Von Licht und Schatten
Die Sonne ging auf. Das zumindest war Yonas erster Gedanke, als sie die Augen wieder öffnete. Der sanfte goldene Schein hätte sie im Normalfall vielleicht geblendet, aber gerade war sie so froh, die Sonne überhaupt zu sehen, dass es sie nicht kümmerte.
Sie fühlte sich ... nicht schlecht, zumindest. Und sie lebte. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte, als ihre Kräfte sie irgendwann verlassen hatten. Sie erinnerte sich vage daran, dass die unkontrollierten Magieangriffe zu diesem Zeitpunkt bereits abgeflaut waren. Die Schnitte, waren einem Prickeln wie von Insektenstichen gewichen.
Yona glaubte sich zu erinnern, dass sie und Acarion gleichzeitig zu Boden gesackt waren. Dass keiner von ihnen noch ein Wort gesagt hatte, bevor sie endlich eingeschlafen waren.
Jetzt erst fiel Yona der Denkfehler auf, den sie begangen hatte. Die Sonne ging nicht auf - sondern unter. Sie stand am anderen Ende des Himmels. Im Süden, dort, wo sie wusste, dass sich der Luven befand und wo sie, hätte sie nicht gegen die abendlichen Sonnenstrahlen anblinzeln müssen, Harving bereits in ihrem Blickfeld befunden hätte. In wenigen Tagen würden sie dort sein.
Ein leises Geräusch ließ Yona herumfahren. Es war Acarion, der sich gerade aufrichtete. Tiefe Schatten lagen unter seinen dunklen Augen, aber von den Wunden, die ihm wie ihnen allen zugefügt worden waren, war keine Spur geblieben.
Er nickte Yona zu.
„Immer noch am Leben", sagte sie knapp.
Die Andeutung eines Lächelns zuckte um seine Lippen. „Hast du etwas Anderes erwartet?"
„Nicht mehr ab dem Moment, wo ich dir zur Hilfe gekommen bin."
Yona lächelte zurück. Auch die anderen hatten begonnen, sich zu regen und ein winziger Hauch des Glücksgefühls flackerte in Yona auf. Sie hatten es überstanden. Sie hatten alle überlebt. Nur für diesen Augenblick erlaubte sie sich, so zu tun, als wäre das der Abschluss. Das glückliche Ende, das sie sich vorgestellt hatte.
Sie erlaubte sich, so zu tun, als wären die dunklen Mauern von Harving in unerreichter Ferne.
„Du weißt nicht, ob sie ihr Versprechen wirklich halten wird", sagte Yona leise und nickte mit dem Kinn zu Fiona, die sich gerade laut stöhnend und fluchend auf die Beine kämpfte.
Acarions Gesicht war eine steinerne Maske. Yona hatte keine Ahnung, was er dachte.
„Sie wird ihr Versprechen halten. Ich werde ihr die Anwendung von Magie beibringen. Sobald sie erfährt, wie viel sie noch lernen kann, wird die Gier in ihr erwachen. Ich habe Spuren davon in ihren Augen gesehen."
In ihren oder in deinen, fragte Yona sich, als Acarion sich ohne ein weiteres Wort abwandte und zu den anderen zurückging. Es hätte sie nicht gewundert, wenn es gewesen wäre, um sie zur Eile anzutreiben.
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Das Schlachtfeld lag hinter ihnen. Harvings Mauern waren in beinahe greifbare Nähe gerückt. Es war, als würde sie einen Schatten voraussenden, der eiskalte Fühler nach Acarions Seele ausstreckte. Deswegen hatte er sich auch nicht den Jubelschreien der anderen anschließen können, als sie das Schlachtfeld verlassen hatten.
Eigentlich jedoch war dieser Moment symbolisch gewesen. Sie hatten eine Schlacht gewonnen, genau wie es damals bei der Schlacht von Harving gewesen war. Der eigentliche Krieg lag noch vor ihnen. Genau, wie es damals bei der Schlacht von Harving gewesen war.
In dem Moment stöhnte Lira ihm gegenüber und Yona lachte. Acarion zwang seine Gedanken zurück in die Gegenwart. „Du musst aufnehmen, Acarion."
Er blinzelte und starrte kurz verwirrt auf die Karte, die vor ihm im Gras lag.
„Spielt er immer so?", fragte Lira. „Dann verstehe ich, warum du nicht mit ihm in einem Team sein wolltest."
„Das ist einer seiner besseren Tage", gab Yona ungerührt zur Antwort, aber ihre verschiedenfarbigen Augen blitzten. „Die kannst du schön selbst behalten!", fügte sie hinzu, als Lira ungeschickt ein Niesen vortäuschte und dabei versuchte, eine Karte in ihre Richtung zu schnippen.
„Acarion, Ihr gebt vor", forderte Corrion, die hellen Augen ohne zu blinzeln auf Lira gerichtet. Bisher hatte es niemand geschafft, ihm eine Karte unterzuschieben.
Grimor saß etwas abseits und betrachtete sie mit unbeteiligtem Blick. Niemand hatte ihm angeboten, sich an dem Spiel zu beteiligen, und er hatte nicht gefragt.
Aber Acarion war schon wieder nicht bei der Sache. Was, wenn er sich mehr Gedanken hätte machen müssen, eine genauere Strategie entwickeln müssen? Aber er konnte nicht genau wissen, was ihn bei den Verox erwartete, er konnte nur ahnen, wie er zu ihnen hineingelangen konnte ...
„Sag mir bitte, dass du noch Stein auf der Hand hast", sagte Lira in dem Moment gequält.
Acarion überflog seine Karten. „Sollte ich das?", fragte er kühl.
„Solltest du, sonst hättest du vorhin spielen müssen, als Corrion vorgegeben hat."
„Ich sehen, wie Fiona vorankommt", sagte Acarion stattdessen und legte seine Karten verdeckt neben ihr kleines Feuer. „Wir können ja später weiterspielen."
Umstandslos schnappte Yona sich seine Karten, bevor er sie aufhalten konnte, und warf einen Blick darauf.
„Es war noch nie deine Stärke, eine Niederlage einzugestehen, oder?", spottete sie, aber Acarion hatte sich bereits erhoben und ging zu dem Stück Wiese hinüber, auf dem zu üben er Fiona vor dem Beginn der Runde Schlag-den-Hirsch verdonnert hatte.
Sie war gerade dabei, Veralenergie aus dem Boden aufzunehmen. Dabei atmete sie laut und deutlich ein.
„Es bringt dir absolut nichts, wenn du dabei nach Luft schnappst wie ein Fisch auf dem Trockenen."
Sie zuckte zusammen und bedachte ihn mit einem wütenden Blick, legte aber die Hand wieder auf den Boden. Wieder atmete sie hörbar ein, als sie versuchte, die Veralenergie aufzunehmen.
Gereizt warf Acarion die Hände in die Luft und wollte sich abwenden, und zurück zu den anderen zu gehen. Vielleicht war das nicht seine beste Idee gewesen. Vielleicht hatte Fiona zumindest heute seine harsche Kritik nicht verdient, aber seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Sie würden Harving am nächsten Tag erreichen. Das hier war ihre letzte gemeinsame Rast.
„Gut", sagte Acarion etwas versöhnlicher gestimmt, als Fiona erfolgreich die Energie der kleinen Pflanzen zu ihren Füßen aufnahm. Dann hielt er ihr eine kleine Blüte hin, die Blütenblätter von dem Staubbeutel in der Mitte abgetrennt. „Heile sie."
Fiona blinzelte. „Heilen? Sollte es nicht Zusammenfügen sein?"
Acarion verzog missbilligend den Mund. „So eine Lösung wäre immer temporär, die Veralenergie ist kein Klebstoff. Aber das hier sollte eine ganze Blüte sein. Das kann sie nur wieder werden, wenn du es mit Heilung versuchst."
Fiona runzelte die Stirn, nickte aber. Sie richtete die Hand auf die Blüte.
„Die Hand wird dir nicht weiterhelfen", sagte Acarion.
„Doch, tut sie", fauchte sie.
Kleine weiße Fäden bildeten sich von den Blütenblättern und griffen wie mit dünnen Fingern nach dem Staubbeutel. Dann verblassten sie.
Fiona stöhnte genervt auf.
„Nochmal", forderte Acarion ungerührt. Es war unwahrscheinlich, dass Fiona, eine Anfängerin, es schaffen würde, auch nur ein Blütenblatt wieder an seinen angestammten Platz zu bringen. Aber versuchen musste sie es.
Außerdem tat es ihm gut, die Gedanken auf etwas Anderes richten zu können als das, was er tun würde, wenn er den Verox gegenübertrat.
Wie so oft im Laufe des Tages wanderte Acarions Blick zu dem dunklen Fleck, der Harving war, gerade noch so erkennbar vor der sich herabsenkenden Dunkelheit. Die Stadt lag im Schatten des Blutdorngebirges, die Berge streckten ihre schartigen Finger nach den grob gehauenen Mauern aus, ohne sie jemals ganz erreichen zu können. Gleichzeitig konnte man in der Entfernung noch das Wasser des Luven im Sonnenuntergang glitzern sehen, ein hoffnungsvolles Flimmern, zwar vielversprechend, das Harving aber ebenfalls gerade so nicht erreichen konnte. Die Stadt war schon immer eine Gefangene zwischen den Welten gewesen. Nicht weit hinter ihr befand sich die lavókanische Grenze.
„Ich hab's geschafft!" Fiona stieß ein triumphierendes Heulen aus.
Acarion riss seinen Blick von Harving los und richtete ihn wieder auf die Blüte in seiner Hand. Und tatsächlich, alle Blütenblätter waren wieder an ihrem Platz, keine Spur war von den Verbindungslinien zurückgeblieben.
Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. Fiona hatte eine Leistung vollbracht, die den meisten Studenten in Akkron erst nach mehreren Wochen glückte. „Gut", sagte er und riss die Blütenblätter wieder ab. „Noch einmal."
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