15. Kapitel - Traum-Baum Magie
"Lili, sieh zu, dass du den Weg deines Schicksals einschlägst. Sonst kann es passieren, dass dich das Schicksal schlägt - mit einem Schicksalsschlag."
Die Worte hallten durch Jolies Kopf, wie ein niemals endendes Echo, und wurden qualvoll lauter. Ich bin es.
Die Herbarianerin hatte recht.
Ein Stöhnen riss sie aus dem Starren und sie wirbelte herum, die Gedanken rückten in eine dumpfe Ferne. "Jack!"
Seine Augenlider flatterten. "Bei aller Fantasie - ich fühle mich, als wäre eine wandernde Stadt auf mich getreten", murmelte er. "Was ist passiert?"
Jolie fiel ihm um den Hals, als er gerade den Versuch startete, sich aufrichten zu wollen. Er verlor sein sowieso nicht vorhandenes Gleichgewicht und fiel rücklings zurück auf den Ast. "Uff!"
Auch Teppich stürzte sich auf sie und schlang sich in einer so euphorischen Umarmung um sie, dass sie fast zu dritt vom Ast fielen. "Du lebst!", rief er froh.
Jolies Herz fühlte sich plötzlich leichter an, als sie ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen sah. Es ging ihm gut. Nur die Planlosigkeit ruhte in seinen Augen, die nervös durch die Gegend huschten.
"Na, das ist eine Begrüßung", lachte Jack. Dann erstarrte er und sein Arm, den er um Jolie gelegt hatte, verkrampfte sich. "Herbarianer!", flüsterte er. Er wollte sich aufrappeln und Teppich und Jolie hinter sich schieben, doch er war noch zu instabil auf den Füßen, sodass er erneut fast vom Ast fiel. Der Teppich war da, um ihn zu fangen.
"Nein - alles gut!", fiel Jolie dazwischen und kam ebenfalls auf die Beine. "Sie ist nicht die Böse."
"Davon Mal abgesehen, dass sie wie du aussieht, ist sie das sehr wohl. Lass dich nicht täuschen", warnte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Der Teppich flatterte neben ihn. "Leider muss ich dir widersprechen, Kumpel - auch wenn ich es selbst noch nicht ganz durchschaut habe. Jolie hat recht."
Jack zog die Augenbrauen wenn möglich noch mehr zusammen. "Ach ja? Und warum hat sie mich dann eingesaugt und-"
"Jack!" Jolie packte ihn am Arm, als er bedrohlich auf die Herbarianerin zugehen wollte und fast erneut umkippte. "Was ist mit ihm?", fragte sie ihr Ebenbild ängstlich.
Die Herbarianer-Jolie blieb weiterhin ruhig wie eine Statue stehen. Der Buntglasgeier auf ihrer Schulter wartete stumm. "Wie gesagt, ich habe ihn so gut es ging abgeschirmt. Aber er war vor mir drin, alleine. Es ist selten, dass jemand aus einem Herbarium befreit wird, deshalb kann ich nicht sagen, was aus ihm wird. Hoffe, dass er nur ein paar Minuten Ruhe braucht."
"Ruhe? Ich zeig dir gleich, was Ruhe ist-!"
"Jack!" Jolie hielt ihn zurück - nicht nur, damit er die Herbarianerin nicht angriff, sondern in erster Linie, weil sie sich Sorgen machte. Sie und Teppich tauschten einen nervösen Blick über Jacks Schulter.
Waren sie doch zu spät gekommen?
"Komm", bot der Teppich Jack an. "Ich bringe dich auf den neusten Stand und wir lassen Jolie und ... die andere Nicht-wirklich-Jolie kurz reden. Ich habe das Gefühl, dass sie noch ein paar Antworten braucht."
"Moment", unterbrach Jack. "Ich lasse Jolie nicht allein mit... der da."
"Schon gut", sagte sie. "Sie tut mir nichts. Die Herbarianer wollen auch meine Stadt retten. Oder wollten zumindest", fügte sie das Ende leise zu.
Jack verschränkte die Arme und blieb stehen, doch auf Teppich und Jolies bittenden Blick hin, bröckelte die Hartnäckigkeit. "Ich habe ziemlich viel verpasst, oder?", fragte er.
Jolie verzog den Mund. "Eine ganze Menge."
"Na dann ...", gab er unschlüssig nach. "Aber hier, die behältst du." Er drückte Jolie eine gelbe Kugel in die Hand - eine solche, mit der er sie einst vor den Buntglasgeiern gerettet hatte. "Zielen, werfen, explodieren lassen. Schrei, wenn du Hilfe brauchst." Damit trat er zu Teppich und die beiden hoben zwischen den abertausenden Blättern und Bäumen aus funkelndem Kristall ab.
Jolie sah ihnen hinterher, bis sie im gebrochenen Regenbogenlicht verschwunden waren. Sie wog die Kugel in der Hand und steckte sie vorerst ein.
"Also", begann sie und drehte sich zur Herbarianerin, die jedoch mit dem Geier einen Ast der Traum-Baum-Manufaktur näher betrachtete. Hunderte Traum-Bäume aus Kristall verzweigten sich als Blätter aus dem Baum, solange, bis sie Blatt und Baum nicht mehr auseinanderhalten konnte.
"Hier", flüsterte die Herbarianerin dem Geier-Baby zu. "Ein ewiger Kreislauf."
Als der Buntglasgeier sich bewegte, schimmerte das Glas seiner Flügel in denselben Regenbogenfarben, wie die Kristalle das Licht brachen - aber waren es wirklich Kristalle? Jolie lehnte sich näher und sah zum ersten Mal genauer hin.
Es waren kleine Bäume mit Blättern aus Glas.
"Wenn die Geier ihren Dienst getan haben, kehren sie hierher zurück: Zum Ursprung aller Fantasie."
Jolie drehte sich um. "Hier ist der Ursprung?"
"Fantasie ist Energie und kann nicht verloren gehen. In der Manufaktur entsteht die Energie, damit sie zu allen Städten gelangen kann und ihr Menschen eure Fantasie ausleben könnt. Wenn ihr euch etwas ausdenkt und ihm Leben schenkt, nimmt es Gestalt an. Doch irgendwann vergesst ihr. Wir sammeln diese sterbenden Träume und sie verwandeln sich in Buntglasgeier. Sie helfen uns, bis sie ausgedient haben. Wenn ihre Farbe verblasst, kehren sie an den Ursprung zurück und geben ihre Energie frei, damit etwas Neues entstehen kann. Ein ewiger Kreislauf. Leben, sterben, leben. Die übrige Zeit meiden sie diesen Baum meist, weil er so heilig ist."
Plötzlich bekam dieser Ort eine ganz neue Bedeutung. Jolie spürte die Energie um sich herum, die pulsierende Kraft des Lebens.
Sie strich mit den Fingern über eine Reihe kleiner Bäume. Es war das Zentrum des Landes der Fantasie - eine riesige Maschine, die alles am Laufen hielt und vereinte. "Dann kann ich doch meine Stadt retten", stellte sie fest. Hier fühlte es sich an, als sei es noch möglich.
"Die Herbarianer helfen dir nicht mehr."
"Das habe ich auch nicht gefragt." Jolie drehte sich abrupt zu ihrem Ebenbild. "Moment, woher weißt du eigentlich, dass ihr mir nicht mehr helft, wenn du doch die ganze Zeit im Buch festgesteckt hast?"
Die Herbarianerin richtete sich auf. "Ich weiß alles, was die anderen wissen, und sie wissen alles, was ich weiß. Wir sind kollektiv verbunden - verschiedene Körper, ein Geist. Nur das Herbarium schirmt es ab - sobald ich frei war, wusste ich alles. Auch, was du mit unserem Lager gemacht hast."
Plötzlich war Jolie nervös. "Aber wenn ihr verbunden seid ... dann wissen alle, dass ich hier bin."
"So ist es", bestätigte die Herbarianer-Jolie. "Keiner unterstützt dich - und doch werde ich dir ein paar Fragen beantworten, um dir vielleicht doch eine Chance zu geben. Nutze die Zeit weise. Ich beantworte dir nur drei Fragen, dann gehe ich zurück."
Hundert Fragen wirbelten in Jolies Kopf durcheinander. Sie schienen alle wichtig und unwichtig zugleich - welche sollte sie stellen?
Sie zögerte. "Du hast gesagt, dass ihr die Besitzer holt, wenn noch Hoffnung besteht. Das heißt, dass ich nicht die erste und einzige bin, die ihr hergebracht habt." Das Nicken ihres Gegenübers ließ sie fortfahren. Solange sie ihre Fragen als Aussagen verpackte, konnte sie mehr Informationen abklären. "Viele waren hier und haben ihre Stadt gerettet, obwohl sie schon halb untergegangen war. Wie haben sie das gemacht?"
"Jeder hat seinen Weg, um seine Stadt umzukehren oder sie das Fliegen zu lehren."
Damit war Jolie keinen Schritt weiter. Sie knirsche mit den Zähnen.
Doch die Herbarianerin war noch nicht fertig. "Für einige genügt es, diese Welt zu betreten und sich daran zu erinnern, wie fantastisch alles ist. Andere reden mit ihren Städten oder Fantasie-Freunden, bis sie das Träumen wieder lieben lernen - deine Oma zum Beispiel."
"Oma Martha?", wiederholte sie überrascht und erinnerte sich an ihre Worte: Sie war auch einst hier gewesen.
"Ja", bestätigte ihr Gegenüber mit einem gemeinen Lächeln. "Damit bleibt dir nur noch eine Frage."
Jolies Mund klappte auf. "Das zählte nicht als Frage!"
"Ich entscheide, was zählt, aber gut: Sie war hier, als sie gerade erwachsen wurde und in der harten Realität der Kriegszeit ihre Fantasie verloren hat. Ihre Stadt drohte unterzugehen, doch sie rettete sie."
Jolie wollte 'wie?' fragten, doch sie biss sich rechtzeitig auf die Zunge. Dann würde sie nur dieselbe Antwort bekommen.
Lange wägte sie die übrigen Fragen ab, eh sie weitersprach. "Als ich die Buntglasgeier eingesaugt habe, drohte das Buch zu explodieren und den Wirbel freizulassen. Wie damals hat einer von euch gesagt. Das heißt, dass er schon einmal freigekommen ist und dabei das halbe Land verschlungen hat. Was hat es damit auf sich?"
Die Herbarianerin nickte. "Eine gute Frage. In unseren Herbarien ist der Wirbel harmlos. Kommt er jedoch frei, will er alles verschlingen. Er ist die entscheidende Komponente, die die Träume tötet und daraus neues Leben erschafft - der Katalysator. Dafür braucht es jedoch diesen geschützten Brutraum der Seiten, ansonsten verschlingt er nur und bringt den Tod, statt in Neues umzuwandeln. In dem Fall ist er wie ein Energieloch, dass nur verschlingt und ein tödliches Eigenleben entwickelt", erklärte sie. "Einst hat ein solcher Wirbel über das halbe Land gewütet und die Erde verbrannt, sodass nur Asche übrig blieb. Das passiert, wenn jemand nicht behutsam ist, und den Wirbel statt als Mittel für etwas als Waffe gegen etwas verwendet. Es war eine düstere Zeit für alle - auch in eurer Welt, die vor allem von unerklärlicher Hoffnungslosigkeit geprägt war."
Der Buntglasgeier krächzte - die Fragezeit war vorbei.
Jolie wollte noch mehr über die Städte, ihre Oma und über die Herbarien wissen. Der Wirbel in den Büchern tötete ... - ging es Jack deshalb nicht gut, weil er anfangs allein und schutzlos dieser Macht ausgeliefert gewesen war, bevor die Herbarianerin ihn abgeschirmt hatte? Warum? Wollte sie ihn am Leben erhalten, weil er eine von Jolies größten Fantasie-Schöpfungen war und ihre Stadt damit am Leben hielt? Weil er noch eine starke leuchtende Lebensaura hatte?
Ihr wurde verstärkt bewusst, dass Jack, Teppich und alle anderen ihre Stadt zum Leben brauchten, und dass diese sie genauso brauchte. Keiner konnte ohne den anderen existieren - es war ein Wechselspiel. Ein Kreislauf.
"Deine Fragen sind aufgebraucht", sagte Herbarianer-Jolie. "Sieh es als kleinen Gefallen und Ausgleich dafür, was die anderen machen."
"Wie meinst du das?", fragte Jolie und ein ungutes Gefühl kroch in ihr hoch, wie eine Ranke, die sie erwürgen wollte.
Plötzlich schrie alles an der Situation nach Falle! Ihr Gegenüber faltete die Hände. "Wie gesagt, wir sind kollektiv. Warum sollte ich dir helfen und mich gegen meine Freunde stellen? Sie wussten und wollten, dass ich bei dir bin. Ich habe ihnen Zeit verschafft, damit sie das Heftigste vorbereiten können, was wir nur bei sehr wenigen Städten machen. Bei Städten, deren Besitzer das ganze Land gefährden."
Jolie starrte sie an. Ihre Hand verkrampfte sich um den Ball. Sie wollte schreien, doch ihre Stimme ließ sie in Stich. "Was bereiten sie vor?", fragte sie atemlos.
Herbarianer-Jolie lächelte - gemein, endgültig und doch mit einem Funken Traurigkeit. "Einen Schicksalsschlag."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro