23. Sichtbar im Verborgenen
9 Monate zuvor...
Ein Leben für ein anderes. Varuna hatte es ihr prophezeit und deshalb hatte Yaga gewartet. Jahrzehnte und Jahrhunderte. Doch sie war geduldig geblieben.
Als sie hörte, dass der Hüter von Namra im Sterben lag, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Dieses Ereignis würde ein Machtvakuum erzeugen, das groß genug war um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Yaga hatte ihre Meisterin verloren, doch ihr Nachkomme würde Potential haben, da war sie sich sicher!
***
In dem Moment, als Charlie das Sternenpferd berührte, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Arman saß noch immer im Gras und hatte gar nicht gemerkt, dass er die Luft angehalten hatte, als der Moment auch schon wieder vorbei war.
Erschrocken sah er, wie das Mädchen von dem Tier zurück prallte und zu Boden fiel.
"Charlie!" Arman sprang auf und lief hastig zu ihr.
Das Sternenpferd stand noch immer regungslos neben ihr, als er bei Charlie angekommen war.
Vorsichtig half er ihr, sich ächzend aufzurappeln.
"Alles ok mit dir?" Besorgt musterte Arman ihr Gesicht.
Als Charlie sich zu ihm wandte, schnappte sie erschrocken nach Luft und starrte ihn voll Entsetzen an.
***
Tariks Suchzauber hatte sofort angeschlagen. Andromeda und Cassiopeia folgten den Freunden ohne Aufforderung, als sie durch den Wald gen Westen ritten.
Der Morgen war schon weit fortgeschritten, dennoch blieb es dämmrig. Die entkommenen Schatten und Fluchgeister schienen Namra immer mehr in Dunkelheit zu tauchen. Besorgt blickte Mick in den Himmel.
"Wenn es noch schlimmer wird, können wir es dann überhaupt rückgängig machen?", unterbrach Dajana seine Gedanken.
"Das weiß ich nicht, aber ich hoffe es." Doch Mick klang nicht überzeugt. "Namra baut auf dem Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit auf. Alle seine Bewohner sind darauf angewiesen. Wenn das Licht schwindet, werden viele Wesen aufhören, zu existieren."
"Wie Elben oder die Hubbeldis und Schwubbeldis." Argos war froh, dass er diesmal auch etwas wusste.
"Und Menschen?", wollte Jenny wissen, "Was ist mit uns? Oder mit dir, Mick?"
Doch Mick schüttelte nur energisch den Kopf. "Das ist doch vollkommen gleich. Hier geht es nicht um einzelne Völker oder Personen. Wir leben alle zusammen in Namra. So war es immer und so muss es auch bleiben, dass jeder, egal wer oder was er ist, einen Platz in dieser Welt hat."
"Ich denke nicht, dass uns Menschen so schnell etwas passiert." Tarik hatte die ganze Zeit konzentriert geschwiegen, aber das Gespräch war dennoch nicht an ihm vorübergegangen. Kurz überlegte er, dann beschloss er, dass die Richtung stimmte und er löste den Suchzauber auf. Er drehte sich um und blickte in die Runde. "Ich hab schon lange darüber nachgedacht, warum ausgerechnet vier Dudes aus der Menschenwelt auf einmal Wächter sein sollen, wo doch vorher immer Vertreter verschiedener Völker Namras erwählt wurden." Er wartete kurz, ob jemand seinen Gedanken folgte, doch sogar Mick blickte ihn nur ahnungslos an.
"Na überlegt mal!"
"Erleuchte uns doch einfach!" Jenny rollte ungeduldig mit den Augen.
Tarik grinste. "Dass diese Welt hier irgendein Eigenleben hat, ist doch offensichtlich! Ich meine, als wir zu Wächtern wurden, wurden Charlie und ich hier einfach materialisiert. Niemand hat uns hergebracht, wir-" - "Namra schützt sich selbst!" Micks Augen hellten sich auf. Er wusste endlich, worauf Tarik hinaus wollte.
Wenn es wirklich stimmte, dann waren die Wächter und der Hüter, die für Namras Wohlergehen verantwortlich waren, als Menschen tatsächlich widerstandsfähiger gegen die drohende Gefahr. "Das heißt aber nicht, dass wir unverwundbar sind", ergänzte Tarik und dachte mit Schaudern an seine letzte Begegnung mit einem Fluchgeist. Auch Jenny bekam bei dem Gedanken eine Gänsehaut.
Dennoch gab dieser Gedanke den Freunden wieder etwas mehr Hoffnung, den drohenden Untergang vielleicht doch noch aufhalten zu können.
***
Armans Berührung traf Charlie wie ein Stromschlag. Sie starrte ihn noch immer erschüttert an, sah die Besorgnis in seinen Augen.
Die wunderschönen dunklen Augen! Voll Liebe, jedes mal wenn sich ihre Blicke trafen.
"Alles ok mit dir?" Charlie hatte Mühe, seine Worte zu verstehen und doch durchdrang seine vertraute Stimme jede Faser ihres Körpers.
Arman.
Der verwunschene Junge.
Der Hüter Namras.
Die Liebe ihres Lebens.
Was hatte sie ihm bloß angetan?
Charlie schlug die Hände vor den Mund und ihr entwich ein ersticker Aufschrei.
Sofort ließ Arman sie los. "Entschuldige." Betrübt senkte er den Blick.
Immer so rücksichtsvoll..
Tränen stiegen ihr in die Augen. "Bitte entschuldige dich nicht", erwiderte sie mit bebender Stimme.
Erstaunt hob er den Kopf und sah, wie ihr aufgelöster Blick auf ihm ruhte.
Tränen kullerten über Charlies leichenblasses Gesicht. "Mir tut es leid", flüsterte sie erstickt.
"Was?" Arman verstand nicht.
Was war eben mit ihr passiert, das sie so fürchterlich aufwühlte?
"Es tut mir leid", wiederholte sie weinend. "Es tut mir so leid, Arman! Alles! Was ich dir angetan habe. Wie ich dich gequält habe. Ich.." Ihre Stimme versagte und Charlie barg ihr Gesicht in den Händen.
War es möglich? Konnte es sein, dass..? Arman wollte es so gerne hoffen.
Zögernd streckte er seine Hand aus und berührte Charlies Arm.
Sie hob den Kopf und sah ihn flehentlich an. "Ich liebe dich doch! Wie konnte ich das nur vergessen?!"
Armans Herz setzte einen Schlag aus. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?
"Wirst du mir jemals verzeihen?" Schmerzverzerrt presste sie die Augen zusammen, als wagte sie es nicht, ihn anzusehen.
Arman war sprachlos.
Wie ein Häufchen Elend saß die Liebe seines Lebens vor ihm und wartete auf eine Antwort, doch ihm fehlten einfach die Worte.
Alles, was er fühlte war unendliches Glück.
Er hatte Charlie wieder!
Eilig zog er das Mädchen in seine Arme, als hätte er Angst, dieser Moment könnte sich als Traum herausstellen. Arman vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und atmete gierig den vertrauten Duft ein.
Zitternd legte Charlie ihre Hände an seinen Rücken.
"Ich hab dich vermisst", brachte er schließlich mit trockenem Mund heraus. Ihr Griff wurde fester. Noch immer weinend klammerte sich Charlie an ihn und wisperte: "Ich dich auch."
Auch Armans Augen waren feucht geworden. Er hob den Kopf um die Tränen weg zu blinzeln. Da entdeckte etwas am Horizont, das schwach durch die fahle Morgendämmerung glitzerte:
Der Morgenstern.
***
Den restlichen Morgen hatte Dimitri allein zusammen mit seinem Selbstekel verbracht. Gleich nach dem Frühstück hatte Natascha ihn verlassen, um mit der Hexe Yaga Vorbereitungen zu treffen.
Irgendwann hatte er beschlossen, seine Schuldgefühle beiseite zu schieben. Er musste sich darauf konzentrieren, was die beiden vorhatten. Dass es nichts Gutes war, stand außer Frage und er befürchtete, dass Jenny und seine Freunde in großer Gefahr waren.
Wenn Natascha ihn wirklich mitnehmen wollte, musste er die Chance ergreifen und irgendetwas dabei unternehmen können.
Nur was?
Frustriert schnaubte er. Er hatte von allen Wächtern ausgerechnet die unnötigsten Kräfte abbekommen, da war er sich sicher.
Was bringt es, sich unsichtbar machen zu können?
Unschlüssig wanderte er in der großen Wohnhöhle auf und ab. Angestrengt dachte er über eine Lösung seines Problems nach. Es würde schon helfen, wenn er wüsste, was Natascha vorhatte, verflixt noch eins!
Plötzlich blieb Dimitri stehen.
Sein Blick war an einem großen Bücherregal in einer dunklen Ecke hängen geblieben. Ohne zu wissen, warum, zog es ihn an.
Als er davor angekommen war, schweifte sein Blick über die unzähligen verstaubten Buchrücken. Er wusste innerlich, er suchte nach etwas, doch nicht, wonach überhaupt.
Da bemerkte er plötzlich eine Lücke zwischen zwei dünnen Einbänden. Dimitri kam der Anblick seltsam vor. Sollte nicht eines der Büchlein in den Zwischenraum gekippt stehen?
Er streckte vorsichtig seine Hand aus und tastete nach dem Spalt. Und spürte etwas Festes. Obwohl es nicht zu sehen war, musste hier ein Buch stehen.
Ein unsichtbares Buch?
Dimitri packte zu und zog es vorsichtig heraus. Eines der beiden Büchlein daneben kippte leise um.
Er fuhr mit der Hand vorsichtig über den unsichtbaren Gegenstand. Es fühlte sich tatsächlich nach einem Buch an. Neugierig setzte er sich damit auf den Boden und legte es auf seinen Schoß.
Und in dem Moment, als er es aufschlug, wurde es plötzlich sichtbar.
"Der Zauber des Verborgenen" stand auf der ersten Seite, "Aus dem Leben von Falko, dem Wächter"
Er lachte laut auf. Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte er hier gerade tatsächlich die Biographie eines seiner Vorgänger vor sich liegen? Dimitri konnte es nicht fassen. Vielleicht war dieses Buch der Schlüssel zu all seinen Problemen!
Neugierig geworden, blätterte er auf die nächste Seite.
***
"Das gibt's doch nicht", flüsterte Jenny. Und der Rest der Gruppe war nicht minder erstaunt, als sie den Waldrand erreicht hatten und Charlie und Arman entdeckten, die zu Füßen eines schimmernden Pferdes einander in den Armen lagen.
"Hey!", rief Tarik und lief auf sie zu. Grinsend blieb er vor ihnen stehen. "Haben wir was verpasst?"
Arman lächelte ihn triumphierend an und erhob sich. Charlies Lächeln war wohl das Breiteste in der Runde. "Ich kann mich wieder an alles erinnern!", rief sie erfreut, während Arman ihr aufhalf.
Jauchzend klatschte Dajana in die Hände, dann fiel sie ihrer Freundin um den Hals. "Ich hab so darauf gehofft."
"Und seht doch!" Arman zeigte in Richtung Horizont, wo noch immer schwach der Morgenstern leuchtete.
"Dann können wir wieder auf deine Sternenfee-Power zählen?", wollte Tarik wissen. Charlie nickte eifrig und Jenny streckte motiviert ihre Fäuste in die Luft: "Zeit, um in ein paar Ärsche zu treten!"
"Nun da wir alle wieder zusammen sind, sollten wir überlegen, was wir als nächstes tun." Mick wollte die allgemeine Freude nicht trüben. Im Gegenteil, er freute sich genauso für Charlie und Arman, wie alle anderen. Dennoch hatte er voll Sorge bemerkt, dass der anbrechende Tag trübe und düster zu werden versprach. Der Himmel hatte nahezu sämtliche Farbe verloren und das Zwielicht wollte einfach nicht der Sonne weichen.
Die anderen hatte es ebenfalls bemerkt und sahen sich besorgt um.
"Das weiß ich schon!", unterbrach Charlie die gedrückte Stimmung. "Das Sternenpferd hat es mir gesagt"
"Es hat es dir gesagt?" Zweifelnd betrachtete Jenny, das weiße Pferd, das das Geschehen mit stoischer Miene verfolgt hatte.
"Wir müssen zum Tribunal und Mick seine Kräfte zurückgeben."
Mick holte scharf Luft. Stand er tatsächlich so nah davor, dass die Wächter endlich seine Strafe aufheben würden? Nach so langer Zeit.. der Gedanke schien ihm surreal.
"Wie soll das denn gehen?", fuhr Jenny verärgert dazwischen. "Ohne Dimmi ist das unmö-"
Das Sternenpferd neben Charlie wieherte plötzlich so laut, dass alle erschraken. Ungeduldig schüttelte es seine Mähne und scharrte mit dem Huf.
"Ich denke, wir sollten ihm einfach vertrauen", erwiderte Charlie bestimmt und hievte sich in den Sattel, den sie vor ein paar Tagen mit Richards Hilfe aufgebracht hatte.
Jenny zuckt beleidigt mit den Schultern und gab sich geschlagen. Es würden sowieso alle tun, was Charlie und Arman beschlossen.
Noch immer nicht ganz überzeugt, stieg sie auf Leonis, während auch alle anderen wieder in ihre Sättel stiegen.
Ist Dimmi jetzt allen egal geworden?
Sie beschloss für sich, die anderen zu verlassen und Dimitri auf eigene Faust zu suchen, nachdem sie was-auch-immer am Tribunal erledigt hatten. Wenn ihre Freunde nicht mitkommen wollten, auch egal.
Dann würde sie Dimmi eben alleine retten!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro