Kapitel 22
In dem Moment, als ich mit Natalie vor die Tür trete bereue ich es, keinen Schal angezogen zu haben. Ich weiß zwar genau, wie kalt es in dieser Jahreszeit in London immer ist, aber heute ist es auch noch besonders windig.
Geschlagene vier Stunden sind vergangen, seitdem ich Natalie beinahe den Schädelknochen zertrümmert hätte und in denen wir nichts Anderes gemacht haben, als zu reden und Tee zu trinken. Sie war zu Fuß die paar Blocks zu mir gelaufen, um den Kopf frei zu bekommen, wie sie mir berichtet hat und nun laufen wir gemeinsam zurück zu ihr nach Hause, damit sie mich mit ihrem Auto zum Restaurant bringen kann zu meinem hoffentlich wieder funktionsfähigen Wagen.
Sie hat mir erzählt, wie Rufus ihr den Antrag gemacht hat. Ganz romantisch hatte er ihre Wohnung mit einer Spur von Rosenblättern dekoriert, die sie zu ihrem Schlafzimmer geführt hatte, welches ebenfalls mit zahlreichen roten Rosenblättern und vielen Duftkerzen dekoriert war. Und beinahe ganz unscheinbar, lag mitten auf ihrem Bett ein kleines schwarzes Kästchen aus Samt. Obwohl sie beinahe zu Tränen gerührt war, konnte sie ihm nicht sofort antworten. Und was ich sehr an Rufus schätze, obwohl ich ihn nicht besonders gut kenne, ist, dass er sie nicht sofort dazu drängt zu antworten. Er lässt ihr so viel Zeit, wie sie braucht und er hat ihr gesagt, dass sie nur wissen soll, dass er sie von ganzem Herzen liebt, und dass er immer da sein wird. Und sollte sie auch noch Jahre brauchen, würde er auf sie warten.
Als Natalie die Ereignisse ihres letzten Abends so knapp zusammengefasst hatte, wäre mir beinahe das Herz geschmolzen, so gerührt war ich davon. Aber ich kann Natalie auch verstehen, dass sie noch Zeit braucht. Sie ist immerhin erst 21. Rufus sei sechs Jahre älter und wüsste anscheinend schon genau, wie sein Leben aussehen sollte, aber Natalie wäre sich noch zu unsicher. Sie wüsste zwar hundertprozentig, dass sie Rufus liebt, doch sei ihre Zukunft so ungewiss, dass es ihr Angst macht. Sie hatte niemals damit gerechnet möglicherweise so früh in ihrem Leben zu heiraten, und obwohl sie glaubt, dass Rufus ihre große Liebe ist, kommt es ihr zu unwirklich vor, als dass sie davon nicht verunsichert sein könnte.
Da ich selber keine Ahnung von dieser Gefühlsduselei habe, war ich vielleicht nicht die beste Ansprechpartnerin, was dieses Thema angeht. Alles was ich ihr sagen konnte, war, dass sie auf ihr Herz hören soll. Und wenn sie Rufus wirklich liebt, dann soll sie es ihm sagen, aber sich deswegen nicht dazu verpflichtet fühlen, etwas zu tun, wozu sie noch nicht bereit ist. Wenn sie in diesem Alter noch nicht heiraten will, soll sie es ihm einfach sagen, er würde es bestimmt verstehen, vor allem weil sich beide ihrer Liebe für einander zu hundert Prozent sicher sein können.
„Danke noch mal, Luna!", wendet sie sich jetzt an mich, als wir mit ihrem Wagen vor dem Restaurant im Halteverbot stehen bleiben.
„Na ja, ich war jetzt nicht die allergrößte Hilfe, aber-"
„Doch das warst du. Du hast mir geholfen meine Gedanken zu ordnen. Ich war so überwältigt von allem, dass ich nicht mehr klar denken konnte, und habe mich verpflichtet gefühlt ihm heute noch eine Antwort zu geben. Aber du hast mir noch mal vor Augen geführt worauf es wirklich ankommt, und hätte ich niemanden, um darüber zu reden, wäre ich vermutlich heute Nacht durchgedreht!", spricht Natalie in einem so schnellen Tempo, dass es mir schwer fällt ihr zu folgen. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht, als ich sie abgehetzt ausatmen höre.
„Komm her!", sage ich zu ihr und ziehe sie in eine innige Umarmung. „Du kannst jederzeit mit allem zu mir kommen!", versichere ich ihr noch mal.
„Ich weiß, und dafür liebe ich dich! Ich bin einfach so unglaublich dankbar dafür, so tolle Menschen in meinem Leben zu haben, dass ich es beinahe nicht wahrhaben kann!" Verdutzt löse ich mich aus der Umarmung und schaue ihr in ihre braunen Augen.
„Natalie, du bist heute so emotional!"
„Ja, es tut mir leid, morgen geht es mir bestimmt wieder besser!"
„Oh, ich habe nicht gesagt, dass das was Schlechtes ist, es ist-", setze ich an doch werde schnell von ihr unterbrochen.
„Okay, jetzt steig schon aus!" Ich kann nur den Kopf über ihr Verhalten schütteln, als ich am Türgriff ziehe und aus dem Wagen steige, nachdem wir uns verabschiedet haben. Ich laufe zu der Stelle an der mein Wagen immer noch steht und sofort kommen wieder Gedanken an das gestrige Geschehen in mir hoch. Das hätte alles so viel schlimmer ausgehen können, wenn dieser Junge statt einer Wasserpistole eine echte dabei ge- Durch das Klingeln meines Handys werde ich aus meinen Gedanken gerissen und kann mir zum Glück nicht mehr ausmalen, was alles hätte passieren können.
„Hey Schatz!", kommt mir die immer glückliche Stimme meiner Mum aus den kleinen Smartphone-Lautsprechern entgegen.
„Hi Mum!" Ich löse die Kabel von dem Ladegerät und verstaue es wieder in der weißen Plastikbox im Kofferraum.
„Erzähl, wie geht es dir? Was gibt es neues?"
„Du musst mich nicht jeden Tag anrufen, und fragen, ob was Neues passiert ist!" Ich verdrehe lächelnd die Augen und schwinge mich auf den Fahrersitz, wobei ich deutlich spüren kann, dass mir einige Stunden Schlaf fehlen. „Mir geht es gut, Mum!", versichere ich ihr dennoch, als ich sie seufzen höre. Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich ihr nichts von dem Beinahe-Überfall von gestern erzähle. Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen und dank Harry ist mir zum Glück nichts passiert.
„Das ist schön Schatz!" Ich stecke hoffnungsvoll den Schlüssel ins Zündloch und bete zu Gott, dass das Glück heute auf meiner Seite ist. Und tatsächlich, ich höre das vertraute Knallen des Motors, bevor ich auch schon vom Parkplatz rollen kann.
„Danke!", flüstere ich leise in Richtung Himmel.
„Wie bitte?"
„Oh, gar nichts! Und wie geht es euch? Seid ihr immer noch in Namibia?", frage ich sie.
„Kenia, Schatz! Und ja, aber wir sitzen schon am Flughafen und warten auf den Flieger nach Ägypten!"
„Ägypten?", frage ich sie überrascht. Ich erinnere mich daran, wie neidisch ich war, als sie mir alle ihre Reiseziele vorgeschwärmt haben. „Ich verzeihe es euch immer noch nicht, dass ihr das ohne mich macht!"
„Du hättest jederzeit mitkommen können!", ruft sie mir wiederholt ins Gedächtnis, als ich gerade einem zu weit in meiner Spur fahrenden Auto ausweichen muss.
„Nein, hätte ich nicht!" Wir haben dieses Thema schon oft besprochen, aber einerseits, wollte ich direkt nach meinem Abschluss studieren und andererseits wollten meine Eltern diese Reise bereits machen, bevor ich geboren wurde. Zu zweit, und diesen Urlaub wollte ich ihnen nicht ruinieren. Ich gönne es ihnen auch, aber das macht mich nicht weniger neidisch auf sie. Na ja, irgendwann werde ich es auf jeden Fall nachholen. Eine Weltreise war schon mein Traum seit ich ganz klein war und eigentlich wollten Harry und ich das irgendwann zusammen machen, aber da bin ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher.
„Und bei dir gibt es wirklich nichts Neues?", höre ich wieder meine Mutter nachhaken. Ich überlege, ob ich ihr von Harry erzählen soll. Einerseits habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch, wenn ich daran denke, wie sie immer reagiert hat, als ich über ihn gesprochen habe, nachdem er verschwunden ist. So als wäre es das Beste, wenn sich seine und meine Wege nie wieder kreuzen. Und doch, wollte sie mir nicht den Grund für ihr Verhalten sagen. Vorher war er für sie beinahe wie ein eigener Sohn, aber nachher... Andererseits, wäre es vielleicht eine gute Möglichkeit, doch noch etwas über ihn zu erfahren. Immerhin haben wir lange nicht über ihn gesprochen, und da ich mittlerweile erwachsen bin, redet sie vielleicht jetzt mit mir über ihn. Ich habe doch eigentlich nichts zu verlieren, oder doch?
„Na ja... da gibt es etwas, dass ich dir erzählen könnte...", setze ich also an.
„Wirklich? Hat es etwas mit Brian zu tun?", unterbricht sie mich fröhlich. Mit Brian? Oh ja, von ihm hatte ich ihr ja auch erzählt. An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht.
„Nein, ich... es hat nichts mit Brian zu tun... Ich habe Harry wieder getroffen."
Ich habe viele Reaktionen erwartet. Doch sie ist weder überrascht, noch wütend noch sonst irgendwas. Sie sagt lange Zeit kein einziges Wort. Als ich beinahe schon denke, dass die Verbindung abgebrochen ist, höre ich sie räuspern.
„Mum?", frage ich sie, weil ich einfach nicht länger warten kann. „Was ist mit ihm passiert?" Ich spüre, wie mir ungewollt die Tränen in die Augen stiegen und meine Sicht verschleiern, weshalb ich links blinke und auf irgendeinem Parkplatz eines öffentlichen Gebäudes zum Stehen komme.
„Luna, du darfst ihn nicht treffen!" Verärgert über ihre Aussage reibe ich mir die Augen. Wieso will sie, dass ich mich von ihm fernhalte? Wieso will Harry selber, dass ich mich von ihm fernhalte? Er ist doch kein kranker Psychopath. Na schön, vielleicht übt er illegale Freizeitaktivitäten aus, aber er würde mir doch niemals etwas tun. Wieso also, darf ich nichts mit ihm zu tun haben? Wenn mir jemand wenigstens den Grund dafür nennen würde, könnte ich es eventuell verstehen, aber es redet ja keiner mit mir!
„Wieso nicht?", motze ich meine Mutter also an.
„Er hat keinen guten Einfluss auf dich!" Ich höre an ihrer Stimme, dass sie versucht meinen Fragen auszuweichen.
„Keinen guten Einfluss? Er hat mich fast mein ganzes Leben lang beeinflusst! Warum kannst du mir nicht einfach die Wahrheit sagen? Wieso ist er verschwunden?" Auch meine Mutter wird wieder wütender. Das hätte ich vorhersehen können.
„Wir haben darüber gesprochen, Luna. Das willst du nicht wissen, glaub mir es ist besser so!"
„Wenn du willst, dass ich mich von ihm fernhalte, dann möchte ich auch wissen, wieso!"
„Er... ist kriminell!", stottert sie. Ach, was du nicht sagst! Bevor er verschwunden ist, war er es definitiv noch nicht, aber bedeutet das, das sie immer noch über ihn und sein jetziges Leben Bescheid weiß? Sie klang aber eher so, als wäre das eine Notlüge.
„Wo ist er jetzt, Luna? Wo wohnt er, habt ihr viel Kontakt?" Was? Wieso möchte sie denn wissen, wo er wohnt? Ohne darüber nachzudenken antworte ich: „Keine Ahnung, Mum. Ich habe ihn nur einmal getroffen!" Ich wundere mich über mich selber, dass ich sie angelogen habe, doch irgendwie war es ein Instinkt nichts Weiteres über ihn zu erzählen. Es erschien mir nicht richtig. Es war schon ein Fehler ihn überhaupt zu erwähnen. Aber verdammt, ich wollte doch nur mit irgendeiner Person über ihn reden.
„Okay gut!" Ihre Stimme wird wieder sanfter.
„Glaub mir, es ist besser so Spätzchen. Versuch am besten nicht, wieder den Kontakt zu ihm aufzubauen!"
„Vielleicht... hast du recht!", versuche ich ihreinzureden, um dieses Gespräch mit ihr zu beenden. Während ich mein Handysinken lasse blicke ich mir in dem kleinen Rückspiegel in meine blauen Augenund kann die Entschlossenheit darin erkennen. Vielleicht will mir keiner dabeihelfen, aber ich werde herausfinden, was damals passiert ist. Was mit ihm passiert ist. Um jeden Preis. Koste es, was es wolle.
Bisschen boring das Kapitel, sörry👀
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