✧Kapitel 5✧
„Hallo?", rief Kira in den Raum hinein, obwohl offenkundig niemand da war. „Fred?"
Eine Gestalt tauchte hinter einem der Tische auf und ich erkannte, dass ich falsch gelegen hatte, nicht Kira. Der Mensch, dem dieser Raum gehörte, hatte sich nur vor uns versteckt. Er sah ganz anders aus als Kira.
Während ihre Haare zusammengebunden waren und ihr den halben Rücken hinunter fielen, standen seine um seinen ganzen Kopf herum ab wie elektrostatisch aufgeladene Fäden. Ich fragte mich, ob ich auch eine kurze Entladung spüren würde, sollte ich sie berühren. Außerdem waren seine Augen viel größer als die von Kira und von zwei dunkleren Kreisen umrahmt, von denen eine Art ... Gestell zu den Seiten seines Kopfes führte.
„Oh", machte der andere Mensch, als er Kira und mich – wahrscheinlich nur Kira, ich vermutete, dass Menschen mich auf diese Entfernung noch nicht sehen konnten – wahrnahm. Prompt verschwand er wieder hinter seinem Tisch.
Kurz darauf tauchte er allerdings wieder auf, dieses Mal ohne die schwarzen Rahmen um seine Augen – seltsamerweise wirkten sie jetzt nicht mehr so groß. „Hallo Kira", begrüßte er meine Begleiterin offiziell und kam auf uns zu, wobei er zweimal eine Tischkante streifte. „Was gibt es so ... Neues bei dir? Also ... ist in deinem ... hast du neue Ideen für die Unterkünfte?"
Kiras Schulter zuckte kurz. „Jeden Tag, schätze ich. Aber wie viele und welche wir davon umsetzen, wissen wir erst, wenn wir die neue Erde zu Gesicht bekommen."
Der andere Mensch wackelte mit dem Kopf, dann trat Schweigen zwischen den beiden ein und Kira machte eine Bewegung, als würde sie sich einen Teil ihrer Haare hinter die Ohren streichen, obwohl sich keine aus dem Verbund gelöst hatten.
„Ich hatte aber eine Idee!", sagte sie dann schließlich, in einem deutlich höheren Sprechtempo. Sie schnappte sich ein weißes Rechteck auf einem der Tische und ein langes Gerät, das ich ebenso wenig benennen konnte. Als sie mit dem Gerät über das Rechteck fuhr, hinterließ sie schwarze Linien und kurz darauf erkannte ich, dass sie etwas darstellte – mit Linien auf einem einfarbigen Untergrund! So etwas hatte ich noch nie gesehen, aber es interessierte mich brennend.
„Siehst du?" Ihr Gerät hatte die Umrisse einer runden Struktur hinterlassen, die über mehrere halbrunde Gänge mit weiteren verbunden war. „Ich habe an die Bauten von Bienen auf der Erde gedacht, weißt du? Je nachdem, wie die Atmosphäre ist, sind Gebäude mit Ecken super unpraktisch, aber ich möchte trotzdem, dass die Leute zusammenkommen und sich austauschen können, weißt du? Und deswegen dachte ich an eine sechseckige Form, außen herum die privaten Räumlichkeiten und in der Mitte ein großer Gemeinschaftsraum. Über die Größenverhältnisse könnten wir noch diskutieren und je nachdem, wenn die neue Erde eine gute Atmosphäre hat, dann sind wirklich sechseckige Strukturen doch wieder möglich, aber wichtig ist mir diese Verbundenheit, auch bei schlechten äußeren Bedingungen. Wir sollten nicht allein in unseren Höhlen wohnen, da würde den Leuten etwas fehlen. Und ich dachte, es könnte vielleicht Veranstaltungen –"
Abrupt brach sie ab und wiederholte die überflüssige Haare-Zurückstreich-Bewegung, die sie während dem Moment des Schweigens eine Weile zuvor schon einmal gemacht hatte.
„Entschuldige bitte, Fred", sagte Kira, deutlich leiser dieses Mal. „Ich rede zu viel, wenn man mich danach fragt."
Sie blickte den anderen Menschen – offenbar Fred – nicht länger an, sondern sah hinunter auf ihre Darstellung, um deren Teile sie während ihrer Erklärung nachdrückliche Kreise hinterlassen hatte.
„Ist nicht schlimm", erwiderte der. „Ich höre deine Ideen gern. Sie ... also ... manchmal helfen sie mir, eigene Dinge auszuprobieren."
Er zog den Bereich vor seinem Mund auseinander - vorsichtig, als wäre er sich nicht sicher, ob es die richtige Reaktion war.
„Meinst du Inspiration?", fragte Kira leise. „Meine Ideen inspirieren dich?"
„Das ... also", erwiderte Freds und selbst ich erkannte, dass das keine vollständige Antwort auf Kiras Frage war. Ich registrierte außerdem, dass sowohl seine als auch Kiras Gesichtstemperatur anstieg, kurz bevor ich realisierte, dass bei beiden Teints nun einige Rottöne mehr enthalten waren.
Wieder schwiegen sie einen Augenblick und ich trippelte kurz auf und ab, um Kira daran zu erinnern, dass ich noch da war. Sie hatte mich doch hierhergebracht, damit Fred mir half, oder?
„Oh!", machte sie dieses Mal, im gleichen Tonfall wie Fred einige Minuten zuvor. „Ich habe völlig den Faden verloren", sagte sie zerknirscht.
Er murmelte etwas für mich Unverständliches, sagte sonst aber nichts dazu.
„Der kleine Kerl hier ist von meinem Lüftungsschacht auf mein Bett gefallen", erklärte sie und hob eine Hand zu mir hoch. Zufrieden, dass wir der Lösung des Problems nun ein Stückchen näher kamen, krabbelte ich auf ihre Hand und ließ mich in Richtung Fred heben.
„Ist das ein Lemming?" Er verengte die Augen und beugte sich näher zu mir.
„Ich ... hm ..." Auch das war eindeutig keine zufriedenstellende Antwort auf Freds Frage. Ob alle Menschen manchmal so uneindeutige Antworten gaben? Je länger ich meinen Lüftungsschacht verlassen hatte, desto mehr Fragen türmten sich auf und ich hatte keinerlei Idee, wie ich sie beantworten könnte.
„Aus den Lüftungsschächten, hast du gesagt?"
Kira bestätigte das. Ihre Gesichtsfarbe und Temperatur hatten mittlerweile wieder ihren Ausgangszustand angenommen.
„Dann ist es ein Lemming."
„Würdest du ihn Blobb nennen?"
Fred wandte die Augen von mir ab und sah hinauf zu Kira. „Blobb?"
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. „Ich habe ihm den Namen gegeben. Irgendwie ... fand ich, er passt zu ihm."
„Du hast einer kleinen Maschine, deren Job es ist, Löcher zu stopfen und Rost zu entfernen, einen Namen gegeben?" Fred klang nicht unfreundlich, nur ungläubig.
Kira ließ mich auf die Unterlage krabbeln, wo die Unterkünfte abgebildet waren, und tat dann etwas mit ihren Armen, das ich noch nie gesehen hatte. Es sah ein bisschen so aus, als hätte sie sie miteinander verknotet.
„Das hier ist Blobb", wiederholte sie mit Nachdruck und Fred gab keine weiteren Widerworte.
„Blobb", sagte Fred langsam, „gehört sozusagen zum Immunsystem der Perseus, den Lemmingen. Sie erledigen kleinere Wartungsarbeiten und sorgen dafür, dass unsere Atmosphäre stabil bleibt, weil sie kontinuierlich darauf achten, dass die Verteilung der entscheidenden Gase sich nicht zu sehr ändert. Solche Dinge."
Kira blickte ihn an und dieses Mal glaubte ich, dass es ihre Augen waren, die größer wurden, wenn auch ohne Hilfe eines Gestells. Mittlerweile wusste ich, dass meine Daseinsart den Menschen ebenso wenig vertraut war wie mir die ihre, deswegen ahnte ich bereits, welche irritierten Nachfragen kommen würden.
„Heißt das, Blobb hat die Lüftungsschächte noch nie verlassen?" Das war nicht die Nachfrage, die ich kommen gesehen hatte. Gleiches schien auch für Fred zu gelten.
„Ich ... schätze nein", sagte er und blickte mit einer Falte zwischen den Strichen über seinen Augen auf mich herunter. Es war die gleiche Falte, die sich auch bei Kira bildete, wenn sie nachdachte. Ich fragte mich, ob das eine Mimik war, die bei allen Menschen auftrat, oder ob die zwei sich in dieser Hinsicht einfach nur ähnlich waren.
„Dann weißt du ja gar nichts darüber, ob Blobb auch einen anderen Namen hat", stellte Kira dann klar und streckte die Hand nach mir aus. „Wenn du mir also nicht helfen kannst –"
„Das habe ich nicht gesagt!" Fred richtete sich viel zu ruckartig wieder auf und stieß sich den Kopf an einer Lampe. Mit einer Hand noch an seinem Hinterkopf redete er weiter. „Die Lemminge leuchten in verschiedenen Farben, je nachdem, was ihre Aufgabe gerade ist. Blobb hat offenbar eine Aufgabe bekommen, die ziemlich selten ist."
Das war mir nicht neu, Kira aber schon. Mit leicht geöffnetem Mund starrte sie Fred an. „Blau hat keine Bedeutung?"
„Doch, das schon." Er hielt die Hand immer noch an seinen Hinterkopf, erweckte jetzt aber nicht mehr den Eindruck, dass er das wegen Schmerzen tun würde. „Ich kenne sie nur nicht. Wir können aber bestimmt nachschauen."
„Ich glaube, Blobb kennt sie auch nicht", sagte Kira nach einem prüfenden Blick auf mich. „Sonst würden wir hier doch bestimmt einen herumflitzenden Roboter beobachten, der versucht, seine Aufgabe zu erfüllen oder zumindest zurück in die Luftschächte zu kommen, oder?"
Fred brauchte eine Weile, um zu antworten, bevor er noch einmal mit der Hand über seinen Hinterkopf rieb und sie dann langsam sinken ließ. „Aber wie soll das funktionieren? Die Lemminge sind programmiert, immer zu wissen, wie sie ihre Aufgaben erfüllen sollen."
Kira zuckte mit den Schultern und hielt mir die Hand hin. Langsam glaubte ich nicht mehr, dass sie mich versehentlich zerquetschen würde. Also krabbelte ich zurück darauf und machte es mir auf Kiras Schulter bequem.
„Ich werde Blobb einfach helfen, es herauszufinden", bestimmte sie. Und das war nun wirklich neu.
„Hast du nicht –" Fred unterbrach sich, bevor er den Satz fertig sprechen konnte. Wahrscheinlich war ihm wie mir klargeworden, dass Kira keine Widerworte akzeptieren würde. „Berichte mir gerne, was du herausfindest."
Sie nickte. „Das mache ich."
Fast waren wir schon zur Tür heraus, als Fred ihr noch einmal hinterher rief, auch wenn es nicht wirklich als Rufen zu bezeichnen war, so leise, wie er sprach. Als wäre er über seine Worte gestolpert. „Ich mag deine neue Haarfarbe, Kira."
Sie drehte sich herum und zum zweiten Mal konnte ich spüren, dass sich ihre Gesichtstemperatur erhöhte. Sie tastete nach dem Bund aus Haaren, die die gleiche Farbe hatten wie die Bereiche vor ihrem Mund, die sie zum Sprechen benutzte.
„Danke", sagte Kira unterdessen. „Ich fand, auf diesem Schiff gibt es nicht genug Farbe."
Und damit wandte sie sich endgültig von Fred ab und warf mir einen Blick zu, auch wenn sich das für sie nicht ganz leicht gestaltete. „Lass uns die Perseus kennenlernen, Blobb."
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