14. Kapitel - Eine Feder aus bunten Antworten
"Die wahre Weisheit liegt nicht in den Worten, sondern zwischen ihnen. Lerne zuzuhören, Lili."
"Na endlich! Ich sitze hier wie auf glühenden Kohlen, mit dem Unterschied, dass das Buch gleich wirklich in Flammen aufgeht!", begrüßte sie eine aufgelöste Stimme, die viel zu nah neben Jolies Ohr schwebte.
Jolie öffnete die Augen und sah Teppichs kuscheliges Rot über sich. Sie ließ den zerbrochenen Wurzelstrang los. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte jemand sie mit dem Faktor sieben gestreckt und sich dafür zu wenig Zeit genommen. Stöhnend richtete sie sich auf.
Doch Teppich sah nicht mehr zu ihr. Wie bei einem Tennismatch blickte er von ihr zur anderen Jolie, die mit offenen Haaren neben dem Herbarium hockte, als machte ihr die Hitze nichts aus. Sie legte ihre Hand auf das Einband und schloss die Augen, um einem unsichtbaren Herzschlag zu lauschen. "Es ist soweit", flüsterte sie.
Das Buch zerbröselte unter ihren Fingern und der Umschlag brach auf - sie hatten es gerade rechtzeitig geschafft. Ein schillerndes Köpfchen streckte sich hervor und zwei schwarze Kulleraugen trafen auf Jolies. Der neu geborene Buntglasgeier befreite sich aus dem zerfallenden Buch, um entzückt in die Höhe zu fliegen.
Die Asche des verbrannten Herbariums dagegen rieselte herab - erst jetzt erkannte Jolie, wo der Teppich sie hingebracht hatte: Die Traum-Baum-Manufaktur. Der einzige Ort, wo Buntglasgeier nicht hinkamen.
Und doch flatterte einer zwischen ihnen, neben der Herbarianer-Jolie, die sanft den Arm ausstreckte und über das bunte Glas strich. "Ich bin es, Teppich."
Der Teppich neigte irritiert die Ecken, doch Jolie breitete die Arme aus und drückte ihn ganz fest an sich.
"Hast du Jack gefunden?", fragte er nervös. "Das letzte Mal, als du mich so gedrückt hast, wurde er nämlich gerade eingesaugt ... Du machst mir Angst."
Jolie löste sich. "Das war eine Danke-Umarmung", erklärte sie lächelnd. "Und Jack geht es gut, er-"
Doch als sie sich umdrehte, sah sie, dass es ihm ganz und gar nicht gut ging. Sie hatte gehofft, dass er wieder zu sich kam, sobald sie das Herbarium verließen, doch das war nicht so. Ihr Herz fiel wie ein Stein nach unten. War sie doch zu spät gekommen?
Jack lag immer noch regungslos auf dem Ast, als würde er seinen Tiefschlaf hier fortsetzen. Jolie ließ sich neben ihn fallen.
"Jack!", flehte sie und schüttelte ihn an den Schultern. Das Einzige, was sie bewirkte, war, dass sein Kopf von einer Seite zur anderen schwankte, als wollte er das Leben verneinen.
Der Teppich wimmerte. Er schwebte so nah über seinen Freund, als wollte er seine Atemzüge spüren, um zu testen, ob er noch unter ihnen weilte.
"Gib ihm ein paar Minuten", ertönte eine Stimme hinter ihnen.
Jolie drehte sich zur Herbarianerin, die mit gefalteten Armen auf dem Ast stand. Auf ihrer Schulter saß der neugeborene Buntglasgeier und beobachtete das Trio neugierig.
"Wird er wieder?" Sie traute sich kaum, die Frage zu stellen, denn wenn die Antwort ...
Herbarianer-Jolie blieb einen erschreckenden Moment stumm. "Ja", sagte sie schließlich. "Ich habe ihn so gut es ging abgeschirmt."
Zitternd kam Jolie wieder auf die Beine, doch sie musste sich direkt wieder hinsetzen. Auch wenn sie es noch nicht verstand, war die Hauptsache, dass es ihrem Freund besser gehen würde. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen. "Danke", sagte sie schließlich zur Herbarianerin. Ihre Gedanken wirbelten in einem Chaos hin und her und eckten an, sodass sie Kopfschmerzen hatte.
"Jolie ...", flüsterte der Teppich. "Ich sehe doppelt ..."
Lerne zuzuhören und hinzusehen.
Die Herbarianer sind nicht die Bösen.
"Alles in Ordnung, Teppich", sagte sie, als die Herbarianer-Jolie keine Anstalten machte, sie anzugreifen. Sie stand ruhig auf dem kristallklaren Ast. Auch wenn ein Teil in Jolie schrie, sie sollte ihre Gegnerin runterschubsen, fragte sie sich, ob es wirklich ihre Gegnerin war. "Hier im Baum herrscht Frieden, stimmt's?"
Die Herbarianerin nickte. "Vorerst Frieden."
Der Geier krächzte glücklich und flog einen Kreis um Jolie, eh er zu seiner Herrin zurückkehrte.
Diese hatte sich aus dem Nichts, in der einen Sekunde, als Jolie nicht hingesehen hatte, einen neuen Umhang beschafft. Der schwarze Stoff schmiegte sich um sie und verhüllte ihren Körper. "Ich weiß", sagte sie zum aufgeregten Geierbaby. "Deshalb ist sie hier."
"Was meinst du?", fragte Jolie.
Der sanfte Klang der Kristallbäume schwebte durch die Luft, wie ein Windspiel in einer Sommerbrise. Jedes Blatt des gigantischen Baums bestand aus einem weiteren Baum und das Licht brach sich in den Abermillionen Blättern, die rund wie Kristalltropfen waren. Jolie hatte das Gefühl, sie waren in einem Kokon aus Frieden. Der Teppich schwebte neben sie und legte sich auf ihre Schultern, sodass sie zum ersten Mal an diesem wahnsinnigen Tag darauf vertraute, dass sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit war.
"Bist du bereit, zuzuhören?", fragte die Herbarianerin.
"Ja", beschloss Jolie und erinnerte sich an Oma Marthas Worte. "Ihr seid nicht die Bösen, oder?"
Herbarianer-Jolie lachte. "Nein. Nur weil wir einen schwarzen Umhang tragen, heißt das nicht, dass wir böse sind."
"Ihr wirkt aber so", fiel der Teppich skeptisch ein. "Mit eurer monotonen 'ich sauge dich ein' und 'hier verbergen sich Leichen' Strategie macht ihr euch nicht unbedingt Freunde."
Herbarianer-Jolies Gesicht verdüsterte sich im Bedauern an die ausgeträumte Stadt. "Jolie, wir haben dich nicht grundlos hergeholt. Dass ich dich einsaugen wollte, tut mir leid. Ohne einen Hüter habe ich nicht richtig hingesehen. Hier." Sie flüsterte dem Buntglasgeier etwas zu und er streckte bereitwillig einen Flügel aus. Sie zupfte ihm eine Feder aus und reichte sie weiter. "Sieh hindurch."
Jolie nahm die gläserne Feder zögerlich entgegen und hob sie langsam vor ihre Augen. Als sie hindurchsah, wurde sie überrascht. "Woah", staunte sie. Es war, als hätte sie ein Fernglas, so weit konnte sie sehen. Doch nicht nur das. Seltsame, helle Lichtfunken tanzten durch die Gegend.
"Ich will auch!", rief der Teppich. "Natürlich nur, um sicherzustellen, dass die Feder keine Gefahr für dich darstellt."
Sie hob die Feder zu ihm, ohne zu wissen, wo genau seine Augen waren. Er schwebte eine Weile auf und ab, pustete sich die Fransen aus dem Gesicht und nickte schließlich. "Also, alles ist hell außer Jolie - weil sie aus der Realität kommt?"
Irritiert nahm Jolie die Feder zurück und blickte auf ihre Hand. Ihr stockte der Atem. Teppich hatte recht. Jolie schüttelte ihre Hand, um die dunklen Flecken loszuwerden, die um sie herum schwebten, doch es gelang ihr nicht. "Was ist das?"
"Alle Fantasie ist Energie", sagte die Herbarianerin den Satz, den Jack einst gesagt hatte. "Du denkst dir etwas aus und schenkst ihm das Leben. Es trägt eine Aura des Lebens - sieh dir Teppich an. Er leuchtet förmlich, weil du ihn liebst und nie vergessen hast."
Jolie sah zu Teppich und lächelte, weil er eine Art Heiligenschein um sich trug. Dann sah sie zu Jack. Auch er leuchtete, wenn auch nicht so hell wie der Teppich.
"Andere Sachen vergisst du. Du erschaffst - und durch Vergessen tötest du. Die Lebensaura verschwindet und bekommt dunkle Flecken."
"Mal langsam!" Der Teppich schwebte näher, Panik stand ihm in die Fransen geschrieben. "Jolie stirbt?"
Die Herbarianerin neigte den Kopf. "Nein. Sie vergisst. Sie tötet, deshalb trägt sie diesen Schimmer. Ich habe das verwechselt und wollte sie einsaugen, aber das wäre fatal gewesen. Dann hätte ich ihre ganze Stadt getötet - was wir nicht wollen. Wir wollen, dass sie sie rettet."
"Sie retten?", wiederholte Jolie. "Aber das will ich doch auch!"
"Genau!", bestätigte der Teppich laut.
"Die Frage ist nicht was, sondern wie. Hör zu. Alles, was du zu vergessen drohst, bekommt dunkle Flecken in der Aura. Die Buntglasgeier sehen das. Sie sind unsere Augen. Wir entfernen diese sterbende Fantasie und konservieren sie in Herbarien. Du musst wissen, deine wandernde Stadt wird durch deine Fantasie am Leben gehalten - oder durch die Todesauren langsam getötet. Dann läuft sie in den Ozean und alles ist endgültig verloren. Damit das nicht geschieht, sammeln wir die sterbende Fantasie vorher, um deine Stadt länger am Leben zu halten. In unseren Herbarien sterben Träume zwar auch, auf ihre eigene Weise, und doch leben sie ewig weiter." Sie streichelte dem Buntglasgeier über das Gefieder. "Weil die Hüter aus sterbenden Träumen bestehen, sind sie diejenigen, die sie sehen können. Die uns wiederum zeigen, wo wir weitere Fantasie beseitigen, retten und recyceln müssen. Es ist ein Kreislauf, wie in der Natur. Leben, sterben, leben."
Jolie schüttelte den Kopf. "Also sammelt ihr alles, was ich zu vergessen drohe, damit meine Stadt nicht im Vergessen versinkt und ich es wirklich für immer vergesse?"
"Ja", sagte die Herbarianerin. "Denn was in der Leere verschwindet, ist für immer verloren."
"Aber ... je mehr ihr stehlt, desto mehr läuft meine Stadt in den Ozean?"
"Je mehr wir entfernen, desto sicherer ist deine Stadt. Sobald ihre Füße allerdings ins Wasser eintauchen, ist der Prozess kaum aufzuhalten. Der Ozean besteht förmlich aus dem Tod und sie inhaliert diesen aus allen Seiten. Dadurch geht sie immer schneller unter, je weiter sie läuft. Wir müssen mehr arbeiten, um den Prozess zu verlangsamen, doch ab einem gewissen Grad können wir es nicht mehr stoppen. Ab diesem Punkt gibt es nur eine Person, die ihre Stadt noch retten kann: Der Besitzer selbst. Wenn es noch Hoffnung gibt, holen wir ihn."
"Dann habt ihr mich tatsächlich geholt, damit ich meine Stadt retten kann?", hauchte Jolie. Ihre Logik suchte eine Erklärung, doch tief in sich wusste sie, dass es richtig war.
"Ja. Nur du hattest die Chance, sie noch zu retten", bestätigte die Herbarianerin.
Jolie wurde schwer ums Herz. "Hatte?"
"Indem du unser Lager vernichtet hast, hast du den Zorn der Herbarianer auf dich gezogen. Keiner hilft dir mehr. Aber du hast nicht nur deine Stadt zum Tode verurteilt, sondern auch zahlreiche andere Städte, indem du all unsere Herbarien vernichtet hast." Ihre Miene war ernst. "Du suchst das Böse, Jolie? Sieh es ein: Das bist du selbst."
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