3. Erste Schatten
Es hatte sich wohl in ganz Namra herumgesprochen. Wie hatte sie nur den Fehler machen können, Dvalin ausgerechnet am Blumenfest ihre Liebe zu gestehen!
Sie konnte die spöttelnden Blicke der Anderen in ihrem Rücken spüren, wo immer sie auch hinging.
Als hätte sie niemals eine Chance gehabt.
Hobolo war anders - hörte Varuna zu, wenn sie sich mal wieder besonders traurig fühlte und bedachte sie mit tröstlichen Worten. Er war ihr einziger Freund..
***
Dimitri rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her als Arman näher kam. Er setzte sich zu ihm und sah ihn eindringlich an. "Erzähl", forderte er ihn forsch auf.
"Ja, also... äh.." Dimitri fühlte alle Augen auf sich ruhen. Ein Gefühl, das ihn unbeschreiblich nervös machte.
Was wollte ich denn eigentlich sagen?
Jenny riss ihn aus seiner Trance. "Mensch, Dimmi, jetzt red' schon!", fuhr sie ihn an.
Er holte einmal tief Luft und berichtete von seinem Erlebnis.
Es war Samstagnachmittag gewesen und der Sommerschlussverkauf hatte gerade gestartet. Er hatte Natascha ins Rhein-Center gefahren, da sie neue Sportschuhe brauchte.
Die Shops waren zum Bersten voll und so hatte er geduldig vor dem Sportladen gewartet.
Und dann hatte er einen Blick ins Untergeschoß geworfen - und Charlie entdeckt. Er hatte nach ihr gerufen, aber es war so laut gewesen, dass sie ihn offenbar nicht bemerkt hatte.
Dimitri machte eine unbehagliche Pause.
"Was?" fragte Jenny ungeduldig.
Er biss sich auf die Lippe. "Naja, ich weiß nicht genau, ob sie mich einfach nicht gehört hat, oder.." - "Mann, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!" - "..oder mich ignoriert hat."
Arman hatte bislang nur ernst zugehört. "Wie meinst du das?"
Dimitri zögerte kurz, aber fuhr dann fort. "Sie hat kurz zu mir hoch gesehen, aber sich dann gleich wieder umgedreht zu.."
"Zu wem?" Er konnte an Armans angespannter Haltung sehen, dass ihm langsam die Geduld auszugehen schien, aber er wollte eigentlich nicht weitersprechen.
Hilfesuchend sah er Jenny an.
"Da war ein Junge. Mit dem war sie dort."
Sie schüttelte den Kopf. "Wie jetzt?"
Er zuckte mit den Schultern. "Naja, so.. er hatte seinen Arm um sie drum, als ob.. ich weiß nicht.."
Arman schlug mit den Händen auf den Tisch, sprang auf und rannte aus dem Raum.
Lore wollte aufstehen um hinter ihm her zu laufen, doch Richard hielt sie zurück. "Lass ihn", sagte er leise und wandte sich an Dimitri: "Und du bist dir ganz sicher, dass das Charlie war?"
Er nickte nur betreten.
Was hatte er angerichtet? Hätte er doch bloß den Mund gehalten.
"Weißt du, wer der Typ war?" fragte Jenny.
Dimitri sah sie hilflos an. "Woher denn? Kennst du alle von Charlies Freunden? Ich nämlich nicht."
In dem Moment kam Argos bei der Tür herein. Er warf einen kurzen Blick auf die Neuankömmlinge und wandte sich dann an seinen Vater. "Ich hab' die letzte Ziege gefunden und auch schon zurückgebracht." Dann wurde er ernst. "Was ist denn mit Arman? Der ist gerade an mir vorbeigerannt, mit einem Gesicht.. so finster hat er nicht mehr dreingeschaut seit.."
"Dimitri hier behauptet, dass Charlie am Leben ist." Richard deutete in dessen Richtung.
Argos' Augen weiteten sich. "Verdammt!", stieß er hervor und lief wieder zur Tür heraus, seinem Bruder hinterher.
Eine erdrückende Stille erfüllte den Raum, bis Lore sich wieder an Dimitri und Jenny wandte. "Aber das ist offenbar nicht der Grund, weshalb ihr hier seid", bemerkte sie.
Er nickte und erzählte in kurzen Worten, warum sie eigentlich nach Namra gekommen waren.
"Nun, das ist wohl ein Fall für Mick", ergriff Richard das Wort, nachdem er geendet hatte, "Da ich davon ausgehe, dass Arman morgen ohnehin zu ihm reiten wird, solltet ihr mit ihm gehen. Ihr könnt heute Nacht aber gerne hierbleiben, wenn ihr wollt."
Jenny und Dimitri nickten eifrig.
***
"Arman?"
Am Waldrand hatte Argos seinen Bruder eingeholt. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und er konnte seinen Bruder im Schatten nur noch schwer erkennen.
Er bekam keine Antwort.
Arman stand an einen Baum gelehnt und starrte ins Leere.
Argos kam näher. "Hör zu, ich hab gehört, was passiert ist. Dafür gibt es sicher eine Erklärung."
Arman murmelte etwas Unverständliches. "Was sagst du?", fragte sein Bruder nach.
Er blickte auf und sah ihn gehetzt an. "Ich muss zu ihr!"
In die Menschenwelt.
Bei dem Gedanken wurde Argos unwohl.
"Das solltest du dir besser gut über-", begann er vorsichtig.
"Da gibt es nichts zu überlegen!", unterbrach ihn Arman, doch dann wurde er schlagartig still.
"Hörst du das?", flüsterte er.
Argos lauschte und schüttelte den Kopf. "Ich höre nichts "
"Eben. Keine Grillen. Kein Waldkauz. Nicht mal Blätterrascheln."
Er hatte recht.
Eine gespenstische Stille hatte sich über das Tal gelegt.
Plötzlich hörten sie ein lautes Rauschen zwischen den Bäumen.
"Was ist das?", flüsterte Argos und trat näher an seinen Bruder heran.
"Ich weiß es nicht", antwortete Arman ebenso leise, "Aber es klingt nach etwas Großem."
Da raschelte es wieder in den Blättern, näher als zuvor.
"Renn'!", schrie Arman plötzlich und die Brüder drehten sich um und liefen zum Hof zurück.
"Wir müssen die Schutzbarriere erreichen!", rief Arman.
Was immer es war, es folgte ihnen.
Sie erreichten die Grenze des Hofes. In letzter Sekunde, denn als Arman zurück sah, erkannte er einen hausgroßen, wabernden Fleck, der mit der Barriere kollidierte und augenblicklich in hunderte Teile zerstob.
Atemlos blieben sie stehen. "Hast du das auch gesehen?", keuchte Argos und hielt sich die Brust. Arman nickte nur. "Was war das denn?"
"Ich bin mir nicht sicher. Es sah aus, wie ein Fluchgeist, aber ich habe noch nie einen in Echt gesehen, nur darüber gelesen."
"Ein Glück, dass die Barriere gehalten hat", meinte Argos. Nachdenklich und erschöpft machten sich die Brüder auf den Weg nachhause.
***
Auch Dajana war auf dem Rückweg. Mittlerweile war es so dunkel, dass sie nur noch mit Mühe den schmalen Trampelpfad vor sich erkennen konnte.
Schemenhaft zogen Schatten an ihr vorbei. Sie hatte jedes Mal Angst vor ihnen, obwohl sie wusste, sie würden ihr nichts tun.
Die Begegnung mit Argos war das Beste, was ihr in den letzten Monaten widerfahren war. Sie wusste jetzt in etwa, wo sie war und konnte sich endlich einen richtigen Fluchtplan ausdenken.
Wenn sie es richtig anstellte, könnte es gelingen!
Kurz darauf erreichte sie das Hexenhaus. Windschief lehnte es an einer riesigen Platane.
Sie öffnete die Tür und betrat die Stube.
"Was grinst du so blöd?", wurde sie sogleich unfreundlich begrüßt. Dajana hatte gar nicht gemerkt, dass sie gelächelt hatte und wurde augenblicklich ernst.
Eine kleine, hutzelige Kreatur kam auf sie zugestapft und entriss ihr den Korb.
"Soll das alles sein?", blaffte die Hexe sie an und noch bevor Dajana auch nur irgendetwas antworten konnte, fing sie sich eine saftige Ohrfeige ein. "Los, in dein Zimmer! Und Abendessen kannst du sowieso vergessen."
Betreten verließ sie den Raum. Als sie die Zimmertüre schloss, hörte sie das vertraute Klicken des Schlosses. Sie konnte nicht mehr raus.
Kurz darauf hörte sie ein Murmeln.
Es war immer das Gleiche. Jeden Abend, nachdem Yaga Dajana eingesperrt hatte, holte sie das andere Mädchen zu sich.
Warum nur, war sie so darauf bedacht, dass sie sich nicht begegneten? Hatte sie Angst, dass sie zusammen vielleicht abhauen konnten?
Erschöpft ließ sich Dajana auf ihr Bett fallen.
Ihr letzter Gedanke galt dem Jungen mit den walnussbraunen Haaren, der ihr heute das erste Mal ein bisschen Hoffnung geschenkt hatte.
***
Aufgeregt hatten Arman und Argos den Anderen von ihrem Erlebnis am Waldrand berichtet und stimmten mit ihrem Vater überein, am nächsten Tag zu Mick zu reiten und ihn deswegen um Rat zu fragen.
Während sein Bruder selig in seinem Bett schlief, lag Arman noch lange wach.
Konnte es wirklich sein, dass Charlie am Leben war?
Und wer war dann der Junge, der sie in seinen Armen gehalten hatte?
Er biss sich auf die Zunge.
Eigentlich musste das doch der Beweis dafür sein, dass Dimitri sich geirrt hatte und doch ließ ihn dieser Gedanke einfach nicht los.
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