11. Kapitel - Hüter & Herbarien
"Schicksal ist ein starkes Wort, Lili. Manche glauben daran, andere nicht. Egal wie - wenn es geht, wähle weise solange du kannst. Sonst wählt dich ein Schicksal, und du musst damit leben, solange du kannst."
Der Häuptling thronte auf einem Podest zwischen den Regalen. Erhaben beobachtete er alles im Lager mit stummen Augen, die unter der Kapuze verborgenen waren. Im Gegensatz zu den anderen funkelte sein Umhang, als hätte jemand einen Stern verbrannt und die glitzernde Asche über ihn gegossen.
Sie stoppten und der Herbarianer neben Jolie neigte den Kopf - eine Bestätigung auf ein unsichtbares Gespräch. Mit dem halb leeren Herbarium, welches er Jolie abgenommen hatte, stieg er auf den Rücken eines Buntglasgeiers. Gemeinsam flogen sie durch den Ausgang davon, um eine weitere Stadt einen Schritt näher in den Tod zu schicken.
Als hätte der stumme Ruf alle erreicht, gingen alle anderen Herbarianer nach und nach ihren Aufgaben nach. Sie holten sich leere Bücher aus den Regalen. Scharen an Buntglasgeiern verließen das Lager mit ihnen, bis nur noch eine Handvoll, der Häuptling, Jolie und Teppich übrig waren.
Jolie schmulte nach oben, wo der Teppich Runden kreiste, in der Hoffnung, dass er noch gefüllte Herbarien fand, die sie retten konnten. Doch er zuckte nur mit den Ecken.
Ihr Mut sank - das Einzige, was sie noch tun konnte, war Jack zu befreien und auf die Rückkehr der Herbarianer zu warten, um andere Städte zu retten. Wenigstens hatte sie die Chance, so etwas Gutes zu tun.
Der Häuptling bedeutete Jolie, näher zu treten.
"Wie befreie ich etwas aus einem Herbarium?", platzte die wichtigste Frage aus ihr heraus, eh ihr sie den Mut vollständig verloren hatte.
Der Häuptling betrachtete sie stumm - und setzte seine Kapuze ab. Jolies Herz übersprang einige erschreckende Schläge, als sie in ihr Zwillingsgesicht blickte. Ihr todbringendes Ebenbild starrte sie mit ausdrucksloser Miene an.
"Du bist nicht ich", brachte sie hervor. Nochmal würde sie sich nicht verunsichern lassen.
Er neigte den Kopf. "Nein. Wäre es dir lieber, wenn ich eine andere Gestalt annehme?" Prompt verwandelte sie sich in ihre beste Freundin Mara und Jolie musste sich zusammenreißen, nicht zurückzuweichen.
"Auch nicht richtig", überlegte Herbarianer-Häuptling-Mara. "Was dann? Ich kann alle werden, die du kennst."
"Kannst du einfach wieder deine Kapuze aufsetzen?", fragte Jolie, denn seltsamerweise war ihr ein gesichtsloser Gegner lieber. Sie holte tief Luft. "Ich will nur diese eine Antwort - dafür bekommst du einen deiner Herbarianer wieder."
Der Häuptling setzte entspannt seine Kapuze auf. "Interessant. Wie meinst du das?"
"Hier." Jolie versuchte, nicht die fast vertrocknete Blume anzustarren. Täuschte sie sich, oder fühlte sie sich bereits wärmer an? Die Zeit verrann und das Buch würde bald in Flammen aufgehen. Sie schlug es auf und zeigte auf das blasse Bild, wo sie die Herbarianerin-Jolie im Kampf eingesaugt hatte. "Das ist der Deal: Wenn du deine Herbarianerin wiederhaben willst, musst du mir zeigen, wie ich etwas aus dem Buch befreie. Ich hole Jack und alles andere zurück, was ihr mir gestohlen habt, und du bekommst sie dafür wieder."
Es war schwer zu erkennen, aber Jolie könnte schwören, dass der Häuptling schmunzelte. "Und dann?"
"Dann gehen wir und lassen euch in Ruhe."
"Warum sollten wir dich gehen lassen?"
Jolie trat unruhig auf der Stelle. "Weil ich dir dann das leere Buch zurückgebe?"
Jetzt lachte er. "Jolie, Jolie ... Warum bist du wirklich hier?"
Die Frage brachte sie aus dem Konzept. "Um meine Fantasie zu befreien."
"Das geht nicht - nicht jetzt zumindest. Das wäre viel zu gefährlich für dich und deine Stadt. Vielleicht später."
"Später? Ich habe keine Zeit - Jack hat keine Zeit!"
"Hab Geduld", sagte der Häuptling gelassen. "Immerhin entscheidet sich hier dein Schicksal."
Schicksal. Immer wieder dieses Wort. Jolie konnte es nicht mehr hören. Erst das Taxi, dann die Herbarianer.
Er fuhr fort: "Du kannst wählen: Hab Geduld und bekomme Antworten. Das Buch wird es bis dahin aber nicht schaffen. Dafür überlebt deine Stadt - vielleicht."
"Und die andere Wahl?"
"Wenn du keine Geduld hast, enttäuschst du uns. Dann musst du gehen - das Taxi steht jederzeit bereit."
Er hätte Jolie genauso gut mit einem Herbarium schlagen können. Fassungslos klappte ihr Mund auf. "Das Taxi?"
Der Teppich fiel von oben fast auf sie, als hätten die Worte auch ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. "Ihr habt es geschickt?", rief er entgeistert.
"Selbstverständlich", bestätigte der Häuptling und drehte den Kopf zu Jolie. "Es bringt dich jederzeit zurück, wenn du dich nicht in der Lage fühlst, unsere Hoffnung zu erfüllen. Dann musst du nämlich gehen - du gehörst in deine Welt."
"Aber ..." Der Teppich sah verloren aus. "Jack hat das Taxi gerufen. Als es endlich zu Jolies Stadt kam, haben wir noch diskutiert, wer sie abholen soll. Ich wollte unbedingt gehen."
"Er hat es nicht gerufen - wenn, dann vergebens." Er zuckte mit den Schultern. "Dass es gekommen ist - zuerst zu euch und dann zu ihr -, liegt daran, dass wir es so wollten."
"Ihr wolltet mich hier haben?", flüsterte Jolie. "Warum? Um mich und meine Stadt schneller umzubringen?"
Der Häuptling gab keine richtige Antwort. "Wähle: Habe Geduld und bekomme Antworten. Dafür musst du das Buch aufgeben, aber deine Stadt hat vielleicht eine Chance", sprach er. "Oder du entscheidest dich gegen alles und wählst das Taxi. Du wolltest doch zurück in deine geliebte Normalität."
"Was ist das für eine Wahl?" Jolies Finger verkrampften sich um das Buch. Wut kam in ihr auf. "Ich will erst zurück, wenn ich meine Stadt gerettet habe."
"Dann hast du Geduld?"
Das Buch war mittlerweile tatsächlich warm. In Erinnerung an all die guten Zeiten, die wir als Kinder hatten. Sie konnte Jack nicht aufgeben.
"Wähle, solange du kannst."
Jolies Blick traf auf den vom Teppich, der nervös auf seinen Fransen kaute. Das Buch oder vielleicht das Leben ihrer Stadt?
Konnte sie nicht beides haben?
Ihr panischer Blick huschte durch das Lager. Denk nach, denk nach!
"Deine Zeit ist abgelaufen. Du enttäuschst mich, Jolie."
"Warte! Ich weiß, was ich tue", sagte sie und schloss die Augen. Eine plötzliche Ruhe überfiel sie. Selbst die Buntglasgeier wurden still.
"Was?", flüsterte der Teppich.
Sie sah ihn an, weil sie wusste, dass er ihre Entscheidung vielleicht nicht gutheißen würde. Jolie legte ihr Herbarium auf den Boden. "In Wahrheit bleibt mir keine andere Wahl - meine Oma hat einst gesagt: Wenn du dich nicht entscheiden kannst, wähle den dritten Weg."
Damit sprang sie vom Podest und schnappte sich ein leeres Herbarium aus dem Regal. Schneller, als die Buntglasgeier gucken konnten, schnellte ein schwarzer Wirbel nach vorne und verschlang den Häuptling. Übrig blieb nur ein graues Abbild auf der Seite.
Der Teppich starrte sie an. "Du ... hast ihn eingesaugt. Aber jetzt bekommst du weder Antworten noch kannst du Jack befreien!"
"Doch." Jolie schlug das Buch mit eisiger Miene zu. "Ich bekomme alles."
Eine Schar Buntglasgeier griff sie kreischend an. Jolie hob nur das Buch und saugte auch sie ohne zu Blinzeln ein.
Die übrigen Vögel verstummten verblüfft, als hätten sie nicht gedacht, dass sie das wirklich tun würde. Dann stoben sie alle durch den Ausgang davon.
"Ja, holt die Herbarianer!", rief sie ihnen hinterher. "Je schneller sie da sind, desto schneller befreien sie ihren Anführer." Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. "Und desto schneller zeigen sie mir dadurch, wie ich auch Jack befreie. Bis dahin ..."
Der Teppich folgte ihr, als sie an das Regal trat. "Was hast du vor?", fragte er, als sie das Buch mit dem Anführer abseits ablegte und ein frisches Herbarium hervorzog.
"Bis dahin sorge ich dafür, dass das ganze Land für immer vor den Herbarianern sicher ist. Niemand braucht mehr Angst zu haben."
Jolie warf eine Reihe leerer Herbarien auf den Boden und öffnete ihr frisches Buch. Der schwarze Wirbel verschlang den Stapel innerhalb einer Sekunde - tonlos und schnell. "Keine Bücher, kein Schaden", erklärte sie. "Ohne Waffen sind die Herbarianer machtlos. Lass uns das ganze Land beschützen."
Im Augenwinkel nahm sie wahr, dass der Teppich zurückwich. Vor ihr? Nein, er hob das volle Herbarium mit Jolies Fantasie auf, auch wenn er bei der Temperatur zusammenzuckte. "Du willst alle leeren Herbarien einsaugen?", fragte er aus der sicheren Ferne in einem unbestimmten Ton.
"Ja." Doch Jolie hörte bereits die Rückkehr der Buntglasgeier. Ihr Blick glitt über die riesigen Regale. Ihr blieb nicht genug Zeit, um alle Bücher einzeln rauszuholen.
"Sie können die Bücher doch wieder befreien, sowie sie den Anführer befreien?"
"Nicht, wenn ich das Herbarium, wo alle anderen drin stecken, in den Ozean des Vergessens werfe", erklärte sie.
Die nächste Doppelseite richtete sie direkt auf das Regal. Der Wirbel schlängelte sich nach vorne, glitt wie eine Schlange über die hunderten Herbarien, nach oben, weitete sich aus und wurde immer länger.
"Jolie, bist du sicher -"
Der Wirbel wuchs, weil alle Regale miteinander verbunden waren. Die Dunkelheit hatte nur einige Bücher greifen sollen, doch sie zog sich wie ein Spinnennetz über alle Schränke. Kroch weiter wie eine unheilbare Krankheit und umhüllte alles. Sie wickelte mehr ein, als jemals auf eine Seite passen konnte. Sie schlang sich um tausende Bücher, um die Nester - und um das Herbarium, in dem sie den Anführer eingesperrt hatte.
"Nein!" Jolie sprang nach vorne, um es zu greifen, aber der Wirbel war schneller. Er gab einen Ton von sich, als wäre er nicht mehr nur ein Wirbel, sondern ein lebendiges Wesen.
Dann begann der Wirbel zu ziehen. Das Lager der Herbarianer bebte, als es in den Grundpfeilern erschüttert wurde.
Jolie taumelte und versuchte das Herbarium zuzudrücken, um der verschlingenden Schwärze Einhalt zu gebieten, doch sie war zu groß, um aufgehalten zu werden. Sie riss alles mit sich und breitete sich wie Spinnenbeine durch die Luft aus, um einen unendlichen Hunger zu stillen.
"Raus hier!"
Jolie und der panische Teppich flohen durch den Ausgang.
In der Ferne schrie ein Buntglasgeier. Die Herbarianer kehrten eilig zurück zu ihrem Lager, das komplett verschlungen wurde. Jolie kämpfte verzweifelt gegen das Buch, doch es ging nicht zu. Bis zwei Hände es ihr aus dem Arm rissen und damit rangen, wie gegen ein außer Kontrolle geratenes Ungeheuer. Die Schwärze gab einen schreienden Ton von sich, als der Herbarianer den Kampf gegen die Seiten gewann. Sofort stoppte der Wirbel und riss in einem Atemzug alles mit sich, was er festgehalten hatte.
Plötzlich wurde es still. Nichts blieb zurück, außer den Herbarianern, den Buntglasgeiern und Jolie, die verloren und mit vor Schreck geweiteten Augen einsam in der Asche stand.
Das gesamte Lager war weg. Auch das Herbarium mit dem Anführer, was ihre Antwort für alles hätte sein sollen ... um Jack zu befreien - Jolie drehte sich im Kreis.
"Teppich?", rief sie mit zitternder Stimme, als sie ihren geliebten roten Freund nicht neben sich erblickte. Jolie schnappte nach Luft, doch keine erreichte ihre Lungen. Sie hatte das Gefühl, das Herbarium hatte gleichzeitig allen Sauerstoff gestohlen.
Nur die leere Ebene voller wütender Herbarianer und todesfunkender Buntglasgeier lag vor ihr.
Was hatte sie getan?
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