Von Erinnerungen und Vorausahnungen
„Ihr werdet mich mitnehmen."
Es war eine unruhige Nacht gewesen und Acarion hatte nur bedingt Schlaf gefunden. Sowohl die Sorge, der abgebrannte Gefängniswagen könnte wieder aufflammen, als auch die Befürchtung, es könnten sich weitere ungebetene Gäste zu ihnen gesellen, hatten ihn wachgehalten. Doch nichts dergleichen war geschehen. Múran und seine Anhängsel blieben verschwunden, ebenso wie Fiona und Grimor. Nicht, dass Acarion von Letzteren etwas Anderes erwartet hätte. Aber nun stellte Lira eine ähnliche Forderung an ihn wie Yona.
Die junge Frau hatte sich die Haare zu einem honigblonden Zopf geflochten und sich in dem kleinen Bach, der am Lager vorbeifloss, gewaschen. Von ihrer ausgemergelten Figur abgesehen deutete kaum noch etwas auf die Zeit hin, die sie in Grimors Wagen verbracht hatte.
„Warum sollten wir das tun?" Acarion musterte sie von oben bis unten. „Du schuldest uns etwas, nicht umgekehrt."
Empört stieß Lira die Luft aus. „Ich habe in dem Kampf genauso mitgeholfen wie alle anderen auch. Effektiver als manche, würde ich sagen."
Ihr Blick streifte Corrion, Erions Vater, der sich am Rande von Acarions Blickfeld herumdrückte und offensichtlich nach einem Vorwand suchte, in das Gespräch einzusteigen.
„Corrions Loyalität kann ich mir sicher sein", gab Acarion kühl zur Antwort. Er hatte bereits in der vorhergehenden Nacht mit dem Mann gesprochen und seine Absprache getroffen. Hier gab es nichts mehr zu sagen, auch wenn seine Aussage gegenüber Lira nicht vollständig der Wahrheit entsprach.
„Und wieso meiner nicht?"
Weil du nicht anbieten kannst, was er anbieten kann.
„Weil ich dich nicht kenne."
„Dann lern mich kennen."
In diesem Moment trat Yona zu ihnen. „Ach, so weit sind wir schon gekommen?"
Sie hatte sich ebenfalls gewaschen, sah jedoch nicht ausgeschlafen aus. Unter ihren verschiedenfarbigen Augen lagen noch immer violette Ringe, aber sie grinste.
Lira entspannte sich. Aus irgendeinem Grund schien sie zu Yona Vertrauen gefasst zu haben. „Ich versuche es zumindest. Aber es ist nah an der Erfahrung dran, mit einer Wand zu reden."
„Das überrascht mich nicht", erwiderte Yona und maß Acarion mit einem Blick, den er ungerührt erwiderte.
„Hört zu, ihr wollt doch zu den Verox, oder?"
Acarions missmutiges Schweigen deutete Lira offenbar als Zustimmung und sie hob das Kinn. „Ich habe im Großen Krieg mitgekämpft. Ich habe mich nicht hinter den Mauern verkrochen und gehofft, dass es an mir vorüberzieht."
Er konnte sehen, dass sie nicht log. Zu aufrecht war ihre Haltung, zu entschlossen der Blick in ihren Augen.
„Ich weiß, worauf ich mich einlasse. Und ich wusste, was auf mich zukommt, als ich in Grimors Gewalt geblieben bin."
In Liras Augen sah Acarion plötzlich seine eigenen Gedanken während der Gefangenschaft widergespiegelt. Jetzt verstand er, wie sie der Tortur durch Grimors Behandlung hatte standhalten können.
Yonas Blick huschte zwischen ihnen hin und her. „Ist das dann jetzt geklärt? Acarion, du weißt, dass ich immer dafür bin, die Leute solche Sachen selbst entscheiden zu lassen."
Acarion stieß die Luft aus. „Ich werde auf niemanden warten."
Mit diesen Worten waren alle offenen Fragen besprochen.
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Es hätte keinen Zweck gehabt, die Spuren des Lagers zu verwischen. Zu viel Gras war um den Gefängniswagen herum verbrannt und zu weit verstreut lagen dessen Überreste. Wenn jemand ihnen folgen wollte, würde derjenige es tun.
Acarion bezweifelte allerdings, dass das geschehen würde. Der Grund dafür lag in dem Weg, der vor ihnen lag. Harving war einmal eine blühende Handelsstadt gewesen, vielleicht sogar die blühendste in ganz Tavagarien. Sie lag an den äußeren Ausläufern des Blutdorngebirges und nahe der Grenze zwischen Lavókan und Tavagarien.
Und sie war eine der ersten Städte gewesen, die unter den Angriffen der Verox gefallen war.
Der Kampf war einer der ersten des Krieges gewesen. Acarion war zu dem Zeitpunkt noch zu jung gewesen, gerade erst von Akkron abgegangen und damit beschäftigt, sich einen Ruf zu erarbeiten. Aber er kannte die Geschichten. Sie waren genug, dass sich die Leute noch immer von Harving und von dem die Stadt umgebenden Schlachtfeld fernhielten.
Das Blutdorngebirge bildete einen stoischen Wegweiser, als Acarion, Corrion, Yona und Lira aufbrachen. Sie hatten nichts weiter zu tun, als den Bergketten bis zu ihrem südlichen Ausläufer zu folgen. Das Schlachtfeld von Harving war angeblich nicht zu verfehlen.
Acarion hielt den Blick steif nach vorne gerichtet. Was auch immer ihn auf diesem Schlachtfeld erwarten würde, es wäre kein Vergleich zu dem, was die Verox zu bieten hatten. Ob er in Harving Menschen finden würde, angekettet wie Nutztiere, bereit, ihrer Veralenergie beraubt zu werden, sobald es einem beschuppten Monster beliebte?
„Ich glaube nicht, dass du nur mit deinen Blicken einen Weg in das Gras brennen kannst." Yona war neben ihn geritten, so vertraut in Ofris Sattel, als wäre sie nie von dem Tier getrennt gewesen. Acarion hatte mit einer namenlosen Stute von Grimor vorliebgenommen.
„Warte es ab", sagte er lediglich und ohne den Blick von der Bergkette abzuwenden, die ihnen so unmissverständlich den Weg wies.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt glauben, du hättest gerade einen Witz gemacht. Allerdings einen schlechten."
Acarion schnaubte.
„Ich habe wirklich schon bessere Gespräche mit dir geführt."
„Wir waren auch schon in besseren Situationen", ließ er sich dann doch dazu herab, ihr zu antworten.
„Tatsächlich?" Lira hatte sich ihnen ebenfalls genähert und musterte Acarion neugierig. „Wieso erzählt ihr mir nicht davon? Ich habe einige Zeit in diesem Wagen verbracht."
„Yona spricht gerne", wiegelte Acarion ab. Er hatte nicht die Nerven dafür übrig, Lira eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse zu geben.
„Du willst nicht allen Ernstes, dass ich alles ab Tavagar bis hierher im Alleingang zusammenfasse", protestierte Yona und schüttelte sich die Haarmähne aus dem Gesicht. „Wir sind in Harving, bis ich fertig bin!"
Sie kniff die Augen und starrte in Richtung Horizont.
„Ich glaube, ich kann es schon sehen."
Ruckartig setzte Acarion sich im Sattel auf. Die Ebene erstreckte sich in unveränderter Ödnis vor ihnen, auch wenn das Gras, das ihnen am Morgen noch bis zu den Knien gereicht hatte, langsam kürzer wurde. Er konnte nichts von dem sehen, was Yona entdeckt zu haben glaubte.
„Bist du dir sicher?"
„Hmmm", machte Yona. „Vielleicht habe ich mich geirrt. Es könnte auch deine Bereitschaft gewesen sein, dich an einem Gespräch zu beteiligen, die ich in der weiten, weiten Ferne gesehen habe."
Acarion wandte sich zu ihr um, ließ sich aber zurück in seinen Sattel sinken. „Überaus witzig."
Lira allerdings prustete. „Wenn ich das so sagen darf, Acarion, ich habe dich für schlagfertiger gehalten."
Er schickte einen zweiten vernichtenden Blick in ihre Richtung. Nichts von dem, was ihm auf der Zunge lag und kindisch in irgendeiner Art und Weise enthalten hätte, kam über seine Lippen.
„Wir haben uns in einer Reisegruppe in Tavagar kennengelernt", nahm Yona nun dankenswerterweise den Faden wieder auf. „Er hat es geschafft, mit seiner liebenswürdigen Art wirklich jeden in der Gruppe gegen sich aufzubringen. Als ich ihn kurz aus den Augen gelassen habe, haben sie sich gerade dazu angeschickt, ihm die Kehle durchzuschneiden."
Acarion umfasste die Zügel seines Pferdes fester.
„Bist du krank?", fragte Yona.
Dieses Mal zog Acarion es tatsächlich vor, zu schweigen. Das war jedoch nicht nur darauf zurückzuführen, dass ihm zum wiederholten Male keine angemessene Erwiderung einfallen wollte. Er hatte tatsächlich etwas am Horizont entdeckt, während die anderen mit Lachen beschäftigt waren.
Corrion wusste Acarions Gesichtsausdruck offenbar richtig zu deuten. „Ja", sagte der Händler düster. „Das ist es."
„Wovon redet ihr?" Yona reckte den Hals.
„Das Schlachtfeld." Lira gab sich nicht annähernd so viel Mühe, etwas zu erkennen. Offenbar wusste sie, was sie erwartete.
„Was für ein Schlachtfeld?"
„Das Schlachtfeld von Harving", sagte Acarion, bevor Lira etwas sagen konnte.
Schlagartig gab Yona es auf, sich den Hals zu verrenken. „Jetzt, wo ich darüber nachdenke, muss ich das gar nicht unbedingt sehen." Sie verstummte für einen Moment, die Augen auf Ofris Mähne gerichtet. „Besteht eigentlich unser ganzer Weg nur daraus, über irgendwelche alten Schlachtfelder zu reiten?"
Dieses Mal schnitt Lira Acarion das Wort ab. „Wir waren es nicht, die diesen Krieg erzwungen haben. Aber den Preis haben wir alle bezahlt."
„Es war eine hässliche Zeit", fügte Corrion hinzu. „Sie hat Narben hinterlassen."
Mit einem Anflug von Erstaunen beobachtete Acarion, wie Yonas Hand für einen Moment zu ihrem Handgelenk zuckte, zu der Stelle, wo sie die Verbände unter ihrem Oberteil verbarg. Die Bewegung hatte er bei ihr noch nie gesehen. Oder hatte er lediglich noch nie darauf geachtet?
„Aber wo ist es jetzt? Das Schlachtfeld?"
Lira ritt neben Yona und deutete nach vorne. „Du siehst doch das Blutdorngebirge, oder?"
Yona warf einen ungläubigen Blick zu den Bergen, die sich links von ihnen auftürmten. „Gerade so."
„Gut. Folg ihm mit deinem Blick."
Acarion schaute nun selbst wieder nach vorne. Ihm war das unheimliche Phänomen hinreichend bekannt, aber es war ihm ein Bedürfnis, es noch einmal nachzuempfinden. Begünstigt durch die weite Ebene zog sich das Blutdorngebirge wie eine Naht durch das Land. Am Horizont verblassten die Berge, doch das war nicht alles. Kurz, bevor sie nicht mehr sichtbar wurden, verloren sie jede Farbe und wurden grau. Die Konturen schienen unschärfer zu werden, unwirklicher, und die Schatten tiefer, als es ihnen in dieser Entfernung zustand.
Sogar auf die Entfernung nahm Acarion das untrügliche Gefühl wahr, das der Ort verströmte. Eine unausgesprochene Warnung, sich davon fernzuhalten und nie zurückzuschauen.
Yona musste es ebenfalls fühlen, denn sie war verstummt.
Acarion indes rechnete aus, wie lange es noch dauern würde, bis sie dort waren. Zwei, maximal drei Tage, schloss er schließlich. Sie waren mit Grimors Gruppe weiter in den Süden gekommen, als er das für möglich erachtet hatte.
„Was ist da passiert?", fragte Yona schließlich, ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern.
„Es war eines der ersten Aufeinandertreffen zwischen Magiern und Verox", erläuterte Acarion. Eine Kälte breitete sich in ihm aus, die er nicht betiteln wollte. „Niemand kannte die Möglichkeiten des Gegners. Niemand kannte die Grenzen dessen, was getan werden durfte. Die Gegend um Harving ist zerstört auf eine Art und Weise, die niemals wiederholt werden darf."
„Und da wollen wir hin?" Yona gab sich offensichtlich keine Mühe, zu verbergen, dass ihre Stimme bei dem Gedanken deutlich in die Höhe schoss. „Das klingt nicht nach einem Ort, an dem ich gerne wäre."
Acarion richtete den Blick wieder nach vorne. „Wir müssen."
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