Kapitel 38
Er kommt langsam auf mich zu und geht um die Couch herum, um sich genau neben mich zu setzen.
„Das was heute passiert ist, Luna", setzt er erneut zögerlich an, „das ist alles meine Schuld. Ich dachte ich hätte Zach überzeugen können, aber er hat mich reingelegt. Er hat so getan als würde er mir glauben und hinter meinem Rücken Sebastian zu dir geschickt, sodass ich nicht rechtzeitig da sein konnte. Es war eine Warnung an mich, verstehst du? Hass mich dafür so viel du willst, das ist vermutlich das Beste!" Niedergeschlagen vergräbt er seinen Kopf in seinen Handflächen und ich sehe ihn nur traurig an. Es fällt ihm offensichtlich nicht leicht, sich mir so sehr zu öffnen, wie er es heute Abend getan hat und deshalb bin ich ihm umso dankbarer. Vorsichtig greife ich nach seinen Händen, um sie von seinem Gesicht zu entfernen und lege dann meine Hand an seine Wange, um seinen Kopf zu mir zu drehen.
„Harry, sieh mich an!", fordere ich ihn auf. Sofort kommt er meiner Forderung nach. „Ich könnte dich niemals hassen, hörst du? Ich will, dass du das weißt. Egal was passiert!" Dafür bist du mir viel zu wichtig! Dafür brauche ich dich zu sehr! Er löst meine Hand von seiner Wange und umschließt sie mit seinen beiden Händen, was augenblicklich dafür sorgt, dass sich eine wohlige Wärme in mir ausbreitet.
„Es tut mir so leid!" Seine Stimme ist nur ein Flüstern.
„Ich gebe dir nicht die Schuld dafür, Harry!", versuche ich ihm klar zu machen, da ich ihn nicht so gebrochen sehen kann. Er ist doch derjenige, der immer stark bleibt.
„Es ist aber meine Schuld! Ich hätte nicht von dir erwarten sollen, dass du dich von mir fernhältst, wenn ich mich selber nicht daranhalten konnte. Ich hätte es dir nicht ständig befehlen sollen, sondern es verflucht noch mal selber tun sollen. Aber ich konnte nicht, verstehst du das Luna? Ich war egoistisch und habe die möglichen Konsequenzen von denen ich wusste, einfach ignoriert. Ich habe sie ignoriert und damit in Kauf genommen, dass du dabei verletzt wirst. Und jetzt ist es tatsächlich passiert und nun weiß ich nicht, ob ich jetzt endlich über meinen Schatten springen soll und verschwinden soll, um dich nicht noch mehr in Gefahr zu bringen und dich vor Zach zu beschützen, oder ob ich hierbleiben soll, um auf dich aufpassen zu können, weil er schon längst von dir weiß und dich wahrscheinlich nicht in Ruhe lassen wird, nur weil ich nicht mehr da bin."
„Bitte!", unterbreche ich seinen Redefluss. „Bitte, Harry! Tu mir das nicht an! Du darfst nicht schon wieder gehen!"
Er lässt ruckartig meine Hände los und steht wieder aufgewühlt auf, als könnte er in so einer wütenden Verfassung keine menschliche Nähe ertragen. Er scheint sichtlich mit sich zu ringen.
„Meine Nähe tut dir nicht gut, aber wenn ich nicht da bin, kann ich mir nicht sicher sein, dass dir nichts passiert! Verdammt, ich hätte in dem Moment abhauen sollen, als ich gesehen habe wie du in deinen Latzhosen aus dem quietschgrünen Umzugswagen gesprungen bist und dem Umzugshelfer hinterhergerufen hast, dass er gefälligst vorsichtig sein soll mit dem antiken Nachttischchen deiner Großmutter!"
Ich realisiere vor Freude über seinen scheinbaren Entschluss erst wenige Sekunden später, was er gerade eben von sich gegeben hat. Er wusste seit über vier Monaten, dass ich hier in London bin? Seit ich hierhergezogen bin, weiß er von mir, und hat sich nicht ein einziges Mal blicken lassen, bevor ich zufällig zu ihm in die Werkstatt gekommen bin? Nachdem, was er mir heute erzählt hat, kann ich ihm noch nicht einmal Vorwürfe machen. Er hat es anscheinend tatsächlich versucht. Ich hätte mich nicht über vier Monate von ihm fernhalten können, hätte ich gewusst wo er war. Und vielleicht hätte er es noch länger geschafft, wäre ich nicht eines Tages bei ihm aufgekreuzt. Es ist also meine Schuld und nicht seine. Aber dennoch, ich bereue es in keiner Weise, auch, nachdem was heute Abend passiert ist.
„Sag mir bitte, dass du bleiben wirst!", flehe ich ihn an. Ich will endlich nicht mehr nur hoffen müssen.
„Er weiß jetzt wo du wohnst!", macht er mir klar, als wäre das Antwort genug.
„Und... so lange du nicht von hier verschwinden wirst, werde ich es auch nicht tun!" Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen und ich wäre ihm am liebsten in die Arme gesprungen, doch fällt mir in dieser Sekunde etwas Anderes ein.
„Verdammt! Ich sollte erstmal die Polizei rufen und die ganze Sache von heute Abend melden!" Ich springe von der Couch auf und sehe mich instinktiv nach meinen Sachen um, als mir bewusst wird, dass ich gar nichts aus meiner Wohnung mitgenommen habe.
„Das habe ich alles schon erledigt!", unterbricht Harry meine wirren Gedanken und ich sehe ihn fragend an.
„Ich habe ihnen erzählt, dass es irgendwelche Einbrecher waren, die zufällig in deine Wohnung gekommen sind, während du nicht da warst und wahrscheinlich aus Frust, dass sie nichts Wertvolles finden konnten, alles zerstört haben!", erklärt er mir sachlich.
„Aber Harry! Sollten wir nicht die Wahrheit erzählen? Dadurch könnte Sebastian vielleicht in den Knast wandern und auch Zach könnte man vielleicht irgendwie mit der Sache in Verbindung bringen!"
„Nein, Luna!", unterbricht er mich harsch, doch wird sein Blick sofort danach wieder weicher. „Sebastian, dieser Feigling, ist sofort abgehauen, als ich mit den anderen beiden Scheißkerlen beschäftigt war, und glaube mir, die Polizei wird ihn nicht so schnell finden. In so etwas ist er leider viel zu gut. Und auch, wenn sie ihn tatsächlich finden sollten, bin ich genauso verwickelt in diese ganze Sache. Ich bin genauso ein Teil davon. Und so lange, wie ich das noch nicht geklärt habe, bitte ich dich nicht zur Polizei damit zu gehen! Ich weiß, das ist viel verlangt, aber..."
„Aber ist das nicht auch eine gute Möglichkeit für dich da raus zu kommen?", möchte ich von ihm wissen.
„Glaubst du darüber habe ich nicht auch schon tausendmal nachgedacht?", schnaubt er. „Ich bin zu sehr verstrickt in diese ganze Sache, so einfach ist das nicht. Ich kann dir das gerade nicht erklären, aber ich bitte dich..."
„Okay!", unterbreche ich ihn schnell. Wenn er das nicht möchte, werde ich es nicht tun. So wichtig ist es mir auch nicht, wenn Harry vor allem ein Teil davon ist. Scheinbar überrascht davon, wie schnell ich nachgegeben habe, atmet er hörbar aus und fährt sich gestresst durch die Haare.
„Danke!" Ich nicke darauf nur stumm als Antwort.
„Okay, wir sollten langsam los, ich habe heute noch etwas Wichtiges zu erledigen!", sagt er jetzt, als er sich schon auf die Tür zu bewegt.
„W...was? Wohin soll ich denn gehen? Ich glaube nicht, dass meine Wohnu-"
„Natürlich nicht, Luna. Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt alleine dorthin zurückschicke. Ich bringe dich zu Natalie. Ihr habe ich das gleiche erzählt wie auch der Polizei!" Ich weiß nicht, welcher Teil meines Körpers sich gerade dagegen sträubt bei meiner besten Freundin übernachten zu müssen. Wie schon etliche Male davor. Wahrscheinlich ist es der Teil, der sich in diesem Augenblick einzig und allein in Harrys Nähe sicher fühlen kann.
„Kann ich nicht bei dir bleiben, Harry?", frage ich also gerade heraus. Doch er schüttelt vehement den Kopf und zerstört dadurch meine Hoffnungen.
„Auf gar keinen Fall! Zach weiß wo ich wohne und da ich noch was besorgen muss, wäre es viel zu riskant dich alleine hier zu lassen!" Diese Erklärung ergibt zwar Sinn, aber dennoch kann ich die Enttäuschung in meinem Blick nicht verbergen. Ich trotte hinter Harry her Richtung Ausgang, bevor dieser sich vor der Garderobe noch einmal zu mir umdreht und mir ein schwarzes Kleidungsstück hinhält.
„Hier, den kannst du anziehen! Ich habe vorhin nicht daran gedacht, dir eine Jacke aus deiner Wohnung mitzunehmen!" Ich greife dankbar nach dem offensichtlich viel zu großen Pulli und schlüpfe schnell hinein, während ich versuche mit Harrys Schritten mitzuhalten, als dieser durch den Flur Richtung Aufzug läuft. Ich versuche nicht zu offensichtlich daran zu riechen, aber dieser unheimlich schöne, vertraute Geruch tut einfach zu gut. Mal sehen, wann ich mich jemals wieder von diesem Pulli werde trennen können. Wahrscheinlich muss er mir irgendwann operativ entfernt werden, denke ich, als ich hinter Harry in den Aufzug steige, welcher diesmal zum Glück nichtwieder aus Glas ist. Und außerdem bin ich nicht alleine, weshalb ich den Gedanken, ich könnte wieder eine Panikattacke bekommen, gar nicht erst zu Ende denke.
Kurze Zeit später mache ich es mir auf dem riesigen Ledersitz in Harrys Auto bequem und scheine dabei beinahe in diesem wohlig warmen Pulli zu versinken, doch es macht mir nichts aus. Obwohl dieser Abend absolut schrecklich war, ist mir dennoch danach zu lächeln. Harry konnte sich mir endlich ein Stück weit anvertrauen, er hat mich vor Sebastian gerettet und er hat mir versprochen, dass er definitiv bleiben wird. Und er hat zugegeben, dass er sich nicht länger von mir fernhalten konnte. Dieser Gedanke lässt mein Herz augenblicklich höherschlagen. Ich betrachte ihn von der Seite während sein Blick gedankenverloren auf die Straße gerichtet ist. Ich könnte wirklich Ewigkeiten hier sitzen bleiben, einfach nur, um ihn anzusehen und bei ihm zu sein. Deshalb bin ich auch beinahe schon traurig, als er viel zu schnell vor Natalies Wohnung anhält.
Ohne ein Wort steigt er aus und ich folge ihm widerwillig zur Haustür, vor welcher er einfach nur stehen bleibt und mich ansieht. Langsam hebt er seine Hand und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor er seine warme Hand an meine Wange legt. Oh mein Gott! Ich bin es noch nicht gewohnt, dass ich so dermaßen heftig auf Körperkontakt mit Harry reagiere, doch die angenehmen Stromschläge, die diese Berührungen durch meinen Körper jagen, lassen mich augenblicklich meine Augen schließen. Muss er denn wirklich wieder weg? Kann er nicht einfach bei mir bleiben und mich in den Arm nehmen? Wenigstens heute?
„Ich hasse es, dass ich dich jetzt alleine lassen muss!", unterbricht er die angenehme Stille und ich schlage sofort wieder meine Augen auf. Himmel, dann tu es nicht! Seine Aussage sorgt dafür, dass sich mein Puls sofort beschleunigt.
„Wieso machst du es dann?", flüstere ich aus Angst, meine Stimme würde sonst zu gebrochen klingen.
„Ich habe keine Wahl!" Sein Blick verdunkelt sich und er zieht wieder seine Augenbrauen angestrengt zusammen. Bevor ich jedoch die Möglichkeit habe, ihm zu antworten, wird die Haustür ruckartig aufgerissen, weshalb Harry seine Hand schnell sinken lässt.
„Oh mein Gott, Luna! Dir geht es gut! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!", begrüßt Natalie mich mit einer überstürzten Umarmung. Doch ihre Miene wechselt sofort zu ungläubig, als sie zu Harry sieht. „Ihr wisst schon, dass ihr auch die Klingel verwenden könnt, oder?" Mit einem eigenartig eindringlichen Blick sieht sie zwischen uns beiden hin und her. Verwirrt versuche ich mich zu sammeln.
„Wir haben nur..."
„Ich sollte jetzt gehen!", rettet Harry mich jedoch vor einer peinlichen Antwort. Mit einem Blick zu Natalie sagt er noch: „Pass auf sie auf!", bevor er auf dem Absatz kehrtmacht und auf sein Auto zusteuert.
„Luna, du", beginnt Natalie, doch ich unterbreche sie mit einer Handbewegung, bevor ich Harry hinterherlaufe.
„Warte!", halte ich ihn auf und er dreht sich erwartungsvoll zu mir um. Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich noch von ihm wollte, ich weiß nur, dass ich ihn bei mir haben möchte. Weil ich keine Ahnung habe, was ich jetzt sagen soll, schlinge ich einfach wortlos meine Arme um seinen Oberkörper. Zuerst versteift er sich wieder, da er solch menschliche Nähe anscheinend wirklich nicht gewohnt ist, doch dann legt auch er seine Arme um mich und streicht mir beruhigend über den Hinterkopf, während ich mein Gesicht nur gegen seine Brust drücke, um seinen Geruch noch intensiver in mich aufzunehmen. An diese Umarmungen könnte ich mich wirklich gewöhnen. Viel zu schnell löst er sich allerdings wieder von mir, mit einem Blick der mir sagt, dass er nun wirklich gehen muss. Ich sehe zu, wie er mit seinem schwarzen Range Rover in der Finsternis verschwindet.
Ein lautes Räuspern reißt mich aus meinen Gedanken und ich schrecke kurz auf, als ich Natalie plötzlich neben mir stehen sehe.
„Ich glaube, du hast mir noch sehr viel zu erzählen!", sagt sie, als wäre es eine Aufforderung. Aber sie hat Recht. Ich habe seit Harry hier ist viel zu wenig mit meiner besten Freundin geredet. Ich bin es ihr definitiv schuldig. Und so erzähle ich ihr an diesem Abend alles, was sie über Harry und mich wissen muss. Natürlich kann ich ihr seine Geheimnisse nicht einfach so anvertrauen, aber ich kann sie nicht länger über den wichtigsten Teil meiner Vergangenheit anlügen. Den einen Menschen, der mir wichtiger ist, als mein eigenes Leben.
Hm, kinda don't like that chapter very much...
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