13. Kapitel - Nah und doch so fern
"Egal wo wir sind, im Herzen sind wir immer beieinander. Egal was passiert, Lili, die Liebe bleibt für die Ewigkeit."
Oma Martha hatte dasselbe warme Funkeln in ihren haselnussbraunen Augen wie damals, am letzten Tag. Dasselbe liebevolle Lächeln wie damals. Jolie war eine Sekunde wie festgefroren, dann stürzte sie nach vorne und schlang ihre Arme um sie.
"Ich habe dich vermisst", schluchzte sie, auch wenn gleichzeitig die Frage aufwallte, wie sie hier sein konnte. Ob sie echt war.
Ihre Oma strich durch ihr Haar. Die Berührung war so sanft und kindlich bekannt, dass Jolie fast keine Luft bekam.
"Ich dich auch, Lili."
Lili. Nur ihre Oma hatte sie so genannt. Sie war es wirklich.
Jolie fühlte sich zurückversetzt an den letzten Tag. Der Duft von Nudelauflauf. Das Bilderbuch. Das Taxi.
Sie löste sich nur ungern. "Bist du ..."
"- tot? Ja." Oma Martha nickte lächelnd. "Immerhin bin ich ins Taxi eingestiegen."
Damals hatte Jolie in ihren kindlichen Träumereien noch geglaubt, dass es magisch sei. Dass es zur Legende gehörte und ihre Oma dorthin brachte, wo sie hinmusste.
Und das hatte es tatsächlich - aber nicht, weil es magisch war.
"Du musstest zu deinem Termin ins Krankenhaus", flüsterte Jolie mit einem Kloß im Hals. "Eine harmlose Operation, bis du plötzlichen einen Herzinfarkt hattest. Die Ärzte konnten nichts tun... Sie konnten dich nicht retten." Tränen kullerten über ihre Wangen. Jolie erinnerte sich genau an die Beerdigung, obwohl sie zehn Jahre her war. Damals hatte sie den Glauben an die Fantasie verloren, weil das legendäre Taxi doch nicht so legendär gewesen war.
Es war normal gewesen. Normal gelb, normal unmagisch. Und trotzdem hatte es ihre Oma gestohlen.
"Vielleicht. Aber sieh es so, wie ich es sehe", sagte Oma Martha mit einem seligen Lächeln. "Das Taxi bringt dich nicht dorthin, wo du hin willst, sondern wo du hin musst. Ich wollte bei euch bleiben, aber ich musste ins Krankenhaus - aber eigentlich war es nur ein kleiner Umweg auf dem Weg in den Himmel, wo ich wirklich hin musste. Zu meinem lieben Walter, der schon lange gewartet hat. Sag Jolie, ist der Himmel nicht der schönste Ort, den es gibt?"
"Aber es war nicht das magische Taxi", widersprach sie. "Es war normal."
"Weil es gelb war und nicht hellblau? Muss es denn magisch sein, um seinen Weg zu erfüllen?"
Jolie schluckte schwer. Sie war verwirrt - was hatte es jetzt mit dem Taxi auf sich? "Das ändert nichts daran, dass du gestorben bist", flüsterte sie.
"Dass ich dich allein gelassen habe?" Ihre Oma strich durch ihr Haar. Es war wirr von der Flucht, doch sie entknotete es mit sanften Fingerbewegungen. Das hatte sie früher auch immer gemacht. Dann begann sie sanft zu flechten. Irgendwie hatte das so etwas Vertrautes, dass Jolies Herz heilte.
"Bin ich tot?", fragte sie plötzlich.
Oma Martha lachte. "Nein. Aber ich bin es."
Sie musste Jolies tausenden unausgesprochen Fragen sehen, denn sie schenkte ihr ein sanftes Lächeln. "Wir sind an einem besonderen Ort. Hier sterben Träume und es werden Hüter aus buntem Glas geboren. Es ist eine Schnittstelle, an der Leben und Tod aufeinandertreffen. Eine Schnittstelle zwischen Himmel und Erde. Ich habe dich gehört, als du eingetreten bist, Lili. Da es vermutlich unsere einzige Chance ist, uns zu sehen, bin ich gekommen."
"Das verstehe ich nicht", gab Jolie zu. "Hüter? Woher kennst du diesen Ort? Woher weißt du das alles?"
"Ich war auch einst im Land der Fantasie. Die Herbarianer haben mir alles erklärt. Auch wenn die Zeit hier anders vergeht, bleibt uns nicht viel, bevor der Geier schlüpft. Eines solltest du aber wissen: Die Herbarianer sind nicht die Bösen."
Jolie schluckte, plötzlich war ihr schwindelig. "Nicht? Aber sie töten Träume?"
Oma Martha schüttelte lächelnd den Kopf und legte den fertig geflochtenen Zopf auf Jolies Schulter. "Nein. Erinnere dich an früher, als ich dir ein Herbarium geschenkt habe. Wir haben die gemeinsam schönsten Blumen von der Wiese gepflückt und darin gepresst, damit sie ewig halten. Ja, sie sind im Buch vertrocknet und irgendwie gestorben, und doch haben sie ewig gelebt. Sonst wären sie auf der Wiese vergangen, hätten sich zersetzt und wären restlos verloren gewesen. So blieben sie konserviert, für immer."
"Also ... konservieren sie Träume?" Jolies Gedanken wirbelten ziellos umher. "Damit sie nicht sterben ... und im Ozean restlos verschwinden? Damit sie nicht in der Leere verloren gehen? Aber meine Stadt läuft doch nur in den Ozean, weil sie meine Fantasie stehlen?"
"Den Anfang hast du sehr gut erkannt", lobte ihre Oma. "Und das Ende bekommst du auch noch raus. Lerne zuzuhören und hinzusehen."
"Wie meinst du das?", fragte Jolie, obwohl sie die Antwort wusste. Hätte sie zugehört, stände das Lager noch.
"Du bist klug und fantastisch, Lili. Nicht umsonst besteht deine Stadt aus beiden Teilen. Beide gehören zu dir. Hör auf, ohne Fantasie zu planen oder ohne Plan zu träumen. Nur wenn du beide Seiten vereinst und lebst, hast du deine volle Stärke. Ich glaube an dich, Lili." Sie strich ihr ein letztes Mal über das geflochtene Haar. "Jetzt geh und rette Jack."
"Warte!" Jolie wollte ihre Oma festhalten, doch ihre Finger glitten durch sie hindurch. Zum ersten Mal fühlte sie sich wieder mutig, doch sie war noch nicht bereit, sie gehen zu lassen. "Bitte geh nicht ... ich brauche dich."
"Du brauchst mich schon lange nicht mehr, Lili", sagte ihre Oma. "Ich liebe dich, Lili."
"Ich liebe dich auch", flüsterte Jolie und sah ihr tief in die haselnussbraunen Augen. Sie hatte keine Zeit für viele Worte, weil ihre Oma immer blasser wurde. Dabei wollte sie noch so viel sagen, was sie damals nicht mehr gekonnt hatte.
"Danke - für alles", sagte sie, und in den Worten steckte ein halbes Leben.
Oma Marta lächelte ein letztes Mal, eh sie mit einem hellen Licht verschmolz. Eine Schnittstelle zwischen Himmel und Erde.
Dieses Mal gab es kein Taxi - egal ob magisch oder legendär - das sie fortbrachte. Sie verschwand von selbst, so wie sie damals aus Jolies Leben verschwunden war. Doch dieses Mal hinterließ ihre Abwesenheit keine traurige Einsamkeit. Stattdessen war Jolie warm ums Herz.
"An den schönsten Ort der Welt", hauchte sie ihre Worte von früher und wischte sich die Tränen von den Wangen. In den Himmel. Zu ihrem vor Jahrzehnten verstorbenen Opa Walter, den Jolie nie kennengelernt hatte, aber ihre Oma ewig geliebt hatte.
Einen Moment blieb sie noch stehen und ließ die Begegnung auf sich wirken. Trotz der Fragen fühlte sie sich stärker, mutiger und vor allem eins: Hoffnungsvoller. Als hätte ihre Oma ihr Flügel geschenkt.
Wenn du fliegen willst, musst du loslassen, was dich runterzieht.
Jolie holte die Steine und Zapfen aus ihrer Tasche und legte sie ab. Aber nicht nur das, sie war auch die Last ihrer Gedanken losgeworden. Sie konnte Jack noch retten. Sie konnte ihre Stadt noch retten.
Sie musste nur herausfinden, was die Wahrheit war. Die logische und fantastische Wahrheit, die sie hierher geführt hatte.
Als sie dieses Mal Anlauf nahm und sprang, war es, als ob die Schwerelosigkeit sie mit unsichtbaren Händen fing und nach oben trug. Sie flog gegen den gigantischen Buntglasgeier und landete auf seinem gefalteten Flügel. Jolie hatte keine Angst zu fallen, als sie über das Glas balancierte. Sie spürte die konservierten Träume unter ihren Füßen - ihre Träume. Von allen Seiten strömte Farbe zum Geier und sammelte sich in den letzten Federn auf seinem Kopf. Oma Martha hatte Recht gehabt, die Zeit verging hier anders. Aber es blieb nicht mehr viel.
"Jack!"
Jack und die Herbarianer-Jolie, die ohne ihren Umhang exakt wie Jolie selbst aussah - mit dem einzigen Unterschied, dass Jolie jetzt geflochtene Haare hatte - schwebten nebeneinander in der Luft. Beide hatten die Augen geschlossen, als wären sie tot.
Dann öffnete Herbarianer-Jolie ihre Augen. "Endlich", flüsterte sie. "Ich kann nicht mehr lange."
Jolie bemerkte, dass alle eingesaugten Träume, die hier schwebten, ihre Farbe verloren hatten. Ihre Energie war in das Glas gepresst worden, damit daraus der Geier entstehen konnte. Sie waren am Sterben. Bei Jack war es anders. Er sah genauso aus, wie als sie ihn verloren hatte, voller Farbe und Leben.
Jolie streckte die Hand aus und überwand die Tatsache, dass sie die Herbarianer nicht mehr einordnen konnte. "Kommt."
Lerne zuzuhören und hinzusehen.
Plötzlich erbebte der Buntglaspalast und der Geier begann sich zu regen. Ein kräftiges Herz begann zu pochen und der dumpfe Klang schallte durch Zeit und Raum. Jolie rutschte fast ab und konnte sich gerade so festhalten. Der Geier regte sich, als wollte er sie Flügel ausbreiten, weil sein Ei ihm zu eng geworden war. Er wollte leben.
Jolie steckte sich erneut, doch die beiden waren zu weit weg. Sie sammelte ihren Mut und sprang, im Vertrauen, dass die Schwerelosigkeit sie alle langsam nach unten gleiten lassen würde.
Die Herbarianer-Jolie ergriff ihre Hand, doch sie blieben gemeinsam in der Luft kleben, wie in unsichtbaren Spinnenfäden. Nur ein Faden war sichtbar, ein Faden, den Jolie wie durch ein Wunder niemals losgelassen hatte.
"Folge der Blume", sagte die Herbarianerin und beide Mädchen sahen sich an, fast, als wären sie Spiegelbilder.
"Folge der Blume", bestätigte Jolie und nahm Jacks andere Hand, um ihn nicht zu verlieren. Er schwebte so reglos in der Luft, als hätte jemand die Zeit eingefroren und ihn in einen Tiefschlaf versetzt. Aber er lebte - und gleich waren sie in Sicherheit.
Jolie umgriff den Wurzelfaden fester, als sie einen Sog verspürte. Der Strang zog die drei mit sich, durch die Luft, als könnten sie fliegen, durch ein Kaleidoskop aus Farbe, Leben und Tod, bis sie den Buchumschlag durchbrachen und die Freiheit mit neuer Hoffnung begrüßten.
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Wow... Der 20.000 Wörter-Meilenstein ist geschafft! :)
Wie es scheint, steckt mehr hinter den Herbarianern, als anfangs gedacht - was sind eure Gedanken dazu?
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