5. Ein Schlag ins Gesicht
Hobolo drückte Varuna mit seinen großen Pfoten etwas in die Hand.
Als sie erkannte, was es war, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen.
"Guter Freund, diesen Schatz kann ich nicht annehmen!"
Doch der Steintroll schüttelte energisch den Kopf. "Bitte, es gehört jetzt dir!"
Varuna hob die Hand und ließ den Gegenstand, der an einer Kette hing, vor ihrem Gesicht hin und her baumeln. Ja, sie war sich ganz sicher: dies war einer von Namras wertvollsten Schätzen.
***
Die drei Freunde erreichten die Hüterburg kurz nach Mittag.
Arman war tatsächlich schon vor ihnen angekommen und als sie abstiegen, erkannte Jenny sofort einen alten Freund, der draußen neben ihm stand.
"Tarik!"
Sie lief freudig auf ihn zu und umarmte ihn fest. "Alter, was machst du hier?"
Lachend begrüßte Tarik die Ankömmlinge und erzählte ihnen, dass er eigentlich nur auf der Durchreise war.
Er wollte in die Außenwelt, seine Eltern besuchen und nebenbei noch ein paar Prüfungen auf der Uni ablegen. "Und warum seid ihr hier?", fragte er interessiert.
Dimitri antwortete: "Ich suche eine Freundin von mir. Ich vermute, dass sie in Namra gelandet ist."
Der junge Syrer sah ihn nachdenklich an. "Wirklich? Meines Wissens nach, hat in letzter Zeit niemand die Grenze übertreten."
Dimitri ließ darauf enttäuscht die Schultern hängen, weshalb er schnell hinzufügte: "Aber ich kann mich natürlich auch irren, ich kann nicht behaupten, in solchen Dingen ein Profi zu sein. Am besten wir fragen Mick."
"Wo steckt der überhaupt?" Jenny sah sich suchend um. Sie hatte, eigentlich erwartet, dass er sie sogleich begrüßen würde. Arman zuckte wortlos mit den Schultern, auch er hatte Mick noch nicht gesehen.
"Ich bin hier", hörte sie da hinter sich. Mick trat langsam aus dem Burgeingang.
Als Jenny sich umwandte, erkannte sie sofort, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte: Er war blass und sah aus, als hätte er ein Wochenende durchgefeiert.
Doch er begrüßte seine Gäste mit der gewohnten Herzlichkeit und bat sie ins Haus.
Arman blieb mit Tarik noch kurz draußen zurück.
Bevor sein Bruder und die Anderen angekommen waren, hatte er ihn schon gebeten, ihn mit in die Außenwelt zu nehmen.
"Ich möchte selbst erst mal hören, was Mick dazu meint", sagte Tarik leise, "aber wenn es auch nur die kleinste Chance gibt, das Charlie lebt, dann sollten wir nach ihr suchen."
Arman nickte ernst, doch stahl sich ein zaghaftes Lächeln auf seine Lippen.
Der Gedanke an Charlie schnürte ihm die Brust ab. Er hatte die vergangenen Monate jeden Tag ohne sie nur mühevoll durchlitten und klammerte sich nun verzweifelt an diesen dünnen Strohalm, dem ihm Dimitri geliefert hatte. Nein, es durfte gar nicht anders sein!
***
Mick versorgte die Freunde mit einer leichten Mahlzeit und ließ sich von ihnen erzählen, warum sie hier waren.
Er seufzte und fasste sich an die Stirn. So viele neue Komplikationen, die seinen Rat erforderten.
"Was Charlie angeht, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als selbst nachzusehen. Ich habe zwar noch nie davon gehört, dass so etwas passiert, aber wir sollten die Hoffnung nicht gleich aufgeben."
Dann wandte er sich an Dimitri. "Ich habe für dich leider keine zufriedenstellende Antwort, fürchte ich. Wie Tarik habe auch ich nicht bemerkt, dass jemand außer euch in den vergangenen Tagen Namras Grenzen überschritten hat." Er blickte zu Tarik. "Möchtest du es versuchen, nach Natascha zu suchen?"
Tarik sah ihn erstaunt an. Mick selbst, war dafür doch viel besser geeignet, ihm selbst fehlte die Übung. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er es hinbekomnen würde, stimmte er zaghaft zu.
Er stand auf und forderte Dimitri auf, mit ihm zu kommen.
Jenny sprang wortlos auf und folgte den beiden - das versprach, interessant zu werden!
***
Arman blieb mit Mick und Argos zurück.
"Mick, ich muss in die Außenwelt. Ich muss wissen, ob Charlie dort ist."
Sein Freund rieb sich die Schläfen. Dieses Problem bereitete ihm besondere Kopfschmerzen. Noch nie hatte er von so etwas gehört. Er zweifelte aber auch nicht an Dimitris Worten - der Junge hatte sein Erlebnis sehr überzeugend geschildert. Jedoch.. wie um alles in der Welt konnte das nur möglich sein?
Gleich darauf fing er sich wieder und antwortete: "Ich weiß, ich kann dich nicht aufhalten. Aber du kannst auf keinen Fall alleine gehen. Was dich dort erwartet, darauf bist du nicht vorbereitet."
"Dann kommst du eben-"
Doch er unterbrach Arman sofort: "Es tut mir leid, ich kann dich nicht begleiten. Du musst mit Tarik alleine gehen."
Arman sah Mick nachdenklich an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Freund nicht in der besten Verfassung schien. "Geht es dir nicht gut?", fragte er besorgt.
Mick seufzte wieder. "Es ging mir in der Tat schon besser. Aber mach dir jetzt lieber Gedanken um dein Vorhaben, das ist wichtiger. Namra braucht eine Sternenfee. Charlie hat keine Nachkommen und wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass sie am Leben ist, musst du sie zurückholen."
***
Dajana hatte schrecklichen Hunger. Gestern kein Abendessen, heute Morgen nur ein spärliches Frühstück und nun kein Mittagessen. Ihr Magen nahm es ihr bereits schmerzhaft übel.
Sie saß nachdenklich draußen vor dem Haus und wartete. Die alte Yaga schien sie einfach vergessen zu haben. Offenbar waren die beiden Frauen im Haus schwer beschäftigt.
Natascha scheint sie im Gegensatz zu mir gut zu behandeln. Was hab ich bloß getan, dass sie so unfreundlich zu mir ist?
Noch immer hatte sie keinen erfolgversprechenden Plan, wie sie fliehen konnte. Als sie das erste Mal fortgelaufen war, hatte die Hexe sie irgendwie wieder gefunden. Wenn sie bloß wüsste, wie...
***
"Und was ist jetzt mit diesem Fluchgeist?"
Argos hatte bis jetzt die anderen reden lassen. Er fühlte sich, wie so oft, unwohl zwischen all den wichtigen Leuten, auf deren Schultern das Schicksal Namras lastete.
Das war nicht seine Welt, hatte er schon lange festgestellt. Und doch ärgerte er sich darüber, dass sie das, aus seiner Sicht, wichtigste Thema bislang außen vor gelassen hatten.
Arman räusperte sich verlegen. Das hatte er tatsächlich beinahe vergessen. "Stimmt. Dann wäre ja auch noch das."
"In letzter Zeit gab es öfter Sichtungen von.. Schatten.. nennen wir sie mal so", begann Mick nachdenklich, "Aber das war das erste Mal, dass einer von ihnen angegriffen hat."
"Könnte das damit zusammenhängen, dass es Arman war?", wollte Argos wissen, "Ich meine nur, weil er der Hüter ist, und so."
"Schon möglich. Was mich aber mehr besorgt ist, dass es überhaupt freie Fluchgeister in Namra gibt." Mick machte eine abwägende Pause, bevor er erklärte: "Hier in der Burg gibt es einen Raum, den Raum der Flüche. Milena hat ihn geöffnet, als sie damals den Schattenzauber heraufbeschworen hat."
"Aber er ist doch wieder verschlossen, oder?", wollte Arman wissen.
Mick nickte. "Ja, aber es besteht die Möglichkeit, dass einige der dort eingeschlossenen Flüche davor entkommen sind."
Arman wollte sogleich wissen, ob es eine Möglichkeit gäbe, sie einzufangen und wieder zu verstauen.
"Ja, die gibt es. Was mich aber nachdenklich stimmt ist, dass sie bislang keinen Schaden angerichtet haben."
"Das ist doch gut, oder?" Argos gab sich Mühe, mit den Gedanken der andern beiden Schritt zu halten.
Arman schien Micks Überlegungen jedoch zu verstehen. "Grundsätzlich ja, die Frage ist nur: Warum ausgerechnet jetzt? Es sind mehr als zwei Jahre vergangen. Man könnte fast meinen, sie hätten auf irgendetwas gewartet."
Mick wollte gerade etwas erwidern, doch sie wurden jäh von einem lauten Schrei aus dem Nachbarraum unterbrochen.
***
Jenny und Dimitri waren Tarik ins angrenzende Zimmer gefolgt. Er bat Jenny, die Tür zu schließen.
"Ist euch Mick nicht auch seltsam vorgekommen?", flüsterte Jenny daraufhin.
Beide Jungen nickten.
"
Ich denke aber nicht, dass er vorhat, uns irgendwas zu sagen", meinte Tarik ebenso leise. "Ich werde Feenja fragen, wenn wir hier fertig sind."
Er holte zwei Stühle, stellte sie einander gegenüber und bedeutete Dimitri, sich zu setzen. Dann nahm er ihm gegenüber Platz. Er hatte es schon mit Garwin und Mick versucht. Doch beide hatten gewusst, was sie für ihn tun mussten, damit es klappte.
Jetzt saßen sich zwei Anfänger gegenüber.
"Und was kommt jetzt?", wollte Jenny wissen.
"Erst mal: Stille", erwiderte Tarik mit strengem Blick. Jenny rümpfte die Nase und lehnte sich beleidigt gegen die Wand.
Er ergriff Dimitris Hände. "Gut. Jetzt versuch, dich so gut es geht, an deine Freundin zu erinnern. Wie sie aussieht, wie sie redet, ihren Charakter, du weißt schon."
Auf die Aufforderung hin schloss er die Augen und Tarik tat es ihm gleich.
Augenblicklich durchfluteten ihn Dimitris Gedanken.
Dimitri und Natascha saßen auf einer Parkbank. Er hatte ein Notenheft auf seinem Schoß liegen, doch es war ihm egal, denn er war nur auf das Mädchen konzentriert, das ihm gegenüber saß. Sie war jünger als er, hatte honigfarbene Haut, rotes Haar und Sommersprossen im Gesicht.
Und dem Anschein nach hatte er gerade etwas Lustiges gesagt, denn sie lachte fröhlich.
Tarik musste lächeln. Offenbar war dieses Mädchen ein Lichtblick in seinem Alltag gewesen, der früher hauptsächlich aus Stress mit Schule und Geige spielen bestanden hatte.
Dimitri auf einem Sportplatz. Er spielte ein schnelles Stück auf seinem Instrument, während Natascha Dehnungsübungen machte. Ihr Blick hatte einen gehetzten Ausdruck, der sich milderte, als sie in seine Richtung sah.
Tarik hatte nun, was er brauchte. Er begann, wie er es von Mick gelernt hatte, sich auf Namra zu konzentrieren. Er fühlte die Mitte der magischen Welt und die Macht, die sich in alle Ecken des Landes ausbreitete.
Mit Dimitris glücklichen Erinnerungen im Kopf, begann er, zu suchen.
Er wanderte durch den Wald zu den Feldern, dem Lilientalhof und seinem nahegelegenen Dorf. Seine Gedanken streckten sich weiter aus, bis zum Portal, durch das er nach Namra gelangt war.
Noch hatte er nichts gefunden.
Er reiste nach Osten, wo das grüne Meer begann, ein Wald ohne Ende, der Namra vollständig umgab. Hier erwartete er, nichts zu finden, denn dort wohnte niemand. Doch dann lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich.
Konnte das wirklich Dimitris Freundin sein?
Langsam tastete er sich an der Grenze zwischen Nordwald und grünem Meer entlang.
Näher..
Plötzlich traf ihn etwas mit einer Wucht, als ob ihm jemand eine Keule ins Gesicht schlug.
Tarik stürzte mitsamt seinem Stuhl nach hinten.
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