Merkwürdige war jedoch, dass ich mich nicht daran erinnern konnte ihn jemals lachen gesehen zu haben.
»Schließen Sie Ihre Augen und sagen Sie mir was Sie sehen.« Was sollte das bewirken? Ich bekam allmählich ein Mulmiges Gefühl im Magen, denn sonst redete er nie so mit mir.
Ich schloss langsam meine Augen. Ich sah rein gar nichts bis auf endgültige Dunkelheit. Es war sogar ein wenig beruhigend einfach nichts zu sehen. Wenn es nur so mit meinen Gefühlen gewesen wäre, es hätte mir Vieles erspart.
»Kannst du mich vielleicht mal ansehen, wenn ich da bin? Immerhin bin ich nicht freiwillig hier.«, hörte ich ausgerechnet sie reden. Mein Herz begann sofort zu rasen und ich riss hoffnungsvoll meine Augen auf. Dort saß sie genau auf Dr. Graysons Platz. Sie war nicht wie in meinen Erinnerungen. Ihre Haut war bleich, ihre Lippen blau, ihr Haar voll Laub. Ihre Augen jedoch fixierten mich genau, ich erkannte den Hass in ihnen.
»Lucy«, hauchte ich, wobei mir die Tränen in die Augen stiegen. Warum war sie hier? Ich hatte sie doch tot im Sarg liegen sehen! Was wenn es nicht stimmte? Vielleicht war alles eine riesen Lüge, um mich zu testen. Meine Mundwinkel verzogen sich sofort zu einem breiten Grinsen. Sie lebte.
»Werde nicht sentimental Kathrine. Sieh mich doch mal an! Ohne dich wäre ich nie gesprungen, wenn du dich nicht nur für dich selbst interessieren würdest, hättest du es gemerkt und ich wäre nie-«
»Es tut mir leid, ich wollte das nie.«, unterbrach ich sie flehend, wobei mein Lächeln sofort verschwand. Ich verstand es nicht. Wie konnte sie tot sein, jedoch gleichzeitig genau vor mir sitzen? Das ergab keinen Sinn.
»Ach ja? Das sieht für mich und für alle anderen ganz anders aus. Wieso musste ich sterben und nicht du, hm?«, fragte sie heranlassend. Ich spürte wie die Tränen an meinen Wangen herabliefen. Das durfte nicht sein, ich konnte ihr keine Antwort auf ihre Frage geben. Gab es die denn überhaupt?
»Das kann ich dir nicht sagen, aber bitte hör mir zu, es tut-«
»Dir Leid? Das bringt mich auch nicht zurück. Merk es dir gut, es ist alles deine Schuld gewesen, nicht meine oder die der anderen, allein deine.«
Ich fuhr mit Tränen in den Augen aus meinem Schlaf. Es war ein Traum, es war nicht real. Es war nicht Lucy, nur ein Albtraum. Ich kannte ihn aber noch nicht, sonst war es immer derselbe mit ihr auf dieser Brücke. Er wäre mir lieber gewesen als dieser. Ich wischte mir die Tränen weg und sah dann auf meine Uhr. Der Wecker würde ohnehin gleich klingeln, da konnte ich mich gleich fertig machen. Manchmal fragte ich mich wie es wohl gewesen wäre, hätte ich sie nie kennen gelernt. Würde es mir dann besser gehen? Wahrscheinlich, aber ich hätte zu viel verpasst. Wer wären meine Freunde gewesen? Hätte ich Grace, Nick und Jonah überhaupt kennen gelernt? Immerhin war es Lucy, die mich auf die Idee gebracht hatte der Schülerband beizutreten. Ich erinnerte mich noch genau an ihr stundenlanges Betteln.
»Ach komm schon! Du musst bitte, ich flehe dich sogar an, siehst du?«, redete sie auf mich ein. Ich lachte leise in mich hinein, während ich meine Bücher in den Spind warf. Sie hatte zuletzt so gebettelt, als sie mit mir in den FreeFall- Tower wollte, als wir im Freizeitpark waren. Ich war wirklich mit ihr reingegangen, konnte danach aber kaum noch laufen vor Adrenalin.
»Ja, ich sehe es. Lucy, hör zu, ich weiß du meinst es gut, aber es gibt bessere als mich. Ich spiele immer noch auf der Gitarre, die Ava auf dem Flohmarkt gekauft hat. Ich bin froh, wenn ich ein paar Lieder kann. Du solltest hingehen, denn du hast Talent.«, antwortete ich. Sie seufzte theatralisch auf und schlurfte schmollend hinter mir her. Ich war ungern die Spaßbremse, aber was sollte ich denn sagen?
»Ein paar Lieder? Das ist doch ein Witz, man lernt doch immer weiter. Wehe du wirst jetzt sentimental, das ist nicht meine beste Freundin, die es geschafft hat den Snackautomaten auszutricksen. Ich werde mich eintragen und dich gleich mit. Du wirst es lieben, wenn nicht erschlage ich dich höchst persönlich.«, scherzte sie. Die Snackautomatengeschichte... der Trick mit der Schnur und der Münze funktionierte an den Automaten hier immer noch, deswegen bekamen wir so viel Süßkram wie wir wollten.
Ich kam hinunter in die Küche, wo mich Mom gleich mit einem sorgsamen Lächeln betrachtete, wie sie es jeden Morgen tat. Sie wusste über die Träume Bescheid, da sie mich in der ersten Zeit fast schon gewaltsam aus dem Schlaf reißen musste, da ich so sehr geschrieen hatte. Wie konnte ich meinen eigenen Eltern auch so etwas Derartiges antun? Sie hatten ein normales Kind wie Ava verdient, wie damals. Ich hatte die normalen Tage nie wirklich zu schätzen gelernt.
»Guten Morgen«, murmelte ich leise vor mich hin und setzte mich zu ihr an den Tisch. Dad war wohl schon auf Arbeit, hoffentlich war er nicht wütend wegen gestern.
»Guten Morgen, hast du gut geschlafen?«, spielte sie an. Ich wusste sie meinte es gut, doch man sollte keine Fragen stellen, deren Antwort einen Kummer bereitete, das hatte ich in den letzten Monaten jedenfalls gelernt.
»Ganz gut und du?«, fragte ich, während ich mir einen Toast schmierte. Ihre Miene wurde etwas weicher, sie hatte die Lüge nicht bemerkt. Ich hasste es zu lügen, aber was hätte ich denn zu ihr sagen sollen? Sie würde sich sofort um einen anderen Psychiater kümmern, obwohl ich mich bei Marlin so wohl fühlte.
»Ich auch, ich dachte mir ich fahre dich zur Schule, weil dein Auto erst morgen fertig ist. Wie kommst du überhaupt zu der Party heute Abend?«, erkundigte sie sich. Um ehrlich zu sein hatte ich noch keine Ahnung. Ich wusste nicht einmal wo Ashley überhaupt wohnte, außerdem wusste sie noch nichts von Tyler, da ich gestern vergessen hatte es ihr zu erzählen. Sie würde sich bestimmt freuen und mit Glück würde sie es ja schaffen Tyler zu zeigen wie blöd er sich gegenüber seiner Familie benahm. An seinen Fotos erkannte man jedoch, dass er sie eigentlich doch liebte, auch wenn es erstmal nur Sophie war.
»Weiß ich noch nicht genau, ich sollte sie erstmal fragen wo sie wohnt, ich gehe vermutlich zu Fuß oder fahre mit dem Bus.«, erklärte ich, wobei sie sofort ihre sorgsame Miene aufsetzte.
»Ich fahre dich besser, in London durftest du auch nicht so spät allein raus, Bristol ist zwar nicht die Hauptstadt, aber hier könnten auch Verrückte rumlaufen.« Früher hätte ich womöglich mit den Augen gedreht, doch nun schien es mir ziemlich egal zu sein.
»Danke, können wir dann los?«, fragte ich sie, als wir fertig waren mit dem Frühstück.
Nannte man Träume nicht auch den Schlüssel in sein Unterbewusstsein? Ich war der Meinung, dass Dr. Grayson einmal so etwas gesagt hatte. Vielleicht stimmte es ja, wie sollte ich mir so die Albträume erklären? Ich war von Schuldgefühlen zerfressen, das spürte ich nicht nur am Tag, sondern auch bei Nacht. Ich war es gewohnt denselben Traum mit ihr an der Brücke jede Nacht zu haben, ich fand ihn sogar gar nicht mehr so schlimm wie früher, doch dieser war anders. Denn es stimmte, in seinen Träumen verarbeitete man seine Gefühle, die sich nun mal größten Teils im Unterbewusstsein ansammelten.
»Hey«, begrüßte mich Ashley mit einer Umarmung, wobei mir das teure Parfüm in der Nase brannte. Gib ihr wenigstens eine Chance!, fuhr ich mich selbst.
»Hey, ich habe eine Überraschung für dich.«, murmelte ich, wobei sie mich breit grinsend losließ.
»Echt? Was ist es?«, quiekte sie schon fast wie ein Kind.
»Gleich, wir sollten erstmal zur Klasse, sonst wird Mrs. Abbington wieder sauer.« Sie folgte mir sofort, als wäre sie ein Hund. Hör auf!, zischte ich mich an. Was sollte ich den machen? Ich wollte wirklich nicht so denken, es kam einfach so.
»Sagst du es mir jetzt?«, hackte sie nach, als wir die Treppe hinaufgingen. Ich erwischte mich dabei wie ich versucht war die Augen zu verdrehen.
»Ich habe es geschafft Tyler zu überreden heute Abend zu kommen.«, sagte ich schnell, wobei sie vor Freude sofort auf quiekte.
»Oh mein Gott, du bist tollste beste Freundin, die ich jemals hatte.«, übertrieb sie. Es versetzte mir ein Stich in die Brust. Was sagte sie da? Beste Freundin? Das konnte nicht ihr ernst sein, wir kannten uns nur ein paar Tage! Außerdem, wie konnte ich jemanden anderen akzeptieren, wenn ich noch lange nicht über Lucy hinweg war? Ich versuchte den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, da wir in diesem Moment die Klasse betraten. Ich durfte nichts riskieren.
»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte ich sie, wobei ihr Grinsen erstarb.
»Ach ja dein Auto ist ja kaputt... du kannst nach der Schule mit mir mit, dann gebe ich dir ein paar Klamotten von mir und style dich.«, meinte sie ganz aufgeregt. Ich wollte gar nicht wissen was sie mit mir vorhatte, aber es konnte nicht schaden ihr vielleicht etwas bei den Vorbereitungen zu helfen, immerhin wollte ich ihr ja eine Chance geben.
»Gern du musst nur etwas warten, ich muss nach der Schule noch kurz bleiben, um etwas Privates zu regeln.« Damit meinte ich Marlin, sie musste nicht wissen, dass ich zu ihr ging. Als wir uns trennten, saß Tyler bereits an seinem gewohnten Platz. Ich grinste schon innerlich, da er sich bestimmt schon den Horror ausmalte, den er heute Abend erfahren würde. Soweit ich Ashley richtig einschätzte, gehörte sie zu der Sorte Mädchen, die sich an ihre Schwärme wie eine Klette hefteten.
»Morgen«, begrüßte er mich, als ich mich setzte. Seitdem ich bei ihm war, verstanden wir uns irgendwie besser. Er blieb aber trotzdem ein Idiot.
»Morgen, freust du dich schon?«, stichelte ich auf ihn ein.
»So sehr wie meinen Finger in eine Kreissäge zu stecken... Ach ja William möchte am Samstag grillen und hat dich eingeladen.« Letzteres murmelte er ganz verärgert vor sich hin. Innerlich lag ich schon vor Lachen auf dem Boden. Eigentlich hatte ich sogar wirklich Lust, auch wenn ich eher kommen würde, um noch mehr darüber zu erfahren warum genau er so war. Es interessierte mich einfach, auch wenn es so aussah als wäre ich eine kranke Stalkerin.
»Du kannst ihm sagen, dass ich wirklich gern kommen würde, über die Uhrzeiten schreiben wir.«, sagte ich, da in diesem Moment Mrs. Abbington den Raum betrat.
Ein, zwei, drei. Es ist nicht wahr. Eins, zwei, drei. Ich träume., dachte ich, als ich mit angezogenen Knien auf meinem Bett lag. Sie hatte doch erst vor acht Tagen noch neben mir gesessen und gelacht, es kam mir vor als wäre es Jahre her. Es war ein echtes Lachen... oder auch nicht? Wie es schien, hatte ich sie nie gekannt, weil ich eine Egoistin in Person war.
Eins, zwei, drei. Warum bin ich ohne sie hier? Wieso bin ich allein?, spielte es sich in meinen Gedanken ab. Wieso hörte dieser Schmerz nicht auf? Viele, die genau so etwas durchlitten, wünschten sich doch etwas zu fühlen. War ich anders? Ich wünschte mir im Gegensatz zu ihnen überhaupt nichts mehr zu fühlen. Wann hatte ich zuletzt gelacht? Ich zog mit zitterndem Atem die Luft ein. Unser Foto stand noch immer auf meinem Nachttisch. Ich wusste, dass es mich nur runterzog, aber es war auch beruhigend. Vielleicht hatte ich mir so eingebildet, dass sie noch am Leben war. Was wenn das hier nur ein Traum war? Ein verdammt langer, schmerzhafter Traum. Falls es stimmte, wieso durfte ich nicht einfach aufwachen? Ich spürte wie sich in meinen Augen die Tränen bildeten. Eins, zwei, drei. Bitte komm zurück, lass mich nicht allein., flehte ich. Einige Menschen waren allein, fühlten sich aber nicht so. Ich war es nicht und fühlte mich so einsam wie noch nie in meinem Leben.
»Kathrine?«, hörte ich meine Mutter an die Tür klopfen. Ich spürte die Trauer in ihrer Stimme. Warum war ich so schwach? Ich hatte von einer Sekunde auf die andere das Leben meiner Eltern zerstört. Ich war Schuld an allem.
»Bitte mach endlich die Tür auf.«, flehte ich, wobei ich ein leises Wimmern vernahm. Eins, zwei, drei. Bitte vergiss mich., betete ich nun schon. Es versetzte mir einen Stich in die Brust sie so reden zu hören. Mein Leben war zum Tief geworden, ich gehörte einfach nicht mehr hier hin.
»Wir machen uns wirklich Sorgen um-«
»Lass mich mal... Kate? Ich bin es Ava. Bitte mach die Tür auf. Ich muss mit dir reden.« Ava war hier. Sie musste in Bristol sein. Vernachlässigte sie nun auch schon ihr Studium wegen mir? Ich hielt es einfach nicht mehr aus, ich zerstörte alles.
Ich erhob mich langsam aus meinem Bett und schlich an meine Tür. Eins, zwei, drei. Du bist eine Bombe und zerstörst all das Gute., dachte ich, während ich mich hinter der Tür versteckte, als ich sie langsam öffnete.
»Bleib bitte kurz draußen.«, sagte sie leise zu Mom. Als sie den Raum betrat, schloss sie sofort die Tür hinter sich. Sie wirkte viel älter, als ich sie in Erinnerung hatte. Deine Schuld., hörte ich Lucy in meinem Kopf reden.
»Hey... Oh Gott es tut mir so Leid Kate.«, sagte sie mit gebrechlicher Stimme und zog mich sofort in ihre Arme. Ich fühlte mich immer so wohl wenn sie dies tat, doch jetzt hatte ich nur Schuldgefühle. Sie machte sich Sorgen, wie jeder andere.
»Kate, ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Marlin, als ich einen Moment trostlos in die Leere gestarrt hatte. Ich begann gegen die Tränen anzukämpfen, sie durften nicht kommen. Dr. Grayson hatte gesagt, dass es gut wäre, doch sie rissen mich in einen tiefen Abgrund, das hatte ich die erste Zeit gelernt, ich wollte es nicht noch einmal durchstehen.
»Ja«, antwortete ich ganz monoton. Hoffentlich würde sie sich damit zufrieden geben.
»Weißt du, es wäre vielleicht hilfreich, wenn du versuchst nicht an die Zeit danach zu denken, sondern an dort wo sie noch lebte. Die Kunst über einen Verstorbenen hinwegzukommen ist sich an die schönsten Zeiten zu erinnern.« Ich zog die Luft ein und sah in meine ineinander verknoteten Finger. Wie sollte ich das schaffen? Ich hatte es schon oft versucht, aber dann kamen diese Albträume oder die Bilder von ihrem Sarg. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, die Last wurde immer größer. Was konnte ich tun, damit ich nicht in meiner Trauer oder sogar Schuldgefühlen versank? Ich war nichts weiter als ein Kind, dessen Welt auf einmal Kopf stand.
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