Von Provokation und Rückzug
Sein Kopf schmerzte. Ebenso wie seine gesamte rechte Seite. Das war das Erste, was Acarion wahrnahm. Jeder Herzschlag vibrierte wie ein Trommelschlag durch seinen Kopf und sandte ein dumpfes Schmerzecho durch seine restlichen Gliedmaßen.
Noch während er langsam das Bewusstsein wiedererlangte, versuchte Acarion sein Umfeld zu erfassen, ließ die Augen geschlossen und regte sich nicht.
Er lag auf einem harten, hölzernen Untergrund, der ruckelte und schwankte. Nach und nach nahm er die Geräusche von Hufen auf steinigem Boden wahr. Schaler Geschmack hatte sich in Acarions Mund breitgemacht und seine Zunge klebte ihm trocken am Gaumen. Ein Stück entfernt konnte er eine Unterhaltung hören, zu weit entfernt, um ihr folgen zu können.
Vorsichtig öffnete er die Augen. Eines zumindest. Das andere schien von getrocknetem Blut verklebt zu sein.
Die Welt war in Streifen geschnitten worden. Es dauerte einen Moment, bis in Acarions Kopf die Tatsache durchdrang, dass er sie durch eine Reihe von dicken Metallstreben betrachtete. Zu beiden Seiten seines Gefängnisses ragten steile Felshänge in die Höhe. Sie waren nicht mehr in dem Tal, in dem er der Gruppe begegnet war.
Schmerzerfüllt zuckte Acarion zusammen, als er vorsichtig mit einer Hand an seinen Kopf tastete und auf eine Schicht Schorf stieß. Vielleicht hätte er nicht ganz so herablassend sein sollen.
Er und Yona hätten sich nicht aus den Augen lassen dürfen.
Yona.
Ein unangenehmes Gefühl strömte durch Acarion. War sie auch gefangen worden? War sie entkommen, wie er es beinahe gehofft hatte? Oder hatte sie versucht, ihm zu Hilfe zu kommen? Wenn, dann hatte sie offensichtlich keinen Erfolg gehabt.
War sie noch am Leben?
Mit gemischten Gefühlen quälte Acarion sich in eine sitzende Position. Für den Moment schien er keinen Vorteil daraus gewinnen zu können, sich weiterhin bewusstlos zu stellen.
Grelle Schmerzblitze rasten durch seinen Kopf und ihm schossen Tränen in das geöffnete Auge. Nun, das würde ihn für eine Weile einschränken.
Jetzt konnte er seine Umgebung richtig einschätzen. Er befand sich allein in einem schmalen Wagen, der zu allen vier Seiten von dicken Gitterstäben umgeben war. Ein massives Schloss lieferte den einzigen Hinweis darauf, wo sich die Tür befand. Gezogen wurde der Wagen von einem zerzausten graubraunen Pferd, das mit einem großen Stoffballen beladen war.
Es war bezeichnend dafür, in was für einem Zustand Acarion sich befand, dass ihm erst jetzt die kärglichen Pflanzen auffielen, die den Rand des Weges säumten, über den der Wagen holperte. Es waren nicht viele, aber er war sich sicher, wenn er auch nur im Vorbeifahren einige von ihnen berühren könnte, würde ihn das einige bedeutende Schritte weiterbringen.
Halb krabbelnd, halb kriechend bewegte Acarion sich zum Rand seines Gefängnisses und streckte die Hand nach den kümmerlichen Stängeln aus.
Er kam nicht weit. Es war, als stießen seine Finger auf Glas. Eine Handbreit von den Stäben entfernt hatte die Luft sich plötzlich verfestigt.
Frustriert verzog Acarion den Mund. Eine magische Schutzbarriere. Die Leute, die ihn gefangen hatten, waren nicht so hinterwäldlerisch, wie sie auf den ersten Blick erschienen. Er würde nichts außerhalb seiner Käfigstangen erreichen können.
Von der geringen Kraftanstrengung bereits wieder erschöpft, wollte Acarion sich soeben wieder in eine liegende Position sinken lassen, als der Gedanke zu seinem anderen Zugang zur Veralenergie in ihm auftauchte.
Acarions Hand fuhr zu der schlichten Kette um seinen Hals. Sie war fort.
Alles in ihm krampfte sich zusammen. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Wider jede Vernunft steckte er die Hand in die Taschen seines Hemdes – seinen Mantel aus Tapukfell hatte man ihm abgenommen – seiner Reisehosen ... die Kette blieb verschwunden.
Die Kette, in deren Erschaffung er Jahre investiert hatte, die er unter jedem Gesetz nicht besitzen durfte, von der er sich so viel für seinen Kampf gegen die Verox erhofft hatte, sie war ihm gestohlen worden von einer einfachen Truppe Wegelagerer, nichtsnutziger Diebe, die keine Ahnung hatten, was für eine Waffe, was für eine Möglichkeit ihnen da in die Hände –
„Suchst du das hier?"
Acarion fuhr herum und gab sein Bestes, sich die dabei erneut aufflammenden Schmerzen nicht anmerken zu lassen.
Neben dem Wagen war eine Frau aufgetaucht, die Haare zu etwas geflochten, das vage an einen Zopf erinnerte, die Augen kalt auf Acarion gerichtet.
Er erinnerte sich verschwommen daran, dass sie ihn mit einem Messer bedroht hatte.
Sie sprach tavagarisch, aber mit starkem lavókanischem Akzent: seltsam lang gezogene Vokale und ein rollendes r. Und sie hielt Acarions Kette in ihrer Hand, ließ den unschätzbar wertvollen Kristall spielerisch zwischen zwei Fingern hin und her baumeln. Ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Lippen.
„Nun, offensichtlich brauche ich es nicht länger suchen", sagte Acarion trocken. Er hätte ihr ohne Probleme in ihrer Muttersprache antworten können, zog es aber nun vor, in dieser Situation den Heimvorteil zu nutzen. „Wie es scheint, habe ich also zu danken."
Die Frau ließ die Kette langsam sinken. „Sieh an, wie es aussieht, haben wir einen Hofnarren gefangen. Das ist doch eher ungewöhnlich für jemanden, der in Akkron", sie spuckte den Namen der Magierakademie aus wie ein übles Schimpfwort, „ausgebildet wurde."
Acarion antwortete nichts darauf. Dass sie wusste, wie es um seine Fähigkeiten stand, war kein Geheimnis. Wahrscheinlich hatte sie ihn beim Kämpfen beobachtet, bevor ihm die Veralenergie ausgegangen war. Die Art seines Gefängnisses war der hinreichende Beweis dafür.
Wenn sie es also darauf anlegte, ihn zu peinigen, würde sie sich ihre Munition selbst suchen müssen. Außerdem pochte ihm der Kopf für ein Wortgefecht viel zu sehr.
Also lehnte Acarion sich mit dem Rücken an die Metallstäbe und blickte die Frau mit dem blonden Zopf nicht mehr an.
„Hast du mit diesem Gesichtsausdruck auch meine Freunde angesehen, während du sie abgeschlachtet hast?" Wut und Schmerz sprachen gleichermaßen aus ihrer Stimme. „Als wären sie nichts weiter als Rak'ysch, die du unter deinen glänzend polierten Stiefeln zerquetschst?"
Acarion verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen, dass er sich lediglich verteidigt hatte.
Neben ihm wichen die Berge zurück. Die blonde Frau war aus seinem Blickfeld verschwunden.
Nur einen Moment später legte sich eine Hand von hinten an seinen Kopf und krallte sich in seinen Haaren fest. Bevor Acarion Zeit hatte zu reagieren, war es, als würde ein glühendes Eisen an seine Kopfseite gepresst. Der Schmerz, der ihn ohnehin schon gequält hatte, war um ein Vielfaches verstärkt worden, floss wie Feuer durch seine Gliedmaßen, pochte als gnadenloser Hammerschlag in seinem Kopf. Das war kein einfacher Angriff. Das war Magie.
Acarion schrie beinahe auf, hatte aber gerade noch genug Selbstbeherrschung übrig, ihr diese Genugtuung nicht zu geben.
„Fiona, hör auf!", erklang da eine andere Stimme, dieses Mal eine männliche.
Der Schmerz in Acarions Kopf ebbte auf das vorherige Maß ab, als der Griff in seinen Haaren sich lockerte und die Hand verschwand. Er rutschte von den Gitterstäben weg, außerhalb ihrer Reichweite. Beschämt stellte er fest, dass seine Hände und Knie zitterten.
Acarion wandte sich wieder um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass die Frau mit dem blonden Zopf, Fiona, sich wieder auf ihr Pferd schwang, Hass in den dunklen Augen.
Neben ihr war ein weiterer Reiter aufgetaucht, dessen Gesicht Acarion ebenfalls schon gesehen hatte. Es wurde von einem schwarzen Bart dominiert und die Augen darüber blickten erstaunlich klug, doch in ihnen loderte etwas, das Acarion zur Vorsicht mahnte.
Der Mann ignorierte ihn jedoch völlig und fixierte stattdessen Fiona. Es hätte Acarion nicht gewundert, wären Blitze aus seinen Augen geschlagen.
„Wenn du irgendeine Ader in seinem Hirn zum Platzen bringst, bringt er uns gar nichts mehr. Du wirst ihn in Ruhe lassen. Haben wir uns verstanden?"
Fiona warf ihm einen verächtlichen Blick zu und antwortete nichts. Aber sie trieb ihr Pferd wieder an und verschwand nach vorne. Der schwarzbärtige Mann warf Acarion einen Blick zu, sagte aber nichts. Dann ritt auch er wieder nach vorne, in den Bereich, den Acarion aufgrund des Pferdes, das sein Gefängnis zog, nicht sehen konnte.
Halbherzig testete Acarion, ob die magische Barriere im hinteren Teil des Wagens noch Bestand hatte. Wie erwartet trafen seine Finger erneut auf ein unsichtbares Hindernis. Wie auch immer Fiona es durchdrungen haben mochte, für ihn ergab sich kein Vorteil daraus.
Acarion stieß die Luft aus und ließ sich wieder in eine liegende Position rutschen, wohlweislich so weit wie möglich von den Käfigwänden entfernt.
Er hatte eine gewisse Ahnung davon, in welche Lage er geraten war. Der Bärtige hatte davon gesprochen, dass er von Nutzen sein würde. Und es gab nur einen Nutzen, den Acarion sich vorstellen konnte.
Der Sklavenhandel war in Tavagarien seit mehreren Jahren verboten, aber in den letzten Monaten hatten sich immer wieder beunruhigende Berichte gefunden, welche die Dörfer an den Ausläufern des Blutdorngebirges betrafen. Die Leute, die zu arm oder zu stur waren, um dort wegzuziehen, litten immer häufiger unter einer anderen Art von Menschenhändlern: Sie überfielen und entführten Menschen und verkauften sie weiter – aber nicht, damit sie unangenehme Arbeiten ausführten, sondern damit sie als Nahrung für eine Gruppe dienten, die von der Lebensenergie anderer abhängig war. Als Preis dafür erhielten sie eine Art Immunität gegenüber ähnlichen Überfällen.
Und die Verox konnten sicherstellen, dass ihre unheilbare Sucht gestillt wurde.
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