Von Loslaufen und Zurückbleiben
Einige Zeit später zwang Yona sich zum Aufstehen. Ihre Gliedmaßen waren steif und schmerzten und sie schlotterte, obwohl es eine milde Nacht war. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er auf die dreifache Größe angeschwollen.
Es war Yona bewusst, dass sie laut platschte, als sie durch den Bach trat, dass das Gras deutlich hörbar unter ihren Schritten raschelte, als sie sich die kurze Strecke zum Lager durchkämpfte. Es war ihr egal. Wenn sie jetzt noch jemand hören konnte, war ihr Plan ohnehin gescheitert.
Irgendwo in der Dunkelheit schnaubte ein Pferd. Vorsichtig umrundete Yona die formlosen Figuren, die sich um das nur noch schwach glimmende Feuer zusammengerollt hatten.
Schon ein Stück weiter vorne war sie unabsichtlich der schwarzhaarigen Frau auf die Hand getreten. Offenbar hatte sie Wache halten wollen und war dabei eingeschlafen. Trotz der Schmerzen, die Yona ihr verursacht haben musste, war sie nicht aufgewacht.
Es war schwer, den Wagen auszumachen, in dem Acarion gefangen gehalten wurde, vor dem Hintergrund des Blutdorngebirges war er beinahe unsichtbar.
„Für einen geheimen nächtlichen Besuch ist diese Lautstärke beeindruckend. Man könnte meinen, eine Tapukherde nähere sich", drang es da zu Yona.
Offensichtlich hatte Acarion sie erkannt. Sie ging einen unsicheren Schritt zurück, bückte sich und holte einen noch schwach flackernden Ast aus dem Lagerfeuer. Das Licht schmerzte in ihren Augen. Mit dem Zweig in der Hand näherte sie sich wieder dem Wagen.
Acarion saß im entspannten Schneidersitz auf dem hölzernen Boden, nur knapp unterhalb von Yonas Augenhöhe. Um den Wagen herum war das hohe Gras hastig heruntergekürzt worden.
Acarion selbst schien in einem besseren Zustand zu sein, als Yona es sich erhofft hatte. Zwar zog sich über seine rechte Schläfe der Schorf der Platzwunde, die Grimor ihm zugefügt hatte, und die Haut um sein rechtes Auge war noch bläulich-gelb verfärbt, aber seine dunklen Augen blickten scharf wie eh und je. Die schwarzen Haare, von Holzsplittern durchsetzt und deutlich länger, als sie beim Aufbruch aus Tavagar gewesen waren, verliehen ihm nun erstmals nicht das Aussehen eines geschniegelten Höflings und plötzlich glaubte Yona, auch optisch den Mann zu erkennen, der im Großen Krieg zu einem Helden geworden war.
„Tapuks", erwiderte sie schließlich leise, „sind Einzelgänger. Außer in Gefangenschaft gibt es keine Herden."
Bevor Acarion antworten konnte, geschah etwas, mit dem Yona nicht gerechnet hatte. Völlig ohne Vorwarnung schlugen die Ereignisse der letzten Tage über ihr zusammen. Die Entscheidung, die sie im Blutdorngebirge getroffen hatte, der Mord an Korman, die Erinnerungen an ihre Zeit bei Einauge. Was sie Foks angetan hatte. Es war, als hätte sich in ihrem Inneren eine große Blase gefüllt, die jetzt durch die Erschöpfung und die Schmerzen in ihrem Kopf und ihrer Schulter zum Platzen gebracht wurde. Vielleicht auch dadurch, ein vertrautes Gesicht zu sehen.
Tränen schossen in Yonas Augen und ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Und es hörte nicht auf. Während sie von einem Weinkrampf geschüttelt noch um Worte rang, konnte sie wie durch einen Schleier trotzdem erkennen, dass Acarion nun völlig vor den Kopf gestoßen schien.
Natürlich. Man konnte tagelang unentdeckt seinen Gefängniswärtern folgen, ohne nennenswerte Konsequenzen einen von ihnen töten, es irgendwie schaffen, dafür zu sorgen, dass niemand die Befreiung mehr aufhalten konnte, das rührte ihn nicht. Aber ein paar Tränen, damit konnte er nicht umgehen.
„Ich ... stehe noch nicht an der Schwelle des Todes, wenn es darum geht", sagte Acarion trocken.
„Weiß ich", stieß Yona hervor und fuhr sich gereizt über die Wangen und Augen, ohne etwas auszurichten. „Es ist nur, es ist nur ... ich dachte schon, ich würde nie eine Gelegenheit finden, mit dir zu reden und dann ist die einzige Möglichkeit, das zu erreichen, den Jungen zu bedrohen, von dem ich dachte, dass ich ihn beschützen müsste oder könnte oder ... ach, auch egal. Und ich habe wieder getötet und hätte beinahe noch mehr getötet und ich dachte, ich würde noch mehr töten und ... und wir haben uns so schreckliche Sachen an den Kopf geworfen und dann dachte ich, sie hätten dich umgebracht und trotzdem war es irgendwie richtig, hinterherzugehen und jetzt bin ich hier und meine Schulter tut so weh und ich glaube, mein Kopf explodiert gleich."
Außer Atem hielt Yona inne, nun selbst in der Hocke, die Hände in der wirren Haarmähne vergraben. Langsam ebbten die krampfhaften Schluchzer ab. Vorsichtig hob Yona den Kopf und wappnete sich für Acarions Blick, aus dem vermutlich eine Mischung aus Amüsement und Verachtung sprechen würde.
Stattdessen aber hatte er die Stirn in leichte Falten gezogen und wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie seinen Gesichtsausdruck als besorgt beschrieben.
„Geht es wieder?", fragte er schließlich, während sie sich erneut mit dem Ärmel über das Gesicht fuhr. Yona nickte vorsichtig.
„Was ist mit deiner Schulter?"
Sie schnaubte. „Ich habe nicht aufgepasst und im Blutdorngebirge hat mich ein Pfeil in die Schulter erwischt. Es heilt nicht gut. Egal."
Entschlossen richtete Yona sich wieder auf, ignorierte das Schwanken, das diese Bewegung auslöste. Noch einmal wischte sie sich über die Wangen, energischer diesmal. „Weißt du, wer den Schlüssel zu deinem Wagen hat?"
„Grimor, aber du wirst ihn nicht brauchen", sagte Acarion, der sie misstrauisch beäugte und sofort wandte sie sich um, ließ den Blick über die schlafenden Gestalten beim Lagerfeuer wandern.
„Gut. Ich bin gleich zurück."
„Yona, warte. Du brauchst die Schlüssel nicht."
„Ich bin mir ziemlich sicher, heute Nacht könnte ich dem Mann noch wertvollere Besitztümer klauen als nur ein paar Schlüssel", sagte sie abwesend. „Einige Dinge, an denen er ... ganz besonders hängt."
„Ich will nicht, dass du mich hier herausholst."
„Ich bin gleich ... bitte was?" Yona war so fokussiert darauf gewesen, was nun die klügste Taktik sein könnte, dass sie erst mit deutlicher Zeitverzögerung realisierte, was Acarion gesagt hatte. „Was soll das heißen?"
Sie drehte sich wieder zu ihm herum, der glimmende Stock warf flackernde Schatten auf Acarions Gesicht. Seine scharfen Gesichtszüge wirkten hart und entschlossen. „Es bedeutet genau das, was ich gesagt habe. Yona, ist dir bewusst, was das hier für Menschen sind?"
„Sklavenhändler", antwortete sie zögerlich. Augenblicklich kam in ihr das Gefühl auf, dass sie etwas Wichtiges verpasst hatte. „Sie werden dich und die anderen in der nächsten Stadt an den Höchstbietenden verkaufen."
„Und dafür reisen sie buchstäblich durch das Blutdorngebirge, wo bekanntermaßen wenig Menschen unterwegs sind, und vermeiden dann die meisten Ortschaften?"
„Die Gegend hier ist unbewohnt...", sagte Yona langsam.
„Kaum. Sie haben nur Angst vor den Bewohnern." Acarion verschränkte die Hände im Schoß und lehnte sich ein Stück nach vorne. „Das sind keine gewöhnlichen Sklavenhändler. Sie verkaufen die Menschen nicht an zwielichtige Stadtherren, sondern an die Verox."
Ein Stück des Astes, den Yona hielt, brach ab und fiel ihr auf die Hand, noch immer glimmend. Sie zuckte zusammen, fluchte laut und wischte das Holzstück von ihrer Haut. Es hinterließ wütende rote Stellen. Doch dieser Schmerz war kein Vergleich zu dem Loch, das sich in ihrer Magengrube aufgetan zu haben schien. Eine unsichtbare Schlinge schien ihr die Kehle zuzuschnüren, als sie versuchte, zu antworten.
„Das glaube ich nicht. Die Verox ... die Verox überfallen manchmal Dörfer, manchmal verschwinden einzelne Leute ... aber sie ... aber es gibt doch keinen Handel."
„Den gibt es", antwortete Acarion düster und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich vermute, als Bezahlung gibt es ein wenig Geld, aber viel wichtiger: Immunität für die Familien der Händler."
„Ich dachte ... die Verox ...", stammelte Yona, „... sie gehen wie auf die Jagd, schnappen sich einzelne Leute ... wie ... wie Raubtiere oder so."
„Aber so ist es doch viel einfacher", erwiderte Acarion, die Stimme triefend vor Verachtung. „Warum jagen, wenn man sich das Essen doch auch vors Tor bringen lassen kann?"
„Warum tut da denn niemand etwas dagegen", würgte Yona hervor.
Ein Schatten huschte über Acarions Gesicht und sie erkannte, dass sie einen wunden Punkt angesprochen hatte. Wenn sie jemals aus dieser Situation herauskamen, würde sie Acarion darüber ausfragen müssen, was genau ihn dazu gebracht hatte, dass er sich alleine auf dieser Mission befand. Hätte ihn nicht der halbe Hofstaat Tavagariens unterstützen müssen? Raverion eingeschlossen?
„Nein, egal", unterbrach sie Acarion, als der zu einer Antwort ansetzen wollte, „das macht die Sache doch nur noch dringlicher. Wir müssen dich hier rausholen."
Jetzt hatte er wieder diesen Gesichtsausdruck, der ihr sagte, dass sie einen wichtigen Punkt übersah. Aber Acarions Stimme war nicht unfreundlich. „Erklär mir doch, wie du dir das vorstellst. Wir zwei verdrücken uns im Laufe der Nacht in ein uns unbekanntes Gebiet, überlassen die Leute hier ihrem Schicksal und morgen kommen uns Grimor und Fiona auf den Pferden hinterhergeritten und sperren uns beide hier in den Käfig."
Yona musste dem Drang widerstehen, wie ein trotziges Kind die Arme vor der Brust zu verschränken und mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen. „Dann nehmen wir die Pferde mit." Auf den anderen Punkt, den mit den anderen Sklaven, ging sie nicht ein.
„Ach." Sogar in dem schwachen flackernden Flammenlicht konnte sie sehen, dass Acarion die Augenbrauen hochzog, dann aber mit ungewöhnlich sanfter Stimme weitersprach. „Du sagst, du hast eine Pfeilwunde in der Schulter, deine Augen sind glasig, also hast du Fieber. Du hast nächtelang nicht oder nur wenig geschlafen. Kannst du wirklich tagelang fliehen? Von den anderen Gefangenen ganz zu schweigen."
Yona hätte ihm gerne vorgeworfen, dass ihm die anderen Leute herzlich egal gewesen waren, als er die Bitte abgeschlagen hatte, länger in Yara zu bleiben. Doch sie verzichtete darauf. Irgendwie schien der Vorwurf mit der Zeit an Kraft zu verlieren.
„Also schön", fauchte sie, heftiger als sie eigentlich gewollt hatte. „Was ist dann dein grandioser Plan?"
„Grimor hat die Hälfte seiner Leute verloren", sagte Acarion, den Blick wie in Gedanken zur Seite gerichtet. „Und wir nähern uns einer Händlertruppe."
„Tun wir?", murmelte Yona. Ihr war nichts dergleichen aufgefallen.
„Hast du nicht die Wagen und den Rauch gesehen?"
Sie schüttelte den Kopf. Allein die Bewegung ließ ihr wieder Tränen in die Augen schießen.
„Grimor will diese Leute überfallen. Er braucht die Vorräte und die Waffen."
Yona verzog das Gesicht. Acarions Blick bohrte sich nun in ihren. „Du musst diese Händler vor uns erreichen. Warne sie, überzeuge sie davon, sich gegen Grimor zu verbünden. Er hat ihnen nichts entgegenzusetzen, wenn sie zusammenhalten." Acarion hielt kurz inne. „Mach ihnen klar, dass ich nicht möchte, dass alle aus Grimors Gruppe umgebracht werden. Sie wissen, wo der Austausch der Gefangenen mit den Verox stattfinden soll, und können uns dahin führen."
Yona starrte ihn an. „Das ist Wahnsinn."
„Möglicherweise ist er mit gewissen Risiken verbunden", sagte Acarion ruhig, „aber der Gewinn könnte auch deutlich höher sein." Ein drängender Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, seine Gesichtszüge schienen in dem flackernden Feuerschein beinahe grotesk. „Ich muss an den Ort kommen, wo die Verox sich versteckt halten. Sie dürfen unter gar keinen Umständen zu alter Stärke zurückkehren."
Unglücklich blickte Yona ihn an. Da war ein Hass und eine Dringlichkeit, die in ihm schwelten, knapp unter der Oberfläche von Pflichtgefühl und Arroganz verborgen. Doch sie hatte das Gefühl, dass Acarion einen bereits verlorenen Kampf kämpfte. Auf einmal war Yona unglaublich müde und sie wurde sich wieder des Pochens in ihrer Schulter bewusst.
„Nein", sagte sie schließlich mit fester Stimme. „Ich lasse dich nicht einfach hier zurück."
Zögernd blickte Yona zu Acarion. Er saß nun in der Hocke direkt an den Stäben und ein Feuer schien in seinen Augen zu lodern, das durch die Verletzung nur noch betont wurde.
„Das ist ein Plan, bei dem unglaublich viel schiefgehen kann und wird", murmelte Yona, der Mut, den sie eben noch verspürt hatte, irgendwo in ihrem dröhnenden Kopf verlorengegangen.
„Und du traust es dir nicht zu?"
Yona schüttelte den Kopf. Sie ahnte, dass sie unter anderen Umständen widersprochen hätte, Acarion seine abwertenden Worte um die Ohren geschlagen hätte ... aber heute konnte sie nicht.
„Ich hole dich hier raus."
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