Kapitel 35
Ohne es meinem Körper befohlen zu haben, springe ich augenblicklich auf und laufe zu Harry. Ich mache mir gerade keine Gedanken darüber, wie er auf den plötzlichen Körperkontakt reagieren könnte, als ich ihm überstürzt in die Arme falle. Ich konnte einfach nicht anders. Ich konnte der Frau, die sich meine Mutter nennt, nicht länger in die Augen sehen.
Überrumpelt von meiner plötzlichen Umarmung versteift Harry sich, doch legt er nach ein paar Sekunden seine Arme um mich und entspannt sich wieder. Ich versuche einen Schluchzer zu unterdrücken, da ich schon meine Tränen nicht aufhalten kann, doch es gelingt mir nicht. Beruhigend streicht er mir mit seinen Händen über den Rücken, sodass ich beinahe vergessen könnte, dass meine Eltern immer noch hier sind, würde sie mich nicht mit ihrer nervigen Stimme wieder daran erinnern.
„Was soll das?", fragt meine Mutter uns beide, doch ich ignoriere sie.
Kann sie bitte einfach gehen? Ich möchte sie gerade nicht sehen!
„Was ist hier los?", will jetzt Harry von mir wissen und er löst sich ein wenig von mir, um mich ansehen zu können. „Hey!" Er legt seine Hände um mein Gesicht und wischt mir mit seinen Daumen die Tränen von meinen Wangen, während meine Arme immer noch um seinen Oberkörper geschlungen sind.
„Würdest du mich bitte nicht ignorieren, Luna!" Nun wird auch meine Mutter wütender, doch ich möchte mich nicht zu ihr umdrehen. Ich will nicht mit ihr sprechen.
„Sie soll einfach gehen!", murmele ich leise zu Harry. Er nickt schwach und wendet sich dann meinen Eltern zu.
„Caroline, Martin, würdet ihr bitte das Lokal verlassen?"
„Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich habe mit meiner Tochter gesprochen!" Der abwertende Ton meiner Mutter bringt mich schließlich doch dazu, mich von ihm zu lösen und mich umzudrehen. Sie sieht immer noch Harry an und in ihren Augen spiegelt sich purer Hass. Tiefsitzender, purer Hass.
„Deine Tochter möchte aber, dass du sie in Ruhe lässt! Wir öffnen erst in einer Stunde wieder, also..."
„Wir? Ihr arbeitet zusammen?", geschockt sieht sie mich an. „Hast du gar nichts zu deiner Verteidigung zu sagen, Luna?"
„Ich muss mich für nichts entschuldigen!"
„Du könntest dich dafür entschuldigen, dass du mich angelogen hast und nicht auf mich gehört hast, Fräulein!"
„Deine Tochter ist erwachsen, Caroline, ich glaube sie ist nicht mehr gezwungen auf dich zu hören!", antwortet Harry für mich.
„Sprich gefälligst nicht mit mir!", unterbricht sie ihn lautstark und ich starre sie fassungslos an. „Ich habe mit meiner Tochter geredet!"
Wütend stelle ich mich vor Harry, als wolle ich ihn vor ihr beschützen.
„Hey! Du redest gefälligst nicht so mit ihm!", befehle ich ihr, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist.
„Ich rede so mit ihm, wie er es verdient hat!" So viel Verachtung ist in ihren sonst so freundlichen blauen Augen zu erkennen, dass es mir eiskalt den Rücken runter läuft.
„Und du!", spricht sie weiter und zeigt mit dem Finger auf Harry. „Du hältst dich gefälligst von meiner Tochter fern, ist das klar? Du wirst nicht ihr Leben verpesten oder sie in Gefahr bringen!"
Sie will einen Schritt auf mich zu machen, doch weiche ich vor ihr zurück und stelle mich wieder zu Harry, welcher diesmal derjenige ist, der sich schützend vor mich stellt. Diese Unterhaltung macht mich so fertig, dass ich beinahe den Boden unter den Füßen verliere, und so klammere ich mich an Harrys Arm fest, als wäre er in diesem Moment meine letzte Rettung.
„Das werde ich nicht tun!", versichert er ihr mit ruhiger, bestimmter Stimme. „Ich werde so lange hier bleiben, bis sie von sich aus will, dass ich sie in Ruhe lasse!" Was nie passieren wird...
„Luna du kannst doch nicht-"
„Okay, das reicht jetzt! Stopp, Caroline!", wird sie von meinem Vater unterbrochen, der die ganze Zeit kein Wort von sich gegeben hat. Doch jetzt liegen alle Augen gespannt auf ihm.
„Du kannst es nicht mehr ändern! Es ist schon immer so gewesen, und wenn du denkst, dass es jemals anders sein wird, dann hast du dich gewaltig geirrt!"
Wo von spricht er?
„Es hätte aber nie so sein dürfen!", beharrt sie immer noch wütend auf ihrer Meinung.
„Sieh sie dir doch an!", fordert mein Vater sie auf, während er mit dem Finger auf Harry und mich zeigt. Ich kralle mich fester in seinen Arm.
„Wie kannst du nur denken, dass das nie hätte sein dürfen?"
„Es war vielleicht früher so, aber du weißt genau, was passiert ist. Wir hätten es von Anfang an verhindern können, aber jetzt ist es zu spät! Er vergiftet sie und ihr Leben! Er ist gefährlich!"
„Ich fasse es nicht, dass du immer noch so denkst! Du weißt in was für ein Loch unsere Tochter gefallen ist, als Harry aus ihrem Leben gerissen wurde und du hattest nicht ein einziges tröstendes Wort für sie. Und jetzt wo er wieder da ist, willst du sie erneut auseinanderbringen?"
„Du weißt was er getan hat!", schreit sie ihn plötzlich an, sodass ich zusammenzucke. Jetzt wird auch mein Vater wütender.
„Nein, das weiß ich nicht und du genau so wenig!"
„Doch wir wissen es! Und trotzdem unterstützt du... diese Beziehung?"
„Und ob!"
Als hätte er einen unsichtbaren Ausknopf gedrückt, scheint meine Mutter sich wieder zu beruhigen. Die Wut scheint aus ihrem Gesicht gewichen zu sein und sie sieht meinen Vater nur noch ungläubig an.
„Sieh sie dir doch an, Caroline. Sieh dir die beiden genau an und sag mir, dass das nicht sein darf!"
Doch sie sieht uns nicht an. Sie würdigt uns keines Blickes mehr.
„Darüber sprechen wir noch, Martin!"
Das sind ihre letzten Worte bevor sie sich ihre Tasche schnappt und aus der Tür stolziert. Als ich mich wieder entspanne, merke ich erst, wie fest ich mich an Harrys Arm geklammert habe. Mein Vater atmet gestresst aus und sieht uns dann mitleidig an.
„Ich werde mit ihr sprechen!" Er will sich gerade umdrehen und gehen, als ich ihn noch mal aufhalte.
„Dad!" Er sieht mich abwartend an. „Ich...", stammele ich, doch weiß nicht wie ich mich ausdrücken soll, also sage ich nur: „Danke!"
Er nickt mir schwach zu und sieht dann noch einmal Harry an, als wolle er ihm irgendwas mit seinen Blicken sagen. Dann verschwindet er ebenfalls durch die Eingangstür.
Ich habe so viele Fragen. So viele neue Fragen haben sich in diesem Gespräch aufgetan, auf die ich die Antwort nur zu gerne wissen würde. Doch gerade in diesem Moment... habe ich nicht die Kraft dazu. Harry löst seinen Blick als Erster von der Eingangstür und sieht mich mit seinen grünen Augen direkt an. Wie so oft kann ich seine Emotion nicht deuten.
„Es tut mir leid!", sage ich deshalb nur, weil ich mich immer noch schuldig fühle. Ich löse mich von seinem Arm und lasse mich auf einen der Stühle fallen.
„Was tut dir leid?" Harry setzt sich auf einen Stuhl mir gegenüber und sieht mich verwirrt an.
„Ich wusste nichts von dir und deinen Eltern, Harry. Ich habe nicht nachgedacht, als ich meiner Mum erzählt habe, dass ich dich getroffen habe, ich wollte doch einfach nur mit jemandem darüber sprechen. Ich wusste nicht, dass sie immer noch so darauf reagiert, ich dachte immer, es sei nur eine Phase gewesen. Aber ich hätte wissen sollen, dass sich das nicht geändert hat. Ich hätte es wissen sollen, Harry. Es tut mir so leid!", sprudelt es wie ein Wasserfall aus mir heraus. Harry greift über den Tisch nach meinen Händen und umschließt sie mit seinen. Sofort fängt meine Haut an dieser Stelle an zu kribbeln. Wann ist das bloß passiert? Seit wann ist es mir nicht mehr möglich, Harry zu berühren ohne, dass... so etwas passiert.
„Luna!", sagt er ruhig während er versucht Blickkontakt mit mir herzustellen. Ich schäme mich so, weshalb mein Blick nach unten gerichtet ist, doch schließlich gebe ich nach. Seine Augen strahlen eine unglaubliche Wärme aus. „Es ist nicht deine Schuld! Du konntest es doch nicht wissen!" Sein Daumen streicht mir beruhigend über den Handrücken während wir immer noch den Blickkontakt halten. Ich würde am liebsten ewig hier sitzen und nur in diese wunderschönen grünen Augen sehen. Seit wann passiert es, dass ich mich jedes Mal in ihnen verliere, wenn ich sie nur für eine Sekunde betrachte?
„Wirst du jetzt wieder gehen?", frage ich ihn kleinlaut. Ich habe unglaubliche Angst vor seiner Antwort. Natürlich ist nichts mehr wie früher, Harry und ich sind jetzt andere Menschen, aber bereits nach diesen wenigen Wochen bin ich mir nicht sicher, ob ich es überleben würde, wenn er noch einmal einfach so aus meinem Leben verschwinden würde.
„Luna, ich", setzt er an doch wir werden von einem Knarzen der Eingangstür unterbrochen. „Wir haben geschlossen!", ruft Harry dem schwarzhaarigen Mann, der gerade das Lokal betreten hat, zu, ohne sich umzudrehen und ohne meine Hände loszulassen.
„Ich weiß!", gibt er amüsiert von sich und ich sehe ihn verwundert an. Seine Erscheinung hat etwas Bedrohliches an sich, das fällt mir sofort auf. Komplett in schwarz gekleidet, ein großes Schlangentattoo am Hals und eine dunkle Aura. Ähnlich wie bei Harry. Doch dieser Kerl macht mir noch viel mehr Angst.
„Ich dachte du hättest vielleicht eine Minute. Ich würde gerne mit dir plaudern, Harry!" Harry erstarrt. Für den Bruchteil einer Sekunde erkenne ich so etwas wie Furcht in seinen Augen. Schnell lässt er meine Hände los, als würde er erst jetzt realisiert haben, wer ihn da angesprochen hat. Was ist denn nur los mit ihm? Ist das etwa noch jemand, der etwas dagegen einzuwenden hat, dass Harry und ich uns nahestehen?
„Was willst du hier?", fragt Harry den unbekannten Mann, der jetzt durch das Lokal läuft und sich interessiert umsieht.
„Ich wollte mir mal ansehen, wie du so arbeitest! Komm schon, schau nicht so, ich dachte wir seien Freunde! Mich interessiert es eben, was du so in deiner Freizeit treibst!" Harry schnaubt verächtlich.
„Dass ich nicht lache! Dich interessiert nur, wann du das nächste Mal die Möglichkeit bekommst, Zach in den Arsch zu kriechen!"
„Harry, ich will ehrlich zu dir sein... du bist ein Wichser! Aber irgendetwas sieht Zach in dir, frag mich nicht, ich weiß auch nicht was!" Harry funkelt ihn böse an, während er aufsteht und die Arme vor der Brust verschränkt. Sein ganzer Körper ist angespannt.
„Jetzt sag mir genau, was du hier willst, Sebastian, oder verpiss dich!"
Sebastian hebt angegriffen die Hände und schaut ihn gespielt empört an.
„Kein Grund so kribizig zu sein! Aber na schön! Ich sag's dir!"
Jetzt geht er auf Harry zu und legt ihm seinen Arm um seine Schulter, als wären sie die besten Freunde.
„Du weißt doch, wie das Geschäft eigentlich läuft, oder? Wenn jemand nicht zahlen kann, wird er abgeknallt!" Geschockt starre ich zu Harry, doch sein Blick bleibt kalt. Ihn scheint es nicht zu berühren, was Sebastian gerade gesagt hat, doch ich kann es nicht glauben. Kann es tatsächlich sein, dass Harry für diesen Zach... jemanden umbringen würde? Meine Gedanken schweifen wieder zu dem Überfall, doch werden sie von Sebastian unterbrochen, der weiterspricht: „In diesem Punkt hast du bereits versagt! Aber da Zach dich anscheinend gut leiden kann, hat er dir und deinem Freund Louis noch eine Chance gegeben!"
„Du kannst Zach ausrichten, dass er nicht seine kleine Schlampe vorbeischicken muss, um mir Dinge zu sagen, die ich bereits weiß!"
Harry schlägt Sebastians Arm weg, welcher diesmal derjenige ist, der sich anspannt. Doch er setzt wieder ein provozierendes Grinsen auf.
„Weißt du...so sehr vertraut er dir dann doch nicht. Er zweifelt daran, dass Louis es schaffen wird, seine Schulden zu bezahlen und du scheinst keine große Hilfe zu sein! Ich bin hier, um dir ein wenig Feuer unterm Hintern zu machen!"
Als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass die beiden nicht alleine sind, dreht er sich schwungvoll zu mir um und sieht mich eindringlich an.
„Na wen haben wir denn da? Ist das deine Freundin, Harry?"
Ich hasse es, wenn jemand über mich redet, als wäre ich nicht anwesend. Wir schauen beide zu Harry und warten interessiert auf seine Antwort. Er sieht mich nur kurz an, bevor er wieder zu Sebastian schaut und sagt: „Nur eine Arbeitskollegin!"
Autsch! Ich ignoriere das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust, als sich Sebastian auf den Stuhl neben mir setzt und mir dadurch plötzlich ganz nah ist. Zu nah.
„Eine ziemlich hübsche Arbeitskollegin!",sagt er zu Harry während er mein Gesicht eindringlicher betrachtet und seine Hand hebt um eine meiner Haarsträhnen um seinen Finger zu wickeln. Wie als wäre ich erstarrt, bin ich nicht dazu in der Lage mich zu bewegen.
„Bist du sicher, dass es nur eine Arbeitskollegin ist? Habe ich euch nicht gerade bei etwas gestört?"
„Ich bin sicher!", versichert ihm Harry mit bestimmter Stimme. Tut er nur so ruhig, oder ist es ihm tatsächlich egal, dass dieser Kerl mir gerade gefährlich nah ist?
„Na dann, macht es dir doch bestimmt nichts aus!" Wovon spricht er? „Also, Liebes, wie ist dein Name?", fragt er mich anzüglich, während ich spüre, wie er seine große Hand auf meinen Oberschenkel legt. Sofort springe ich auf, sodass der Stuhl auf dem ich gesessen habe nach hinten umfällt.
„Fass mich gefälligst nicht an!" Er widert mich an. Ich schaue zu Harry, als würde ich mir Beistand von ihm erhoffen, doch er betrachtet diese Situation nur teilnahmslos. Was ist denn nur los mit ihm?
„Verschwende nicht deine Zeit, Sebastian! Hast du nichts Wichtigeres zu tun?"
„Wichtigeres? Ich finde es ziemlich wichtig, herauszufinden, mit welchen Menschen der ewige Alleingänger Harry Styles seine Zeit verbringt! Meinst du nicht, dass das Zach interessieren würde?"
„Zach sollte nur interessieren, dass Louis pünktlich zahlen wird, sonst nichts!"
Jetzt steht auch Sebastian wieder auf und geht auf Harry zu.
„Wie du meinst, Harry! Aber dann macht es dir doch bestimmt nichts aus, wenn ich deiner Arbeitskollegin weitere Besuche abstatte, oder? Ich meine sie ist wirklich eine Schönheit, ich würde sie nur zu gerne näher kennenlernen!"
Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Schon allein bei dem Gedanken daran, diesen widerlichen Kerl jemals wieder sehen zu müssen, wird mir schlecht. Ich sehe zu Harry und warte auf eine Reaktion von ihm. Wenigstens jetzt kann er doch etwas sagen, oder? Aber er bleibt immer noch ruhig, während er zu Sebastian spricht: „Tu, was du nicht lassen kannst!"
Ist das sein Ernst? Mit großen Augen schaue ich zwischen den beiden Männern hin und her. Hat er das gerade wirklich gesagt?
„Ich habe immer gedacht, du wärst einfach nur eiskalt und berechnend. Dafür habe ich dich immer bewundert. Aber weißt du... gerade solchen Menschen sieht man es sofort an, wenn sie ein einziges Mal Schwäche zeigen!"
Sebastian wirft mir noch einen kurzen Blick zu während er auf die Tür zugeht. Mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht, dreht er sich noch mal zu uns um.
„Pass gut auf deine Schwachstelle auf, Harry!"
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