Von Herrschern und Unterlegenen
Es war keine leichte Aufgabe, im tavagarischen Thronsaal den Blick beim Eintreten ehrerbietig auf den König gerichtet zu halten. Eine gesamte Längsseite des Raumes wurde von deckenhohen Fenstern eingenommen, vor denen sich die Stadt Tavagar zu den Füßen des Betrachters erstreckte. Es war ein wahrhaft königlicher Anblick, insbesondere im Licht der Nachmittagssonne, die mit ihren warmen Strahlen die Häuser in einer schützenden Umarmung hielt.
Das herrschaftliche Bild zerbrach allerdings, sobald man den Blick auf den eigentlichen Saal richtete.
Der Raum hinterließ wie der Rest Me'lions seit dem Krieg einen seltsam ausgehöhlten Eindruck. Ehemals prunkvolle Mosaike schmückten die Wände und ihre Umrisse ließen einen Schatten dessen erahnen, was einmal gewesen war. Hinter dem Thron hing ein in verstaubtem Dunkelblau gehaltenes Banner, bestickt mit dem tavagarischen Wappen. Das Silber der stilisierten Blume unter dem wuchtigen Turm war ebenso verblasst wie der blaue Stoff.
In dieses Bild fügte König Raverion sich nahtlos ein. Wenn auch wie Acarion selbst kaum über die Zwanzig hinaus, erinnerte seine Miene an die eines alten Mannes. Der einfache Goldreif, den er anstelle einer Krone trug, schien ein unverrückbares Gewicht auf seinen Schultern zu sein und unter den blauen Augen, die Acarion als entschlossen und selbstbewusst kennengelernt hatte, lagen violette Ringe.
Einzig Raverions Haltung zeugte davon, dass er weder sich noch sein Königreich bisher aufgegeben hatte. Er nahm den Thron mit einer Selbstverständlichkeit ein, die Acarion ihm vor wenigen Rú-Zyklen nicht zugetraut hätte, und seine breiten Schultern zeugten von der Tatsache, dass er den Großen Krieg nicht hinter sicheren Mauern verbracht hatte.
Die Türen des Thronsaals fielen hinter Acarion ins Schloss. Das Donnern vibrierte durch den steinernen Raum.
„Eure Majestät", sagte Acarion und verneigte sich. Noch immer vergaß er manchmal, wie groß der Rangunterschied zwischen ihm und Raverion mittlerweile war. Nur ein Ring, aber dieser Ring symbolisierte Welten.
Der König erhob sich nicht, bedeutete Acarion allerdings, näherzutreten. „Ich hätte wissen müssen, dass dich das Wort zweier Wachen nicht aufhalten würde."
Er neigte nur den Kopf. „Ich habe wichtige Neuigkeiten."
„Eine Sitzung des Kreis der Vielen hätte sich dafür wohl ebenso angeboten."
Acarion biss die Zähne zusammen. Hätte er sich auf diese Weise dem Protokoll unterworfen, hätte er zuvor eine weitere Sitzung des Rates über sich ergehen lassen müssen.
„Ich weiß, wo die Verox sich aufhalten."
Raverions Hände umklammerten die Lehnen seines Stuhls und sogar auf die Entfernung konnte Acarion sehen, dass sich der Kiefer des Königs anspannte. „Ist dem so."
Es war nicht die Reaktion, die Acarion sich erhofft hatte. Es waren die wichtigsten Neuigkeiten der letzten Zeit, wenn nicht sogar seit des Großen Krieges. Er zog die Karte von Tavagarien, die er aus seiner Bibliothek mitgenommen hatte, aus der Tasche.
Als Raverion keinerlei Anstalten machte, einen Tisch oder etwas Ähnliches bringen zu lassen, faltete Acarion sie auf und hielt sie mit einer Hand in die Luft.
„Hier haben sie sich versteckt", sagte er leise und fuhr mit der behandschuhten Hand die dunklen Kanten nach, die im Osten das Blutdorngebirge symbolisierten, jenes Massiv an der Grenze zum lavókanischen Herrschaftsgebiet. „Die Verox haben sich nach dem Krieg ins Gebirge verkrochen, um ihre Wunden zu lecken."
„Das ist seit langem bekannt." Nun erweckte Raverion den Eindruck, er müsse sich an seinem Thron festhalten. „Und ich brauche keine Auffrischung der tavagarischen Geographie. Wieso ersparst du uns nicht die unnötige Dramatik?"
Um eine unangenehme Pause zu vermeiden, faltete Acarion die Karte wieder zusammen. Unwillen brodelte in ihm. „Was bisher noch nicht bekannt war, ist, wo genau sie sich verbergen." Hinter ihm wurden die Türen erneut geöffnet, aber Acarion würde nun nicht innehalten. „Ich habe es herausgefunden."
„Und den Quell dieser großartigen Erkenntnis wollt Ihr sicherlich im Folgenden darlegen."
Langsam wandte Acarion sich um. Breson hatte den Raum betreten. Der Leiter der Magierakademie Akkron trug eine reich bestickte, dunkelblaue Robe und einen Kopfschmuck, der aus vergoldeten Blüten zu bestehen schien. Letzterer erinnerte unangenehm an eine Krone.
Breson verneigte sich tief vor Raverion und als er sich wieder aufrichtete, war ihm die Selbstzufriedenheit bis zu den Spitzen seines imposanten Schnurrbarts anzuerkennen.
„Ich bin untröstlich, Eure Majestät, dass ich private Unterhaltungen störe." Das Funkeln in Bresons Augen strafte ihn Lügen. „Doch ich bin mir sicher, dass Themen besprochen werden, die auch in der nächsten Sitzung des Kreises der Vielen ihren Platz gefunden hätten. Vielleicht kann ich einen wertvollen Teil beitragen?"
„Alternativ", schlug Acarion ruhig vor und wünschte, Raverion und nicht er würde diese Worte aussprechen, „wartet Ihr draußen auf den richtigen Moment, um Eure geschätzte Meinung mit dem König zu teilen."
„Das würde ich zu gerne." Bresons stechende Augen richteten sich auf seinen ehemaligen Studenten. Acarion hatte diesen Blick schon während der Zeit in Akkron gehasst. Der Leiter der Akademie setzte ihn immer dann auf, wenn er eine Frage stellte, von der er wusste, dass niemand die Antwort kannte. „Allerdings", fuhr der hagere Mann nun auch schon unbeeindruckt fort, „habe ich im Gegensatz zu euch tatsächlich eine Audienz mit König Raverion vereinbart."
Acarions und Raverions Blicke trafen sich nur für einen kurzen Moment, aber für diesen Augenblick erinnerte Acarion sich an andere, unbeschwerte Gelegenheiten. Wären sie noch in diesen Zeiten, hätten sie nun beide die Augen verdreht über die typische höfische Arroganz, die andauernde Tendenz, sich selbst zu wichtig zu nehmen.
Heute waren die Rollen anders verteilt und Raverion der König, der Zugeständnisse zu machen hatte. „Eure Gedanken sind sehr willkommen."
Wären sie noch in den alten Zeiten gewesen, hätte Acarion ihm ein empörtes ‚Was' oder vielleicht noch ein ‚Wie bitte' entgegengespuckt. Heute wusste er es besser und er neigte nur den Kopf, auch wenn es in ihm kochte.
Und er tat auch wie ihm geheißen, als Raverion ihn aufforderte: „Fahre fort, Acarion."
„Das Blutdorngebirge ist von einem Netz aus Höhlen durchzogen, die das ideale Versteck bieten. Ohnehin werden die Berge von kaum jemandem betreten. Außer ..." Er erlaubte sich eine kurze Pause. „Außer von den Metalltransporten aus Lavókan."
„Euer Wissen ist überholt", schnarrte Breson. „Der Handel läuft schon lange über den Luven ab."
„Angeblich." Acarion warf dem Magier nicht einmal einen Blick zu. „In letzter Zeit fehlt jedoch außerordentlich häufig ein fester Prozentsatz in den Lieferungen, die am Hafen in Tegan einlaufen. Auf dem Weg über den Luven löst sich ein Teil der Ware in Luft auf."
„Wenn man den lavókanischen Beteuerungen Glauben schenkt, dass bis dorthin alles seine Ordnung hat", warf Breson ein.
Acarion biss die Zähne zusammen. Er würde sich nicht wieder in die hanebüchene Diskussion ergehen, ob Lavókan sich auf einen neuen Krieg vorbereitete. Darum ging es nicht.
Auf Raverions Stirn hatte sich eine Falte gebildet und er saß aufrechter auf seinem Thron als zuvor. „Und was ist deine Erklärung dafür?"
„Sie schicken einen Teil des Metalls über das Blutdorngebirge, um bei dem Weg über den Luven nicht alles zu riskieren. Wenn sie sich nicht zu weit von Harving entfernen, ist das Blutdorngebirge noch überwindbar."
„Das Schlachtfeld vor Harving –", wollte Breson dazwischenfahren, aber dieses Mal hob Raverion die Hand und der Magier verstummte. Acarion unterdrückte ein zufriedenes Lächeln.
„Das Schlachtfeld kann umgangen werden, wenn ein Bogen durch das Gebirge geschlagen wird. Dort, wo die Verox sich in den Tunneln verstecken und die Händler nur noch in eine Falle locken müssen."
Er atmete einmal durch.
„Es gibt nur diese einzige Erklärung für die Regelmäßigkeit, mit der die Lieferungen verschwinden. Ein Sat'ysch oder ähnliches Ungetier legt sich keinen geregelten Speiseplan an. Es können nur die Verox sein. Wir wissen jetzt, wo sie sind. Es ist nur an uns, endlich die Initiative zu ergreifen."
Acarion verlieh dem letzten Satz so viel Nachdruck, wie er nur konnte. Raverion musste nun begreifen. Er musste verstehen. Und endlich etwas tun.
„Ich sehe, worauf du hinauswillst", sagte Raverion. Er versuchte, sich durch die dunkelblonden Haare zu fahren, stieß aber mit der Hand an den Goldreif und ließ sie wieder sinken. „Aber, offen gesagt, glaube ich, dass du voreilige Schlüsse ziehst."
Acarion wollte Einspruch erheben, doch sein König hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab.
„Wie auch immer", fuhr Raverion fort, „ich habe Vertrauen in die lavókanischen Beauftragten, dass sie sich nicht willkürlich entscheiden würden, einen so risikoreichen Weg in Kauf zu nehmen."
„Ein kluger Einwand, Eure Majestät."
Acarion wirbelte zu Breson herum. Es hätte ihn nicht gewundert, hätte er eine Ölspur gesehen, die der Magier hinter sich herzog, so schleimig hatte dessen Stimme geklungen. Er glaubte, ein selbstzufriedenes Lächeln unter dem Schnurrbart hervorblitzen zu sehen.
„Wenn, dann lässt Lavókan seine Güter vorher verschwinden. Das Risiko im Blutdorngebirge und durch Harvings Schlachtfeld ist zu groß."
Breson richtete den vergoldeten Blumenkranz auf seinem Kopf. Die Geste wirkte nicht im Mindesten zufällig.
„Wir haben hier und jetzt deutliche Hinweise dafür, wo die Verox sich verkrochen haben", versuchte Acarion es noch einmal. „Wir wissen, dass sie geschwächt sind. Je länger wir hier sitzen, desto weniger können wir uns dessen sicher sein. Insbesondere, wenn ich Recht habe und sie bald die Mittel in der Hand haben, um Waffen herzustellen."
Raverion nickte langsam. „Breson, lasst uns noch einen Augenblick allein. Ich werde Euch erneut rufen lassen."
Breson sah aus, als hätte man ihn gezwungen, einen Rak'ysch zu verspeisen. Aber er widersprach nicht. Stattdessen verbeugte er sich und murmelte einen höflichen Gruß.
Als die Türen hinter ihm wieder zugefallen waren, erhob Raverion sich von seinem Thron und ging zu einem der Fenster.
Nach einem Moment des Zögerns folgte Acarion ihm, hielt aber einen respektvollen Abstand ein.
Vor ihren Füßen erstreckte sich Tavagar. Einige Menschen hielten sich auf den breiteren Straßen Tavagars auf, sie trugen Einkäufe, verschwanden im nächsten Gasthaus oder unterhielten sich mit Bekannten. Vor Me'lion selbst hatte sich eine stetig anwachsende Traube von Menschen gebildet. Sie alle warteten auf die Ankündigung des Königs, die heute stattfinden sollte.
Das warme Licht der Nachmittagssonne traf auf Raverion und ließ ihn in einem Licht erstrahlen, das ihn viel königlicher aussehen ließ als jeder Thron. Ein Reflex des Goldreifs blendete Acarion.
„Wir können es nicht riskieren", sagte Raverion schließlich und die Illusion zerbrach.
Etwas, das stärker war als nur Widerwillen, wallte in Acarion auf. „Es wird nie wieder einen besseren Zeitpunkt geben als den jetzigen. Wir könnten uns in einem erneuten Krieg wiederfinden, wenn wir jetzt nicht handeln." Als der König schwieg, fügte er hinzu: „Ihr wisst, dass meine Schlussfolgerungen korrekt sind."
„Es wäre eine Möglichkeit, auch wenn deine Präsentation derselben eher als Selbstdarstellung zu beschreiben ist."
Acarion setzte zu einer Erwiderung an, doch Raverion sprach bereits weiter.
„Aber einen Punkt verstehst du nicht. Wir können die Menschen diesem Risiko nicht aussetzen. Was, wenn du falschliegst, und die Armee weit entfernt im Blutdorngebirge ist? Was, wenn die Verox sich durch unseren Angriff zu einem früheren Rückschlag genötigt fühlen? Es gibt zu wenig, das wir mit Sicherheit sagen können."
Acarion zwang die Wut in sich zurück, doch die höfliche Anrede entglitt ihm. „Was ist das denn für eine Sicherheit, die du ihnen bieten kannst? Eine trügerische, wenn überhaupt. Solange Rox im Blutdorngebirge am Leben ist, haben auch die Verox Bestand und solange gibt es so etwas wie eine Sicherheit nicht. Raverion, sie werden ausnahmslos zu Monstern, wenn wir sie nicht stoppen."
Statt einer Antwort wandte Raverion sich Richtung Tür. „Ich habe meine Entscheidung getroffen."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro