✧Kapitel 18✧
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, aber irgendetwas wird es gewesen sein. Was ich nicht erwartet habe, ist die sanfte Wärme, die mich durchflutet, fast wie eine Begrüßung. Da ist keine Boshaftigkeit in der Wärme, keine böse Absicht, und für einen Augenblick frage ich mich, ob ich mit meiner Vermutung falsch liege.
Um mich mit dem Kern zu verbinden, benötige ich kein Kabel. Ich bin ein winziger Teil des Schiffes, und wenn ich auch keinen Zugang zu seinem gesamten Wissen habe, erkennt es mich doch als genau einen solchen Teil an.
Aber ich muss der Perseus Einlass gewähren, muss ihr erlauben, mit mir zu verschmelzen. Und ich zögere nur einen winzigen Augenblick. Was ist, wenn ich den Weg nicht zu mir selbst zurückfinde? Ich habe in den letzten Tagen so viel gewonnen, das ich nicht wieder aufgeben will.
Dann erinnere ich mich an die Menschen, die zu diesen gewonnenen Dingen gehören, und die gerade leiden, und ich entscheide mich dafür.
Der Raum um mich herum scheint zurückweichen und mein Blickwinkel verändert sich. Als würde ich meine Kameras durch das ganze Schiff ausstrecken, alles sehen, ohne meine Verankerung in diesem Raum und diesem Boden zu verlieren.
Und ich verstehe. Ich verstehe so vieles.
Ich sehe die Menschen durch die Gänge wuseln, jedenfalls diejenigen, die es noch können. Viele andere sitzen oder liegen zusammengekauert in ihren Kabinen, manche auf dem Boden, manche in irgendwelchen Ecken, die sie gefunden haben.
Ein Teil von mir möchte nach Fred und Kira Ausschau halten, aber sie sind zu klein, mein Verständnis ist zu groß und zu umfassend, um Einzelheiten auszumachen. Was ich allerdings sehen kann, sind die Ventile zu den Sauerstofffilteranlagen, die beinahe zugedreht sind. Sie sind gut verborgen, tief in die Wände der Perseus eingelassen, wo es lange dauern wird, bis sie jemand findet. Vielleicht kann ich sie sogar dauerhaft versteckt halten. Bis auch den Menschen mit Masken der Sauerstoff ausgehen.
Ich war es. Ich, die Perseus.
Wegen des Schattens.
Berechnungen flackern durch meine Gedanken. Ich weiß genau, dass ich die Ventile wieder ein bisschen lösen würde, sobald die Menschen alle zum Erliegen gekommen wären. Sie würden weiter atmen, aber sie würden nichts tun, sie würden mir die Steuerung überlassen, bis die Gefahr, oh die furchtbare Gefahr, endgültig vorüber wäre.
Dann werde ich nachlassen, dann werde ich sie wieder leben lassen.
Wenn die Gefahr hinter den Sternen gebannt ist.
Ich versuche, tiefer vorzudringen. Noch kann ich die Gefahr nicht sehen, weiß nicht, wovor das Schiff die Menschen beschützen wollte.
Dem Schatten in den Sternen.
Auf einmal ist dort die Angst. Das Schiff ist nicht gemacht wie ich, es denkt nicht wie ich, nicht in einzelnen Gedankenfetzen, die es in Worte hätte kleiden können. Aber es denkt in Emotionen und Regungen und weil es so groß und umfassend ist, habe ich das Gefühl, als hätte mich ein Luftstoß gepackt und aus dem Weg gewirbelt.
Angst, Angst, so viel Angst. Die Perseus hat Angst vor dem Schatten in den Sternen.
Das Gefühl ist beinahe erdrückend, aber ich würde jetzt nicht aufgeben. Ich weiß, was Angst ist, weil Kira es mir erklärt hat. Und ich weiß, dass es das Bewusstsein der Möglichkeit ist, das zu verlieren, was mir wichtig ist.
Aber wovor hat die Perseus Angst? Davor, die Menschen zu verlieren? Aber warum schadet sie ihnen dann?
Der Schatten in den Sternen.
Da ist er wieder, der Gedanke, den ich vorher nicht ganz zu fassen bekommen habe. Ein Schatten in den Sternen, den die Menschen noch nicht gesehen haben, aber die Perseus schon.
Und ich auch.
Es ist eine Erkenntnis, die mich beinahe physisch trifft. Ich habe den Schatten auch gesehen. Wahrscheinlich habe ich ihn schon erahnt, als ich das erste Mal zu den Sternen aufgesehen habe, aber mit Sicherheit habe ich ihn erkannt, in dem Moment, als ich aus Mercators Fenster geblickt habe.
Aber was ist er?
Auch wenn ich vorher behauptet habe, dass die Perseus nicht in Worten denkt, der nächste Gedanke ist so klar, dass es ist, als würde ein einzelnes Wort in meine Gedanken gestempelt, wie die Seriennummer auf einem Rohr oder einem technischen Gerät.
HEIMAT. ZUHAUSE.
Die Perseus hat einen bewohnbaren Planeten entdeckt.
Als das Schiff begreift, dass ich es verstanden habe, und dass ich es auch gesehen habe, ist es, als würde es die Luft ausstoßen. Vielleicht, weil es ein Geheimnis bewahren musste, das es nun geteilt hat. Im selben Moment taucht ein Schriftstück in meinen Gedankenströmen auf, das die Perseus bis eben vor mir verborgen hat.
Rot – Es gibt ein Leck in der Hülle des Schiffs, das der Lemming unverzüglich zu reparieren hat.
Weiß – Der Lemming arbeitet daran, Arbeitsteile und -kleidung steril zu halten, um Verunreinigungen in Laborumgebungen zu vermeiden.
Grün – Der Auftrag des Lemmings ist es, für Sauberkeit in den internen Abläufen des Schiffs zu sorgen, um Verschleiß zu minimieren.
Blau – Der Lemming ist in Kontakt mit irdischer oder erdenähnlicher Strahlung gekommen. Er ist schnellstmöglich ins Labor zu bringen.
Ich sehe die Ereignisse an dem Tag, als ich angefangen habe, blau zu leuchten, aus neuer Perspektive, so, wie die Perseus sie wahrgenommen hat. Ich sehe mich mit den anderen Lemmingen das Loch stopfen und mit Wahrnehmungsmöglichkeiten, die ich sonst nicht mein Eigen nenne, sehe ich, wie sich winzige Partikel an mich und einige andere Lemminge heften.
Dann rutsche ich aus und lande bei Kira in der Kabine.
Ich bemerke, dass die Perseus die Menschen anders wahrnimmt als ich – und anders als uns Lemminge. Von ihnen führen dünne rote Linien quer durch das Schiff und verbinden sie mit anderen Menschen.
Und von Kira führt eine dünne rote Linie zu Fred. Fred, dem Mechaniker. Fred, dessen Fachgebiet es ist, Maschinen zu untersuchen. Fred, der die Partikel auf mir mühelos identifizieren würde, wenn er sich die Mühe machen würde, danach zu suchen.
Ein zweites Mal empfange ich Worte von der Perseus.
NEIN. NEIN. NEIN. NIEMALS. TOD. VERDERBEN.
Wieder werden meine mentalen Knoten mit Bildern geflutet, aber dieses Mal sind es keine Bilder von dem, was geschehen ist, sondern davon, was noch geschehen wird. Oder geschehen könnte, die Perseus scheint diesbezüglich keinen großen Unterschied zu machen.
Sie fährt die Landestützen aus und das riesige Schiff begibt sich aus der Umlaufbahn eines erdenähnlichen Planeten in einen sanften Sinkflug. Wir sehen Feuer vor dem Fenster vorbeiflackern, als wir in die Atmosphäre eintreten, und wir sehen die Wolken über uns und wie sie sich vor uns teilen, als wir sie durchstoßen.
Wir sehen Wälder und Meere und Wüsten und Steppen und Gebirge und Seen und all das ist neu und wundervoll für die Menschen zu entdecken. Wir setzen auf der neuen Erde auf.
Dann ist plötzlich alles anders. Es kommen Schwierigkeiten auf die Menschheit zu, Sandstürme rasen über Land heran, turmhohe Wellen über das Wasser. Es regnet zu viel und es regnet zu wenig, auf der neuen Erde brechen Krankheiten aus, die kein Mensch bisher kannte. Niemand weiß, welche Pflanzen essbar sind und welche nicht. Viele Menschen sterben und die Perseus muss zuschauen.
Der Verlust schmerzt das Schiff.
TOD. VERDERBEN. NIEMALS.
Ich muss antworten, und dieses Mal sende ich Bilder an die Perseus. Kira, die mir klar macht, dass das Schiff niemals eine Heimat sein kann. Nicht wirklich.
Sie und Fred, die sich aneinander klammern und sich in ihren Momenten der Angst davon erzählen, was hätte sein können.
Mercator, der alle Anschuldigungen unvermittelt fallen lässt, als er von Kira daran erinnert wird, worauf sie alle hinarbeiten, ein Hinweis, der für ihn so eindeutig ist, dass er nicht weiter fragt.
Die Visionen erreichen das Schiff, ich kann es in jeder meiner kognitiven Bahnen spüren. Doch es entscheidet sich nicht um, die Sauerstoffventile bleiben verschlossen.
Das war noch nicht alles.
Die Bilder verändern sich.
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