17. Die dunkle Seite der Macht
Die Wächter anzugreifen war nicht die weiseste Entscheidung in Varunas Leben gewesen. Es hätte ihr klar sein müssen, dass diese zu viert - noch dazu mit der Macht der Sternenfee als eine der Ihren - ihr trotz allem überlegen waren.
Jetzt saß Varuna in einem sicheren Verlies in der uralten Hüterburg. Doch sie schwieg.
So sehr sich die Wächter auch darum bemüht hatten, weigerte sie sich strikt, die von ihr freigelassenen Schatten wieder zurückzurufen. Und so breitete sich die Dunkelheit immer weiter über Namra aus und verschlang alles, was sie auf ihrem Weg berührte.
***
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Yaga die Höhle verließ.
Zufrieden betrachtete sie die kleinen Schatten, die leise zischend zwischen den Bäumen umher strichen.
Die Fluchgeister spürten ihre Meisterin in ihrem Versteck. "Nicht mehr lange, und Namra gehört euch", versprach sie leise, "und unser Volk kann leben, wie es ihm vorherbestimmt ist."
"Du hast die falsche Wahl getroffen. "
Yaga fuhr herum.
"Ist das so?", antwortete sie zynisch.
Sie starrte das Orakel an, das wenige Meter von ihr entfernt auf der Lichtung stand. Ihre helle Kleidung stach leuchtend in der Dunkelheit hervor und sie sah die Hexe mit strengem Blick an.
Die Alte kicherte. "Das denke ich kaum. Natascha wird die Mine der Schatten öffnen. "
Das Orakel verzog keine Miene. "Nur weil etwas passieren wird, heißt das nicht, dass es das Richtige ist."
"Du kannst mich nicht aufhalten", spie Yaga in ihre Richtung.
"Nein, das kann ich nicht", bestätigte das Orakel ruhig. "Aber ich kann dich bitten, nochmal darüber nachzudenken."
Darüber konnte Yaga nur schallend lachen. "Die Dunkelheit war Namra vorherbestimmt."
"Diese Entscheidung ist nicht deine und wurde vor langer Zeit getroffen." Das Orakel starrte sie noch immer ausdruckslos an.
"Und sie war falsch! Mein Volk und diese Wesen hier", die Hexe deutete um sich, "waren zuerst hier. Wir werden uns aus der Unterdrückung befreien, zu der du uns gezwungen hast."
Das Orakel sah sie traurig an. "Es betrübt mich, dass du das so siehst. Das Gleichgewicht..."
"Pah! Das Gleichgewicht! Wir hätten uns niemals überreden lassen sollen, zu teilen. Was haben wir davon? Mein Volk stirbt aus!"
"Und neue Völker entstehen. Das ist der Lauf der Zeit und kein Resultat von Ungerechtigkeit, die deinen Vorfahren widerfahren ist."
"Du kannst mich nicht aufhalten!", wiederholte Yaga, die Worte des Orakels ignorierend.
Das Orakel seufzte. "Aber andere können es."
Die Hexe verengte die Augen zu Schlitzen. "Was hast du gesehen?"
Das Orakel schwieg.
Nach einer Weile sagte sie: "Nichts. Leider ist meine Sicht auf die Zukunft getrübt. Deshalb kann ich dich nur bitten, deinen Plan nicht durchzuziehen. Das Gleichgewicht muss bestehen bleiben."
Yagas Antwort war nur ein erneutes, abfälliges Lachen.
***
Nach dem Frühstück rief Mick seine Gäste zu sich in die Bibliothek.
Erleichtert bemerkte Arman, dass sein Freund wieder völlig gesund wirkte.
Er stand neben einem Bücherregal und hielt ein Buch in der Hand - ein vertrauter Anblick.
Mick sah suchend in die Runde, bis sein Blick an Dajana hängen blieb.
Sie tat ihm ehrlich leid. Er konnte sehen, dass das, was er ihr gestern eröffnet hatte, schwer auf ihr lastete.
Aber keiner von ihnen konnte etwas daran ändern. Es galt, das Beste aus dieser Situation zu machen.
Und immerhin war es auch eine Chance.
"Ich denke, ich weiß jetzt, was hier geschieht", kam er gleich zur Sache.
Die Freunde sahen ihn gebannt an.
"Leider muss ich euch dazu etwas weiter ausholen.."
Mick lächelte entschuldigend und schlug ein Buch auf. "Die aktuellen Geschehnisse sind tief in Namras Geschichte verwurzelt und ihr müsst verstehen, wie es dazu kam."
"Hätten wir uns Popcorn holen sollen?", versuchte Jenny einen Witz.
"Ich verspreche, ich mache es kurz."
Argos hob zögernd die Hand. "Wollt ihr, dass ich gehe? Ich meine, wenn es hier um was Geheimes geht.."
Mick lächelte ihn freundlich an. "Es ist kein Geheimnis, Argos. Und wenn du hier bist, dann ist das kein Zufall, also bleib doch, bitte."
Verwirrt ließ der junge Mann die Hand wieder sinken. Wie, kein Zufall?
Natürlich war er zufällig hier. Mick schien einfach immer in Rätseln zu sprechen. Doch er schwieg und ließ ihn fortfahren.
"Als Namra entstand, entfachte ein Disput zwischen Licht und Dunkel. Beide beanspruchten dieses Land für sich. Letztendlich einigten sich die dunkle Fee und die Sternenfee darauf, sich Namra zu teilen. Ihre eigene Macht bannten sie - ein Teil des Lichts wanderte an den Himmel und die Dunkelheit in die Erde. Das war der Beginn des Gleichgewichts von Licht und Schatten, das Namra bis heute aufrecht erhält."
Arman nickte. Mick hatte ihm diese Geschichte schon erzählt, kurz nachdem er zum Hüter ernannt wurde. Immerhin war es seine Aufgabe, dieses Gleichgewicht zu wahren.
"Ok, voll nette Geschichte. Aber was ist jetzt das Problem?", wollte Jenny wissen.
"Diese Sternenfee, war das meine Großmutter?", wollte Charlie wissen.
Mick schüttelte den Kopf. "Diese Geschichte hat sich vor so langer Zeit zugetragen, dass man die Jahre nicht zählen kann. Aber es war ganz sicher eine deiner Vorfahrinnen."
Er blätterte ein paar Seiten weiter. "Ihr kennt die Geschichte des Schattenzaubers?"
"Das war das einzige Mal vor uns, dass Namra keinen Hüter hatte", bestätigte Dimitri. Alle konnten sich noch zu gut an die vergangenen Ereignisse erinnern, als Milena mithilfe eines Schattenzaubers versucht hatte, die Position von Namras Hüter zu erlangen.
Der Ältere nickte.
"Also ist das hier wieder so ein Schattenzauber?", wollte Arman wissen. "Wer möchte Namra denn diesmal damit zerstören?"
Argos bemerkte, wie Dajana neben ihm zurückwich. "Was ist denn?", flüsterte er besorgt, doch sie schüttelte nur den Kopf und starrte weiter angestrengt auf Mick.
Dieser verzog das Gesicht. "Ich fürchte, das ist deine Freundin", sagte er an Dimitri gewandt.
"Was? Aber wieso? Wie?" Das konnte und wollte er nicht glauben. Natascha hätte dazu doch gar keinen Grund.
"Ich vermute, das sie die Erbin von Varuna, der dunklen Fee ist."
"Okay", Charlie hob abwehrend die Arme, "ich bin raus! Ihr führt euch alle auf, wie in einem Märchenfilm! Hört ihr euch eigentlich selber reden? Feen, böse Geister!"
Verärgert wandte sie sich zum Gehen.
"Oh, Charlie, bitte!", flehte Tarik und fasste nach ihrem Arm. "Es muss doch irgendetwas geben, damit du uns glaubst!"
"Lass es gut sein, Tarik", beschwichtigte Mick, "Charlie, ich würde es trotzdem sehr begrüßen, wenn du bleiben würdest."
Mit finsterem Blick ließ sich Charlie wieder neben Tarik auf das Sofa fallen.
Dann meldete sich Dimitri wieder. Er hatte die letzten Minuten Micks Worte immer wieder durch seine Gedanken kreisen lassen, aber er verstand nicht: "Wie kann Natascha mit einer Fee aus Namra verwandt sein? Sie kommt doch aus der Menschenwelt."
Mick seufzte. Dann wanderte sein Finger über die Seiten des Buches in seiner Hand, bis er die Stelle gefunden hatte, nach der er suchte und begann, vorzulesen...
***
Varuna, die dunkle Fee musste zusehen, wie der Mann, den sie liebte, eine Andere erwählte. Ihre tiefe Trauer rührte das Herz des Trolls Hobolo, der ihr zum Trost ein goldenes Amulett schenkte.
Er sagte ihr, dass es sich dabei um einen der großen Schätze Namras handelte.
Neugierig geworden, reiste die Fee in die Hügelländer, um dort, in der Bibliothek der Nacht mehr darüber zu erfahren.
Sie entdeckte, dass es sich bei dem Kleinod um den Schlüssel zur Mine der Schatten handelte, die vom ersten Hüter Namras verschlossen wurde, um das Gleichgewicht von Licht und Dunkel zu wahren.
In ihrer Wut über die verlorene Liebe reiste sie zur Mine und öffnete mithilfe des Amulettes das Tor.
Der Hüter versuchte, sie davon abzuhalten, die Flüche zu stehlen, doch sie sperrte ihn in die Mine und zerstörte das Amulett, damit niemand ihn je finden würde.
Dann ritt sie zurück und ließ die Schatten, welche es ihr gelungen war, zu stehlen frei und sie rächte sich an allen, die ihr je Böses getan hatten.
Die Bewohner Namras baten das Orakel, einen neuen Hüter zu ernennen. Doch das Orakel war machtlos, denn ein neuer Hüter konnte nur ernannt werden, wenn der vorherige nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Sieben Tage und Nächte wurde es immer dunkler und erst, als der Hüter in der Mine gestorben war, konnte eine neue Hüterin ernannt werden. Diese spürte Varuna schließlich auf und verbannte sie in die Außenwelt.
***
"Die Fluchgeister, die Varuna freigelassen hat, wurden eingefangen und im Raum der Flüche hier in der Burg aufbewahrt, bis Milena ihn geöffnet hat", erklärte Mick, als er geendet hatte.
Dimitri schwieg. Also war es tatsächlich möglich.
"Und die fliegen jetzt frei in Namra herum?", fragte Jenny. "Kann man die nicht wieder einfangen?"
"Wahrscheinlich, aber ich fürchte, es könnte noch schlimmer kommen", antwortete Mick.
Jenny verdrehte die Augen. "War ja klar!"
Mick berichtete den Freunden von seiner Vermutung. Er war sich sicher, dass Yaga vorhatte, mit Nataschas Kräften die Mine der Schatten erneut zu öffnen. Da Varuna sie verschlossen hatte, konnte nur sie oder ihre Nachkommen den entsprechenden Zauber wirken.
"Und wenn das passiert, wird Namra von der Dunkelheit eingenommen. Das wäre das Ende für viele."
"Warum sollte das jemand wollen?", wollte Argos wissen.
"Es gab schon immer Personen, die sich hier benachteiligt gefühlt haben",
sprang Arman ein. "Mir wurde nicht nur einmal vorgeworfen, die Seite des Lichts zu bevorzugen."
Er fuhr sich durchs Haar. "Nur waren das bisher immer einzelne Trolle oder Gnome, die sich ungerecht behandelt gefühlt haben."
"Als meine Mutter Hüterin war, war die Situation etwas beruhigt, da sie ja, wie auch Yaga und Varuna den Giftmischern angehörte und die dunkle Seite repräsentierte. Obwohl sie natürlich immer gerecht geurteilt hat."
Mick sah in die Runde.
"Ich denke, ich habe euch erklärt, was ihr wissen müsst. Wir sollten jetzt verhindern, dass Natascha die Mine öffnet."
Tarik wollte wissen, wie. Micks Lippen wurden schmal. Er sah auffordernd zu Dajana. "Du solltest es ihnen sagen."
Ihre Augen weiteten sich und sie begann panisch, mit dem Kopf zu schütteln. Tarik sah verwirrt zwischen den beiden hin und her.
"Was ist mit Dajana?"
"Sie..", begann Mick.
"Sag es nicht! Bitte sag es nicht!", schrie sie. Hektisch drängte sie sich zwischen Argos und Jenny hindurch und rannte aus dem Zimmer.
Traurig sah ihr Mick hinterher.
"Was ist los, Mick?" Arman war verwirrt. Was hatte das Mädchen bloß so aufgebracht?
"Dajana ist auch mit der Dunklen Fee verwandt", antwortete Jenny an seiner Stelle.
"Bitte was?", entfuhr es ihm.
"Sie hat es mir gestern erzählt." Jenny zuckte mit den Schultern. "Und jetzt denkt sie, dass sie böse ist oder so."
Tarik entfuhr ein schwaches Lachen. "Dajana und böse? Never!"
"Hab ich ihr auch gesagt. Ich rede nochmal mit ihr." Sie machte einen Schritt nach vorne, doch Argos hielt sie zurück. "Lass mich das machen."
Nachdem er gegangen war, forderte Mick die anderen auf, sich für eine Reise vorzubereiten.
"Hoffen wir, dass es Argos gelingt, Dajana davon zu überzeugen, dass wir sie brauchen."
***
"Dajana?"
Argos klopfte an ihrer Zimmertüre und öffnete sie dann.
Er sah sich kurz suchend um und entdeckte sie kurz darauf in einem der angrenzenden Schlafzimmer.
Sie lag auf dem Bett und hatte den Kopfpolster über ihren Kopf gezogen, als könne die die Welt damit ausblenden.
Vorsichtig schritt er näher. Er wiederholte ihren Namen, um auf sich aufmerksam zu machen.
"Bitte geh weg", klang es dumpf unter dem Polster hervor.
Doch er ließ sich davon nicht abhalten und setzte sich neben sie.
Sofort bereute er, nicht Jenny mit ihr reden gelassen zu haben, denn ihm wollten einfach keine passenden Worte einfallen.
Stattdessen legte er behutsam seine große Hand auf ihren Rücken und streichelte ihn sanft.
Nach ein paar Minuten konnte er fühlen, wie sich Dajanas Körper entspannte.
"Hör mal..", begann er, schwieg dann aber.
Dajana lugte unter dem Polster hervor. Dann setzte sie sich doch auf und starrte zu Boden. "Wie das schon klingt!", sie schniefte, "Dunkle Fee."
"Aber das heißt doch nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, deswegen."
"Nicht? Mir fällt niemand auf der dunklen Seite der Macht ein, der gut ist", erwiderte sie trotzig. "Anakin Skywalker, Willow, Morgana, Pirotess - es gibt keine dunklen Hauptfiguren, die nicht böse werden!", fuhr sie ihn an.
Dajana fing wieder an, zu schluchzen. "Ich will das nicht."
Argos fasste sie an den Schultern und zwang sie so, ihn anzusehen. "Ich habe keine Ahnung, wer diese Leute sind, aber sie sind nicht du", sagte er bestimmt.
"Und ich kenne genug Trolle und Zwerge und keiner von ihnen ist böse, nur weil sie Schattenwesen sind. So läuft das nicht. Ob du gut oder schlecht bist, ist deine persönliche Entscheidung."
"Aber.."
"Kein Aber." Er strich ihr über die Wange. "Hast du Mick nicht zugehört? Licht und Schatten sind in Namra nur zwei Seiten, die zusammengehören."
Dajana schwieg. Wahrscheinlich hatte er recht.
Argos fuhr fort: "Und gerade ist es wirklich hilfreich, dass ein guter Mensch wie du das alles hier aufhalten kann."
Sie nickte schwach und er lächelte sie aufmunternd an.
"Kommst du jetzt mit?" Er streckte ihr seine Hand entgegen.
Dajana nickte noch einmal stumm, ergriff sie und ließ sich von ihm nach draußen führen.
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