9. Kapitel - Ein Echo am Ufer der Welt
"Die meisten glauben, dass die Stille voller Leere ist. Aber das stimmt nicht, Lili. Sie ist voller Antworten."
Der Nebel war ein grauer Schleier, der alle Farben verschlungen hatte. Jolie starrte die triste Eintönigkeit in der Ferne an. Auch wenn sie Jacks Umhang über den Teppich und sich gelegt hatte, um das lebensfrohe Rot vor den Buntglasgeiern zu verbergen, fühlte sie sich wie auf einer fliegenden Servierplatte.
"Wie weit willst du?"
Jolie strich mit den Fingern durch seine Fransen, weil es sie beruhigte. "Wir landen am Ufer und schauen uns von dort um."
Sie blickte zurück über ihre Schulter. Ihr Kamel stand teilnahmslos im Ozean und starrte in die Ferne, als würde es nicht verstehen, dass es am Ertrinken war. Die Kamelhöcker ragten noch aus dem Wasser, aber es waren nur zwei Inseln. So tief war ihre Stadt schon versunken.
"Was ist das?" Jolie blickte nach vorne, wo der wallende Nebel begann. In der Ferne trabten wandernde Träume auf langen Stelzenbeinen durch die Masse, doch das war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. "Da vorne. Nah am Ufer, aber etwas weiter im Inneren."
Der Teppich flog näher. Seine Fransen zitterten, genauso wie Jolie zitterte - was nicht nur an der Kälte lag. "Wo?"
Einen Moment hatte sich der Nebel gelichtet und Jolie hatte etwas gesehen. Etwas Großes. Sie deutete ans Ufer. "Teppich, kannst du dort landen?"
Die Dunkelheit hatte die Silhouette wieder verschlungen, so wie sie die beiden jetzt verschlang. Es fühlte sich an, als würden sie in eine Gewitterwolke eintauchen, aus der sie sich niemals befreien würden. Sie raubte Jolie die Luft, wie giftiger Rauch, und ließ ihre Brust schmerzen.
Die Dunkelheit war überall.
"Ahhh!", kreischte der Teppich plötzlich und Jolie fiel fast von ihm.
"Was ist?", rief sie.
"Mich hat etwas gepackt!"
Doch es war nur ein Ast. Sie erreichten den Boden. Knorrige Bäume ragten wie Klauen aus der verdorrten Erde. Wie lange, schwarze Finger, die unerwünschte Gäste packten und ins Verderben zogen.
Jolie schluckte schwer, als sie abstieg. Sie sah sich suchend um, doch er Nebel verschleierte ihre Sicht, sodass sie kaum fünf Meter weit sah. "Flieg zurück, Teppich", bat sie.
Doch dieser blieb, wo er war. "Ich lasse dich nicht alleine", sagte er mit belegter Stimme.
"Die Stadt braucht jemanden, der alles im Blick behält, falls ein Herbarianer kommt."
"Du brauchst mich, falls ein Herbarianer kommt. So wichtig alles in deiner Stadt sein mag, du bist wichtiger."
Jolie wollte den Teppich in Sicherheit wissen - aber sie wollte auch nicht allein sein. Deshalb widersprach sie nicht, als sie das Herbarium umklammerte und sich einige Schritte in den Nebel wagte. "Dann bleib nah bei mir. Es wird gefährlich", warnte sie.
Sie ging zwischen zwei klauenartigen Bäumen hindurch, die ein Tor ins Verderben bildeten. Ein Tor in den noch dichteren Nebel, der unter ihren Umhang glitt und eiskalt ihren Rücken hochkroch.
Sie konnte nicht sagen, wie lange sie liefen.
"Stopp!", rief der Teppich plötzlich und schoss vor sie, sodass sie gegen eine weiche Wand aus Fäden lief.
Jolie stolperte zurück. "Was -?"
Dann nahm sie die Geräusche wahr: Wellen. Wellen, die ans Ufer schwappten.
Teppichs plötzliche Bewegung hatte den Nebel aufgewühlt und Jolie wedelte mit dem Buch, bis sich der Anblick auf den Ozean freigab.
Der Ozean des Vergessens begann einen halben Meter vor ihren Füßen.
Erschrocken und irritiert blickte Jolie zurück. "Unmöglich." Waren sie vorbeigelaufen? Sie konnten nicht so weit gegangen sein - und doch wäre sie fast … "Danke, Teppich", flüsterte sie.
Ihre Gedanken schwappten wild durch ihren Kopf, so wie das graue Wasser des Ozeans ans Ufer schwappte. Die Wellen kamen und gingen, verwischten die Klarheit und vernebelten ihren Geist.
"Alles in Ordnung?"
Jolie riss sich zusammen. "Ja." Trotzdem wurde sie das bedrückende Gefühl nicht los, dass sie dem Wasser nicht zum letzten Mal so nahe gekommen war.
Ein Geier schrie über dem Ozean. Jolie schnappte Teppich an einem Zipfel und suchte ein Versteck, als ein Herbarianer, auf dem Buntglasgeier stehend, ans Ufer geflogen kam.
"Oh nein …", wimmerte der Teppich leise, denn es gab keine Verstecke weit und breit.
Jolie löste ihren Umhang und legte sich auf den Boden. "Schnell!"
Sie schaffte es gerade so, den dunkelblauen Stoff über sie beide zu ziehen und halbwegs mit dem schwarzen Boden aus Asche zu verschmelzen, als der Herbarianer knapp drei Meter neben ihnen landete.
Er stieg vom Buntglasgeier und stampfte durch die Asche. Sein schwarzer Umhang fegte hinter ihm her und zog eine Spur über den Boden, bis er einige Meter weiter stehen blieb.
"Er weiß, dass wir hier sind!", hauchte der Teppich. "Wir -"
Jolie drückte ihre Hand vor seine Fransen, als der Buntglasgeier plötzlich den Kopf drehte. Durch den Umhang sah sie nur einen Spalt. Seine schwarzen Knopfaugen hoben sich wie Kiesel vom matt schillernden Glas ab und glitten suchend durch die Gegend, bis sie genau auf Jolies trafen.
Tiefe, schwarze Augen, tiefer als möglich sein sollte.
Er kreischte laut.
"Was siehst du?", fragte eine Stimme. Sie war tief, männlich und rau.
Jolie hörte Schritte. Schwere Schritte von der Seite, die näher kamen. Ihr Kopf ratterte verzweifelt auf der Suche nach einer Rettung.
Der Geier flatterte auf sie zu. Jolie brauchte keine Mathematik, um auszurechnen, dass ihre Chancen schlecht standen, und mit jeder Sekunde Zögern asymptotisch näher an den Tod glitten.
Sie musste etwas tun. Irgendetwas.
Jetzt.
In dem Moment, als schwarze Stiefel in ihr Blickfeld traten, setzte ihr Herz einen Schlag aus.
Ohne weiter darüber nachzudenken, warf Jolie den Umhang hoch und sprang auf. "Ahhh!", schrie sie. Verscheuchte man Bären nicht, indem man sich groß machte und furchteinflößend wirkte?
Egal ob furchteinflößend oder nicht - überrascht hatte sie den Herbarianer auf jeden Fall. Er machte einen erschrockenen Schritt zurück, doch dort saß der Buntglasgeier und beobachtete sie. Sein Fuß blieb an dem überrumpelten Tier hängen und er stolperte nach hinten. Jolies Herbarium zischte wirkungslos durch die Luft. Sie hatte ihn damit zurückstoßen wollen, um mit dem Teppich zu fliehen, doch das war nun nicht mehr nötig. Der Herbarianer verlor das Gleichgewicht, taumelte zwei weitere Schritte zurück und fiel rücklings zu Boden - es machte Platsch und wurde totenstill.
Die Wellen schwappten ungestört weiter ans Ufer.
Der Schrei des Buntglasgeiers blieb ihm in der gläsernen Kehle stecken. Zu dritt starrten sie die finstere Gestalt an, die sich auflöste, als wäre sie selbst aus Wasser. Seine Kutte zerfloss zu einer schwarzen Pfütze und strömte ins Vergessen.
"Ach du dicke Franse -" Teppich starrte ins Grau des Ozeans.
Der Buntglasgeier schrie. Das Echo hallte über die endlose, vernebelte Ebene und dröhnte über das Land, über den Ozean, und war bestimmt noch in den wandernden Städten kilometerweit zu hören.
Dann breitete er die Flügel aus und stob davon.
"Oh mein Gott", flüsterte Jolie, das Herbarium noch in der Hand. Sie war zu einer Staue erstarrt. "Ich habe ihn umgebracht - schlimmer. Ich habe ihn ins Vergessen geschickt."
"Es war ein Versehen", widersprach der Teppich sofort, eh sie in der Panik versank. "Außerdem … es war ein Herbarianer."
"Ja", stimmte sie regungslos zu.
Teppichs Schreck wich der Aufregung. "Du hast innerhalb kürzester Zeit ganze zwei Stück zur Strecke gebracht! Jolie, du bist nicht nur dabei, deine Stadt zu retten, sondern das ganze Land der Fantasie!"
Nachdenklich starrte Jolie vom Ozean in den Nebel. Je weniger Herbarianer es gab, desto sicherer waren alle wandernden Träume. Was wäre, wenn sie sogar alle Träume retten konnte?
Ihr Blick landete auf einem Herbarium, dass in der Asche lag. "Er muss es fallen gelassen haben", vermutete sie und hob es auf. "Das heißt, er ist gerade vom Stehlen zurückgekommen."
Eine Stadt war gerade weiter untergegangen. Vielleicht hatte Teppich recht - was, wenn sie alle retten konnte? Oder retten musste? Hatte das Taxi sie deshalb hergebracht?
Der Teppich glitt neben sie. "Mach es nicht auf! Wer weiß, ob es noch leere Seiten gibt."
"Gibt es", sagte sie. Jolies Finger glitten über die Knospen des Vergissmeinnichts und sie hielt ihr eigenes Herbarium daneben, wo eine aufgeblühte Blume zu sehen war. "Jack hat gesagt, sie kanalisieren die Energie der getöte -" Sie unterbrach sich. "Gestohlenen Träume. Blumen brauchen Energie zum Wachsen und Blühen. Aber -" Sie runzelte die Stirn.
"Was?", fragte der Teppich nervös.
Jolie hob ihr Herbarium, wo unter anderem Jack eingesperrt war, und betrachtete es genauer. "Die Blume auf dem Einband vertrocknet."
Beide sahen sich an.
"Uns läuft die Zeit davon", stellte Jolie atemlos fest.
"In der Tat."
Die fremde Stimme ließ Jolie zusammenzucken. Der Teppich wickelte sich schützend um sie und klammerte sich an ihren Schultern fest.
Neben ihnen öffnete sich der Nebel wie ein Vorhang und gab den Blick auf drei verhüllte Gestalten frei.
"Wir haben dich erwartet, Jolie", sprach der Herbarianer in der Mitte.
Sie waren alle drei mit Herbarien bewaffnet.
Und hinter ihnen hockte eine Armee aus Buntglasgeiern.
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