22. Das Sternenpferd
Cöln, 1760 n. Chr.
Margarethe konnte es nicht glauben. All die Geschichten, die ihre Großmutter und Urgroßmutter erzählt hatten, machten mit einem mal Sinn!
Eigentlich hatte sie nur, wie immer, den Leseraum der Universitätsbibliothek reinigen wollen - und dabei etwas in den alten Büchern lesen. Doch ausgerechnet dabei war ihr eine der Öllampen heruntergefallen. Und als sie die Scherben aufsammeln wollte,hatte sie sich ordentlich daran geschnitten.
Und jetzt hockte dieser junge Mann vor ihr auf dem Boden, hielt ihre Hand und sie sah beeindruckt, wie sich die tiefe Wunde langsam schloss. Dann legte er einen Finger an seine Lippen und bat sie, mit niemandem darüber zu sprechen, was gerade passiert war.
Als er sich zum Gehen wandte rief Margarethe plötzlich: “Sie sind aus Namra!”
Erschrocken drehte er sich zu ihr um. “Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?”, fragte sie und stand auf. Sie griff in ihre Rocktasche und holte ein kleines Bleiröhrchen hervor. “Da gibt es jemanden, dem ich gerne eine Nachricht senden würde.”
***
Charlie und Arman drehten sich erschrocken nach dem Geräusch um.
In einiger Entfernung stand das Sternenpferd und schnaubte erneut leise.
“Du..”, flüsterte Arman staunend.
Charlie rappelte sich auf und starrte auf das schöne Tier, das wie beim letzten mal von einem zarten Leuchten umgeben war.
“Wo kommt das Pferd auf einmal her?”, flüsterte sie Arman zu. Mit einem mal war ihre Angst vor ihm verflogen, denn das plötzliche Auftauchen des Sternenpferds schien ihr noch unheimlicher als ihr Verfolger.
Er überlegte kurz, bevor er meinte: “Ich denke, es ist wegen dir hier.”
Überrascht stellte sie fest, dass er recht haben musste, denn sie konnte die Verbindung, die sie zu dem Tier spürte, nicht leugnen. Langsam stand Charlie auf und ging auf das Pferd zu.
Arman sah ihr nach, wagte aber selbst nicht, sich zu rühren. Er konnte fühlen, dass dieser Moment nur den beiden gehörte.
Als Charlie das Sternenpferd erreichte, senkte es freundlich seinen Kopf. Neugierig streckte sie die Hand nach ihm aus und als sie es berührte, passierte etwas Unerwartetes!
***
Der Morgen graute nur schwach. Als Mick sich umsah, bemerkte er besorgt, dass Namra sämtliche Farbe zu verlieren schien.
Und dann entdeckte er voll Schrecken, dass ihr Lager beinahe verlassen war: Charlie, Dajana, Argos und Arman waren verschwunden! Nur Tarik und Jenny schliefen, an einen Baum gelehnt, tief und fest.
Er lief zu den beiden und schüttelte sie ungeduldig wach.
“Wo sind die anderen?”, fragte er unwirsch, als Tarik widerwillig ein Auge öffnete.
“Wer..?”, antwortete er schlaftrunken.
“Alle! Wir sind die einzigen hier.”
Tarik war schlagartig wach. Jenny neben ihm rührte sich nun auch langsam. “Was is’ los?”
“Die anderen sind weg”, antworteten die Männer aus einem Mund.
Tarik und Jenny standen hastig auf und halfen Mick, die Umgebung des Lagers abzusuchen, aber von ihren Freunden war weit und breit keine Spur zu sehen. Bis auf Argos’ Rucksack, war ihr Gepäck noch da und sie konnten sich keinen Reim daraus machen.
Als Tarik schließlich vorschlug, einen Suchzauber anzuwenden, hörten sie plötzlich ein Rascheln im Unterholz.
Kurz darauf betraten Dajana und Argos die Lichtung. Er wankte sichtlich und Dajana gab sich große Mühe, ihn beim Gehen zu stützen.
Die anderen sahen sofort, dass etwas passiert war und eilten ihr zu Hilfe.
Stockend erzählte Dajana, was draußen im Wald geschehen war.
“Aber was hattet ihr dort zu suchen?”, wollte Mick unwirsch wissen. “Ihr wusstet doch, dass es gefährlich werden konnte.”
Beschämt sahen Dajana und Argos zu Boden.
“Dajana trifft keine Schuld”, antwortete Argos schließlich. “Ich war allein draußen. Sie hat mir nur geholfen.”
“Aber warum warst du-”, begann Mick. “Das ist doch ganz klar!”, fuhr Jenny dazwischen. “Du wolltest abhauen, stimmts?” Sie sah Argos verächtlich an.
Er nickte nur schuldbewusst.
“Du wolltest uns alle hängen lassen!”, warf sie ihm vor.
Jetzt mischte sich Dajana ein: “Jenny…” Doch Argos hielt sie zurück. “Euch hängen lassen?” Er starrte Jenny trotzig an. “Ich wollte es euch leichter machen!”
Sie schnaubte verächtlich. “Ja, klar.”
“Was nützt es euch, ob ich hier bin oder nicht?”, schrie er in die Runde. Genau das hatte er vermeiden wollen. “Ich brauch’ keine Diskussion drüber! Wo mir dann alle vorheucheln, dass ihr mich dabei haben wollt. Ich bin hier zu nichts nütze!”
Erschrocken sahen ihn die Freunde an. Keiner hatte ihn bislang so aufgebracht erlebt.
Als Argos sah, wie sich Dajanas Augen mit Tränen füllten, atmete er kurz durch. “Ich hab doch recht”, versuchter er nun etwas leiser, seine Sicht klar zu machen.
Mick seufzte. “Ich habe dir schon einmal gesagt, dass nichts ohne Grund passiert.” Er sah dem jungen Mann fest in die Augen.
“Mick hat recht. Warte einfach ab.” Dajana fasste ihn sanft am Arm, als sie bemerkte, dass er etwas erwidern wollte. Argos sah sie zweifelnd an. Dann nickte er. “Gut.” Und bei den anderen entschuldigte er sich leise. “Es tut mir leid.”
Jenny lächelte zufrieden und knuffte ihn freundschaftlich. “Lass dir eins gesagt sein: wegrennen ist keine Lösung. Hab ich selber auf die harte Tour lernen müssen.”
Tarik grinste. “Ja, da kennt sich Jenny aus.” Spielerisch streckte sie ihm zur Antwort die Zunge heraus.
Nun, da alles geklärt war, setzten sich die Freunde zu einem kurzen Frühstück zusammen, bevor sie sich auf die Suche nach Arman und Charlie machen wollten.
***
Dimitri wurde von einem Kuss auf seine Stirn geweckt. “Aufwachen, mein Schatz”, hörte er Nataschas Stimme an seinem Ohr. Unwillig presste er seine Augenlider fester zusammen. Also war vergangene Nacht kein Traum gewesen!
Er lag zusammengerollt auf dem Höhlenboden von Nataschas Versteck, dort wo sie ihn gestern zurückgelassen hatte.
“Wach auf, Dimitri”, wiederholte sie nun etwas ungeduldiger. Widerwillig öffnete er die Augen und starrte sie an. Sofort lächelte sie zufrieden.
“Komm, steh auf und iss etwas, damit du fit bleibst. Wir haben bald etwas Großes vor?”
“Etwas Großes?”, wiederholte er verwirrt, als er sich hochrappelte.
Natascha nickte und grinste geheimnisvoll. Sie führte ihn zu einem gedeckten Tisch und deutete ihm, sich zu setzen.
Vorsichtig schenkte er sich eine Tasse Tee ein. Konnte er ihn einfach so trinken?
Sie schnaubte verächtlich. “Glaubst du, dass ich dich umbringen will?”
Dimitri antwortete ihr mit einem giftigen Blick. Sie schüttelte den Kopf, nahm ihm die Tasse ab und machte einen Schluck. “Zufrieden?” Natascha reichte sie ihm wieder.
Erleichtert trank er. Sein Mund hatte sich schon wie Papier angefühlt, so durstig war er, doch inzwischen traute er ihr einfach alles zu.
Dabei hatte sie den Tee genauso zubereitet, wie er ihn mochte. Sogar an die warenje, die er so sehr mochte, hatte sie gedacht, bemerkte er. Schweigend rührte er sich einen großen Löffel von der süßen Masse in das heiße Getränk.
Natascha setzte sich neben ihn. “Willst du gar nicht wissen, was ich vorhabe?”
Er schwieg und starrte trotzig in seine Tasse.
“Komm schon!”, drängte sie.
Dimitri seufzte. “Also bitte: Was ist es denn, was du Großes vorhast?”
Zufrieden lehnte sie sich zurück. “Ich weiß, was deine Freunde als nächstes tun werden.” Ein seliges Lächeln umspielte ihre Lippen. “Und Yaga und ich werden sie dabei überraschen.” Dann fügte sie noch hinzu: “Und du wirst uns dabei helfen.”
***
In dem Moment, als Charlie das Sternenpferd berührte umhüllte sie ein gleißendes Licht und die Umgebung um sie verschwamm.
Als sich ihre Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie sich erstaunt um, aber die Wiese, auf der sie kurz zuvor noch gestanden hatte, war verschwunden.
Es war genau genommen nichts zu sehen - nur das Pferd, auf dessen Nasenrücken noch immer ihre Hand ruhte.
“Was ist jetzt schon wieder?”, fragte sie mehr zu sich selbst.
Das Schnauben des Tieres klang wie ein schwerer Seufzer. Charlie stutzte. Es hatte sich gerade angehört, als hätte es zu ihr gesprochen. Aber das war doch gar nicht möglich..
“Wenn du mir sagen könntest, was wir hier machen”, bemerkte sie amüsiert.
..e.. ich..
Erschrocken ließ Charlie los. Jetzt war sie sich sicher, eine Stimme gehört zu haben.
Konzentriere dich Charlie!
Ungläubig starrte sie auf das Sternenpferd. “Du kannst doch nicht sprechen!”
Es schnaubte belustigt.
Natürlich kann ich. Wenn ich will, dass du mich hörst.
Sie musste verrückt geworden sein. Charlie schüttelte verwirrt den Kopf. Die letzten Tage waren einfach zuviel gewesen. Das musste es sein! Sie verlor den Verstand!
Du bist nicht verrückt, Charlie, beschwichtigte sie das Pferd.
“Ja, weil Pferde reden können”, fauchte sie.
Nicht alle, aber ich. Du hast doch selbst schon bemerkt, dass ich nicht wie alle Pferde bin.
Charlie musste zugeben, dass es recht hatte - irgendetwas an ihm war von Anfang an nicht normal gewesen. Dass es leuchtete, zum Beispiel..
“Was willst du von mir?”, fragte sie vorsichtig.
Es stupste sie sanft mit den Nüstern an die Wange.
Ich möchte dir helfen, Charlie. Ich habe gewartet, dass du von selbst wieder zu dir findest, aber uns läuft die Zeit davon.
Charlie zögerte. Wenn sie wirklich nicht verrückt war, und dieses Pferd wahrhaftig sprechen konnte, war es dann möglich, dass alle anderen ihr die Wahrheit gesagt hatten. Dass sie tatsächlich eine Sternenfee war und magische Kräfte hatte?
Die Sternenfee, unterbrach sie das Pferd belustigt, es gibt nur eine Sternenfee.
Charlie wunderte sich schon gar nicht mehr, dass es offenbar ihre Gedanken gehört hatte. “Aber wieso erinnere ich mich dann an nichts davon?”, flüsterte sie entmutigt.
Das ist passiert, als du Namra durch das Tor zum Totenreich verlassen hast. So hast du alles vergessen, was Namra zu deiner Welt unterscheidet, antwortete das Tier betrübt.
Das Mädchen ließ den Kopf hängen. “Und die Erinnerungen kommen nie mehr wieder?”
Das Sternenpferd schnaufte sie aufmunternd an. Lass mich dir helfen..
Und es neigte seinen Kopf und legte seine Stirn an die ihre und Charlie fühlte augenblicklich eine sanfte Wärme, die ihren ganzen Körper durchflutete.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro