Von geraden Wegen und Abzweigungen
Es war Ofris Zustand, der sie irgendwann dazu zwang, eine Pause einzulegen. Das Pferd ließ seinen Kopf hängen und Schaum stand ihm vor dem Mund. Sie mussten anhalten, wenn sie ihr zweites Reittier nicht auch noch verlieren wollten. Der Regen fiel unablässig und Yona und Acarion hatten seit ihrer Flucht aus dem Turm kein Wort miteinander gewechselt.
Die Hügel erstreckten sich unverändert weiter vor ihnen, aber um gelegentlich auftauchende Dörfer schlugen sie nun einen weiten Bogen. Es war längst Nacht geworden, als sie anhielten, aber Acarion hatte den Verdacht, dass sie bis zum Morgen durchgeritten wären, hätte Ofri weniger bemitleidenswert gewirkt.
Sie machten in einer halbwegs geschützten Kuhle an einem Hang halt, der von hüfthohen, sternblättrigen Pflanzen bewachsen war und ihnen ein wenig Schutz bot.
Als sie vor dem von Acarion entfachten Feuer saßen, war es wie üblich Yona, die das Schweigen brach. „Das war das zweite Mal", sagte sie, den Blick auf die tanzenden Flammen gerichtet.
Acarion nickte. Sie hatte genau das angesprochen, was ihn den ganzen Nachmittag schon beschäftigt hatte.
„Immerhin wissen wir jetzt, woher diese Viecher kommen ...", murmelte sie.
Der Schock saß ihr immer noch tief in den Knochen, Acarion konnte es daran sehen, wie sie immer noch unbewegt in die Flammen sah, die Gesichtszüge starrer als gewöhnlich.
„Offensichtlich habe ich die Anzeichen nicht korrekt gedeutet", sagte er.
„Da waren keine Anzeichen, die du hättest deuten können", sagte sie tonlos. „Was auch immer passiert ... es passiert noch nicht lange."
Acarion blickte zur Seite. „Aber es war das gleiche Gefühl wie auch schon vor Yara. Als nähere sich etwas Dunkles."
„Als hätten sich Wolken vor die Sonne geschoben, obwohl sie strahlend am Himmel steht", ergänzte Yona. „Ich dachte aber nicht ..."
„Was hast du gesehen?", fragte Acarion, einer plötzlich auftauchenden Erinnerung folgend. „Du wolltest mich warnen, gerade in dem Moment, als Novrion gestorben ist. Was hast du gesehen?"
Yona zuckte nur die Schultern und warf einen weiteren Stock in die Flammen. Ein Funkenregen stieg in den Nachthimmel. „Zwei weitere Leichen." Sie stockte. „Eine alte Frau und ein Verox."
„Ein Verox? Wie sah er aus?"
„Zerstört", wisperte Yona. „Als wäre ... etwas aus ihm herausgebrochen. Von innen. Die Frau war völlig unversehrt."
Acarion starrte sie an. Irgendwo in dieser Beschreibung verbarg sich die Lösung für das Problem, das die schwarzen Schatten darstellten.
„Der Verox hat also die Frau getötet ...", murmelte er. „Sonst wäre sie nicht unverletzt geblieben. Er muss in den Turm eingedrungen sein und –"
„Woher weißt du das?", fragte Yona und Bitterkeit lag in ihrer Stimme. „Bei unserem Wissensstand könnte Novrion genauso gut ein Verox gewesen sein."
Acarion dachte einen Moment darüber nach. „So, wie er von ihnen gesprochen hat? So, wie er auf uns reagiert hat?" Abwesend strich er über die Kette um seinen Hals. „Nein, das glaube ich nicht."
Aber wie sollte er dann erklären, was Yona gesehen hatte? Ein Verox, aufgeladen mit der gestohlenen Veralenergie. Welche Kräfte hatte der schwarze Fetzen Novrion gegeben, um es mit dem Monster vor ihm aufnehmen zu können? Wie war der Verox letztendlich gestorben?
So viele unbeantwortete Fragen kreisten durch Acarions Kopf, dass er der Versuchung widerstehen musste, die Stirn in die Hände zu stützen. „Fest steht doch", sagte er kalt, „dass es mit den Verox zu tun hat. Wie immer stehen sie damit im Zusammenhang, wenn irgendein Übel geschieht."
Er hörte selbst, wie verbittert er klang.
„Das kannst du nicht wissen", flüsterte Yona. Sie klang besorgt, aber Acarion sah sie nicht an.
„Es muss so sein. Um Yara herum haben zwei Verox gehaust, hier liegt einer von ihnen tot herum ... wo auch immer die schwarzen Fetzen auftauchen, sind die Verox nicht weit. Es kann kein Zufall sein."
Nun blickte er doch auf. Falten lagen auf Yonas Stirn und sie musterte ihn nachdenklich. Funken tanzten um ihr Gesicht. Schließlich war sie diejenige, die den Blickkontakt unterbrach.
„Wenn es wenigstens etwas gebracht hätte. Aber Novrion hatte nichts zu sagen. Nichts. Alte Legenden und Kindergeschichten, das ist alles, was er von sich geben konnte."
Acarion nickte zwar, war aber nicht vollends überzeugt. Zweifellos war Novrion wahnsinnig gewesen. Aber Acarion kam nicht umhin, zu vermuten, dass dort irgendetwas in den Worten Novrions gewesen war ... irgendetwas, das er ihnen tatsächlich hatte mitteilen wollen. Er konnte es allerdings nicht benennen und schwieg.
Yona klaubte einen nur an einem Ende brennenden Zweig aus den Flammen und ließ ihn funkensprühend vor sich durch die Luft wirbeln.
„Ich hatte solche Angst", sagte sie so leise, dass Acarion sie kaum noch verstehen konnte. „Ich konnte gar nicht mehr klar denken."
In gewisser Weise fühlte Acarion sich schuldig. Er hatte schon einmal einen der schwarzen Fetzen vernichtet, damals, vor Yara. Aber er kannte ebenfalls das Gefühl, das Yona gerade beschrieben hatte. Er war so getrieben gewesen von dem animalischen Instinkt, möglichst viel Abstand zwischen sich und die Kreatur zu bringen, dass er schlichtweg nicht daran gedacht hatte. Außerdem hatte er in dem betreffenden Moment keine Veralenergie zur Verfügung gehabt, den Vorrat, den er eigentlich angelegt hatte, um Farén zu helfen, hatte er zur Gänze verbraucht, als er den Turm davon abgehalten hatte, über seinem und Yonas Kopf zusammenzubrechen.
Ausgerechnet diesen Augenblick wählte sie, um zu fragen: „Erzählst du mir, was passiert ist, bevor Novrion aus seiner Falltür gekrochen ist?"
Eigentlich wollte Acarion die Frage mit einer kurzen Antwort abblocken, aber er war in einer seltsam melancholischen Stimmung, die nicht nur damit zu tun hatte, dass sie heute mehrfach fast gestorben wären. Zum zweiten Mal hörte er die Bitterkeit in seiner eigenen Stimme, als er antwortete.
„Jede Anstrengung kann den eigenen Körper überfordern."
„Warum siehst du dann aus, als wolltest du dir dafür die eigenen Augen auskratzen?"
Das war ein seltsames Bild, aber wieder entschied Acarion sich dazu weiterzureden. „Weil es nicht so sein sollte. Bei der Veralenergie geht es einzig und allein um Kontrolle." Abwesend fuhr er mit der Hand über die Kette an seinem Hals. „Ich sollte die Kontrolle nicht verlieren. Ich sollte ... sollte besser sein."
Schon den ganzen Nachmittag drängten sich mit aller Macht andere Bilder in seinen Kopf, Bilder von anderen Steinen, die über ihm in der Luft gehangen hatten. Eine andere Gelegenheit, doch auch dort hatte er versagt. Sein Bein erinnerte ihn jeden Tag daran.
„Ich bin an meine Grenzen gestoßen, mehrfach heute", fuhr Acarion leise fort. Auch er sah jetzt ins Feuer. Es war einfacher so. „Farén konnte ich verkraften, ich bin kein Heiler. Aber das im Turm hätte mich nicht überanstrengen dürfen."
Yona musterte ihn aus ihren verschiedenfarbigen Augen. Im flackernden Licht der Flammen erschien es Acarion, als würde hinter diesen Augen mehr Weisheit liegen, als seine Begleiterin bisher hatte durchblicken lassen. „Das hat es nicht", sagte sie schließlich. „Wir leben schließlich noch."
Beinahe hätte Acarion humorlos aufgelacht. Es waren exakt die gleichen Worte, die Raverion gewählt hatte, am Tag, nachdem Tavagar beinahe gefallen wäre. Am Tag, nachdem sie gemeinsam auf Me'lions Wehrgang gestanden und die Verox aufgehalten hatten.
„Was ist?", fragte Yona.
„Diese Worte höre ich nicht zum ersten Mal. Das letzte Mal hat König Raverion sie zu mir gesagt, nachdem ich zum Krüppel wurde."
Sie zögerte. „Was ist passiert?"
Er hörte sich wie von außen erzählen, wie Tavagar beinahe in der letzten Schlacht des Großen Krieges noch gefallen war, wie die Verox plötzlich die Mauern Me'lions erklommen hatten.
„Einer der Schildtürme der Festung wurde zerstört", sagte Acarion, „ich habe die Trümmer magisch aufgefangen und sie auf die Verox stürzen lassen."
Steinbrocken, erst eingefroren in der Luft, dann plötzlich tödliche Geschosse.
„Es hat mich ... überfordert, wie heute auch. Ich habe mich verausgabt und dabei meine Deckung vernachlässigt. Eine verirrte Klinge hat sich in mein Bein gebohrt." Acarion stieß die Luft aus. Er erinnerte sich nur vage an den sirrenden Schmerz, der durch seinen Körper geschossen war. „Ich weiß nicht einmal, wie ich überlebt habe. Als ich wieder aufwachte, war der Krieg vorbei. Und ich ein Krüppel."
Einer der Äste in den Flammen rutschte nach unten und ließ einen Funkenschauer in die Luft steigen.
„Ich weiß nicht, wer versucht hat, mein Bein zu heilen, aber er hat keine gute Arbeit geleistet. Ich bin nicht verblutet, aber ein Erinnerungsstück an diesen Tag trage ich jetzt mit mir."
Yona musterte ihn, als würde er keinen Sinn ergeben. „Aber warum kannst du es nicht als etwas Positives sehen?", fragte sie. „Warum machst du dir Vorwürfe, statt deine Verletzung wie eine Trophäe zu behandeln? Du hast doch alles richtig gemacht. Du hast den verdammten Krieg mitentschieden."
„Weil ich es für mich nicht gereicht hat am Ende", erwiderte Acarion heftig. „Weil der einzige Grund dafür, dass es nicht schlimmer geworden ist, darin liegt, dass es ein letztes Aufgebot der Verox war. Sie hatten eigentlich schon verloren. Aber wären sie klüger vorgegangen, hätten sie strukturierter angegriffen ... ich hätte sie nicht aufhalten können."
Acarion machte eine kurze Pause, um seine Gedanken zu sammeln. Wahrscheinlich hätte er nicht weiterreden sollen, aber er tat es trotzdem.
„Und auch kein anderer hätte es gekonnt. Ich bin ... in einigen Aspekten ... der mächtigste Magier, den Akkron in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Wenn ich es nicht schaffe, die Grenzen von dem auszuweiten, was für uns möglich ist, wenn ich nicht besser bin, wird es keiner tun. Dann treten wir bis in alle Ewigkeit auf der Stelle!"
Yona nahm sich untypisch viel Zeit, bevor sie antwortete.
„Ich vermute, ich bin nicht die beste Person, um darüber zu urteilen", sagte sie langsam. „Aber ich habe den Eindruck, du verlangst dir selbst zu viel ab. Du kannst doch nicht ... das ganze Schicksal von Tavagar auf deine Schultern laden."
In ihren Augen flackerte etwas auf, und für einen Moment schien es Acarion, als hätte sie die Worte am liebsten zurückgenommen. Doch dann fuhr sie fort.
„Es ist gut, für Dinge die Verantwortung tragen zu wollen. Oder auch nur zu entscheiden, etwas ändern zu wollen." Sie wiederholte die schwingende Bewegung mit dem brennenden Ast und beobachtete die Funken, die er hinter sich her zog. „Es ist mutig, das zu tun, auch wenn es Konsequenzen hat. Viele gehen diesen Schritt niemals."
„Was bringt dich zu der Annahme?", fragte Acarion und es war keine Frage zum Schein. Er wollte ihre Antwort hören.
Wieder dauerte es eine Weile, bis Yona weitersprach. „Über mich haben lange andere Leute bestimmt, über alle Aspekte meines Lebens. Jahrelang habe ich in Fesseln gelebt. Und ich will mich nie wieder so fühlen. Koste es, was es wolle"
Mit einer endgültig wirkenden Bewegung warf Yona den Ast zurück ins Feuer.
„Ich werde jede Minute in Freiheit genießen", fuhr sie dann fort, die Stimme kräftiger als zuvor. „Und ich muss die Konsequenzen akzeptieren, die das mit sich bringt. Aber ich suche mir auch die Punkte, wo ich etwas ändern kann, weil ich in einer anderen Position bin als früher."
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ich würde ... nichts anders machen. Man geht auf dem Weg, den man einmal für sich gewählt hat, und du kannst nicht zurückgehen. Aber auf diesem Weg kannst du immer noch versuchen, das Beste daraus zu machen."
Als Acarion den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schnitt sie ihm mit einer entschiedenen Handbewegung das Wort ab.
„Heute war es allein dir zu verdanken, dass wir nicht unter Novrions Turm begraben oder von einer Schlammlawine erschlagen wurden. Was wirklich ein unwürdiger Tod gewesen wäre, nebenbei gesagt. Wen kümmert es da, ob du danach ohnmächtig geworden bist? Was du bis dahin getan hast, hat ausgereicht. Heute hast du uns gerettet. Das ist alles, was zählt."
Das Lächeln, das er ihr schenkte, war ein ehrliches. Sie hatte es wirklich versucht und sie hatte nicht einmal unrecht. Doch sie irrte sich in einem entscheidenden Punkt.
Ihre Gleichung ging nicht auf, denn Acarion hatte sich in dem Moment dazu entschieden, die gesamte Verantwortung für mehr als einen Tag zu schultern, als er sich alleine auf den Weg in den Süden gemacht hatte. Aber das konnte sie nicht wissen, und er würde sich hüten, es ihr zu sagen. Wenn er Rox nicht tötete, würde es niemand tun.
Was das für Tavagarien und die Welt bedeuten würde, konnte er sich nicht einmal ausmalen.
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