Von Erinnern und Vergessen
Yona fror. Sie wünschte, sie hätte noch ein wenig länger in der wohligen Dunkelheit der Bewusstlosigkeit verharren können. Sollte die dreckige Realität doch hinter einem Schleier verborgen bleiben.
Sie wusste kaum, was geschehen war, spürte jedoch noch den Zug der Seile, die sie an Lira, Corrion und Acarion gefesselt hatten, erinnerte sich daran, dass sie die aufsteigende Panik gerade noch so hatte zurückdrängen können. Es war ihre Entscheidung gewesen.
Yona atmete tief ein. Die Luft schmeckte schal und schimmelig, eine metallische Note lag darin. Noch öffnete sie die Augen nicht.
Acarion, die Gesichtszüge so unbewegt, so unerschütterlich sicher in der Durchführung seines Plans. Das Gewicht von Corrions totem Körper, das sie in eine gebeugte Haltung gezwungen hatte. Schließlich ein Ruck nach hinten, blendender Schmerz, als ihr Kopf auf den Boden geschlagen war. Dann nichts mehr.
Yona hatte nicht sehen können, was Acarion getan hatte. Genauso, wie ihr die Möglichkeit entzogen worden war, auf die Geschehnisse in irgendeiner Art und Weise zu reagieren. Aber wenn er seinen Plan durchgesetzt hatte ...
Der Boden unter ihr war kalt und hart. Feuchtigkeit breitete sich Yonas Kleidung in ihre Knochen aus.
Das hätte anders laufen müssen, machte sich ein diffuser Gedanke in ihrem Kopf breit. Irgendetwas ist gewaltig schiefgelaufen.
Corrions trauriger, resignierter Blick hatte sich in Yonas Herz gebrannt und dort eingerichtet. Er leistete einigen anderen Gesichtern dort Gesellschaft.
Es gibt keinen anderen Weg, hatte Acarion gesagt, an dem Abend, als Harving am Horizont aufgetaucht war. Ich kann die Verox zerstören, aber ich kann es nur von innen heraus tun. Dafür brauche ich ihr Vertrauen.
Da war etwas. Scharf begrenzte Schmerzen, die sich von Yonas Handgelenken zu ihren Schultern ausbreiteten und nichts mit der Feuchtigkeit zu tun hatten. Sie zwang sich zu einigen vorsichtigen Bewegungen. Sie musste ihren Körper wieder spüren.
Corrion hatte genickt, langsam, gemessen, als hätte er alles vorausgeahnt. Es zerriss Yona noch immer das Herz. Acarion hatte sie gemustert, die Gesichtszüge ungewohnt offen, ungewohnt ehrlich. Sie müssen glauben, wir stünden auf unterschiedlichen Seiten. Dein Entsetzen wird mir Rückhalt geben. Aber ich will, dass du davon weißt, dass ihr wisst, worauf ihr euch einlasst.
Also hatten sie es getan. Sie drei hatten es gewusst. Corrion hatte sein Leben geopfert, damit Acarion das von vielen retten konnte. Aber Yona hatte ihren Teil der Abmachung nicht erfüllt. Sie hätte es nicht einmal getan, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Sie hätte einen anderen Weg gewählt.
Etwas klirrte. Yonas Kopf ruckte nach oben. Endlich öffnete sie die Augen. Sie befand sich in absoluter Dunkelheit. Der moderige Geruch und die Schmerzen in ihren Handgelenken trafen sie mit ungefilterter Heftigkeit.
„Yona?"
Das war Liras Stimme, direkt neben ihr, und sie hätte geantwortet, hätte in dem Moment nicht etwas Anderes ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Schmerzen in ihren Handgelenken stammten von einem rauen Seil. Fesseln, die sie an einen eisernen Ring banden, den sie gerade noch so mit den Fingerspitzen ertasten konnte. Gleichzeitig nahm Yona war, dass sie ihre Füße nicht rühren konnte, dass ihre Knöchel ineinander gepresst und ihr somit jede Bewegungsfreiheit genommen wurde.
Dieses Mal konnte sie die Panik nicht zurückhalten. Wie ein zusammenfallendes Haus stürzten alte Erinnerungen auf sie ein, schwere Körper auf ihrem, andere Hände, andere Fesseln, die ihre Handgelenke umklammerten, hineinbissen und sie ihrer Kontrolle unterwarfen.
Alles in Yona schrie auf. Sie warf den Oberkörper nach vorne, spürte ein Reißen in den Schultergelenken, wusste, dass sie keinen Erfolg haben würde. Wie von außen hörte sie sich aufschluchzen.
Holt mich hier raus holt mich hier raus holt mich hier raus. Vielleicht sprach sie einen Teil dieser Worte laut aus.
Die Seile brannten auf ihrer Haut, fraßen Spuren hinein, die sie prägten, seit Einauge Yona das erste Mal nicht mehr nur aus der Ferne hatte bewundern lassen.
„Yona, wir kommen hier so schnell nicht weg", sagte Lira sanft, aber die Worte drangen nicht zu ihr durch, ergaben keinen Sinn in dem Chaos, das in ihrem Kopf herrschte.
„Macht mich LOS!", schrie sie. Es war ihr egal, dass ihre Stimme sich überschlug, schrill von den steinernen Wänden des Gefängnisses widerhallte. Denn ein Gefängnis war es, in das man sie geworfen hatte, sie, deren Augenblick des Triumphes es eigentlich hatte werden sollen. Ein Ort wie den, an den niemals zurückzukehren Yona sich geschworen hatte, weil sie nicht sehen wollte, was das mit ihr machte.
„Ist sie übergeschnappt?", fragte eine zweite Stimme, harscher, kälter.
Beben breitete sich in Yonas Handgelenken aus, ergriff ihren ganzen Körper und ließ sie als zitterndes Häufchen Elend zurück. Mach mich los mach mich los mach mich los.
Übelkeit schlug die Krallen in ihren Magen, schnürte ihr die Luft ab und sie atmete zu schnell, aber sie konnte nicht anders, konnte nicht anders, als wieder die Hände zu erwarten, die ihr die zu leichte Kleidung vom Leib rissen und ihr ihre Deckung nahmen ...
Yona zog einen schützenden Schild um sich hoch, wie diejenigen, die Acarion so kunstfertig zu erstellen verstand, nur dass dieser hier nur in ihren eigenen Gedanken existierte und sie vor dem schützte, was sie nicht fühlen wollte. Er erlaubte ihr, mit leerem Blick in die undurchdringliche Schwärze zu starren.
„Yona? Kannst du mich hören?" Nein, konnte sie nicht.
„Ist sie wieder ohnmächtig geworden?" Die harsche Stimme.
„Ich glaube nicht."
„Was ist dann mit ihr los?"
„Ich sehe genauso wenig wie du, Grimor."
Einfach an den Seilen ziehen, irgendwann würden sie nachgeben, würden sie sie freigeben. Was war das für ein erbärmliches, wimmerndes Geräusch? Stammte es von ihr?
„Ich will hier raus", wisperte Yona.
„Damit bist du nicht alleine." Wieder die dritte Stimme. Grimor. „Aber leider haben wir hier in dieser Stadt keine Freunde."
Ich habe Freunde, drang ein Gedanke durch Yonas Schutzschild. Einen Freund zumindest. Einen, von dem ich dachte, dass er das hier nicht zulassen würde, einer, auf den ich mich verlassen wollte. Hatte er sie vergessen? Nach allem, was sie getan hatte?
„Scheint, als hätten wir uns auf ganzer Linie die falschen Freunde ausgesucht." Grimor.
„Acarion hat uns verraten. Nach all seinen großen Reden." Lira.
Das Schweigen, das sich danach auf sie herabsenkte, erlaubte es Yona, sich auf das Zittern ihrer Gliedmaßen zu konzentrieren, auf den Drang, ihre Angst, diese furchtbare Angst, in den Kerker hinauszuschreien und dabei dennoch nicht genug Luft zur Verfügung zu haben.
Es ist die Vergangenheit, hatte Kaedras ihr wieder und wieder gesagt, immer sorgsam auf Abstand bleibend, nachdem er erfahren hatte, dass sie nicht gut darauf reagierte, wenn man ihr tröstend über die Haare strich oder sie in den Arm nahm. Und doch hatte er Yona nie daran zweifeln lassen, dass er für sie da war. Lass sie ein Teil von dir sein, aber lass sie dich nicht kontrollieren. Du bist jetzt eine Andere.
Eine Stärkere.
Ich habe jetzt meine eigene Macht, wiederholte Yona das, was sie sich wieder und wieder gesagt hatte, unendliche Male, bis sie glaubte, dass es in ihre Haut und ihr Wesen eingeprägt war. Bis sie es so oft wiederholt hatte, dass sie gar nicht mehr anders konnte, als selbst daran zu glauben.
Fass mich nicht an waren die letzten Worte gewesen, die Einauge in seinem Leben gehört hatte. Yona hatte über seinem Leichnam gekniet, vollkommen widersinnige Tränen in den Augen, nur mit der Frage im Kopf, was sie getan hatte.
Kaedras hatte ihr geholfen, aus diesem Loch herauszufinden. Er war derjenige, der ihr beigebracht hatte, die neue Kraft, die neue Freiheit zu nutzen.
Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, wohin es Yona verschlagen hatte? Er hatte sie doch kaum aus den Augen lassen wollen. Du bist jung, du bist unerfahren ... Er wäre stolz darauf, wie weit sie gekommen war. Aber er würde ihr auch raten, jetzt nicht aufzugeben.
Langsam, allmählich, beruhigte sich Yonas Atem wieder. Das Gefühl einer Schlinge um ihren Hals war noch nicht verschwunden, aber es raubte ihr nicht mehr den Verstand.
Zögerlich ließ Yona den mentalen Schutz wieder sinken. Sie war stärker als das. Richtig?
„Grimor, was machst du hier?", fragte sie leise, ihre Stimme ungewohnt rau, beeinträchtigt durch ihre Schreie.
„Mir einen schönen Tag", antwortete er trocken.
Lira auf Yonas anderer Seite seufzte. „Grimor kam kurz nach uns hier rein, sie haben ihn irgendwo in der Stadt gefangen."
Ein Brummen unterbrach sie. „Erzähl die Geschichte wenigstens richtig", sagte Grimor. „Ich habe versucht, den Helden zu spielen und es hat geendet, wie Heldengeschichten im realen Leben verdammt häufig enden."
„Die Kinder", wisperte Yona. „Du wolltest die Kinder befreien."
„Gute Absichten führen nicht immer zu guten Ergebnissen", schnaubte Grimor. „Wie wir bei unserem werten Reisegefährten gesehen haben."
„Die guten Absichten waren doch nur Vorwand", spuckte Lira aus. „Wir haben uns alle hinters Licht führen lassen. Er hat uns als Geschenk für die Verox mitgenommen."
Kälte hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Yona konnte es Lira nicht einmal vorwerfen. Auch in sie fraß sich nach und nach der Zweifel. Wie war es dazu gekommen, dass sie im Gefängnis waren und Acarion verschwunden? Wieso war hier niemand, der auf sie achtete? Als sollten sie einfach nur aus dem Weg sein.
Vielleicht hatte sie ihr Vertrauen den falschen Personen geschenkt. Nach allem, was ich getan habe ...
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in meinem Leben Rox zu Gesicht bekommen und die Begegnung überleben würde", sagte Lira in dem Moment und Yona spürte, wie das Blut aus ihrem Kopf in ihre Füße sackte. Kurzzeitig wurde ihr schwindelig.
„Rox war hier?", fuhr es aus ihr heraus.
„Er hat Acarion höchstpersönlich in Empfang genommen. Man hätte meinen können, er hätte auf uns gewartet."
Von Grimors Seite ertönte das unmissverständliche Geräusch eines verächtlichen Ausspuckens.
„Rox hat uns ignoriert", sagte Yona tonlos, weniger Frage denn Feststellung. Wäre es anders gewesen, säße sie jetzt mit Sicherheit nicht in dieser Zelle.
„Hat uns kaum mit einem Blick gestreift", schnaubte Lira. „Wir sind es nicht einmal wert, zum Tode verurteilt zu werden."
„Außer Acarion", hakte Yona noch einmal nach.
„Rox hat ihn praktisch weggeschleift", ergänzte Grimor. „Und verdammt glücklich schätzen sollten wir uns, dass es so war."
Niemand sagte noch etwas dazu. Yona lehnte den Kopf an die steinerne Wand. Da war also die unumstößliche Wahrheit. Sie war tatsächlich im Stich gelassen worden. Sie würde keine Hilfe bekommen.
Schritte näherten sich. Licht wanderte über die feuchten Wände. Licht, das ruhiger war als das einer Fackel. Magisches Licht. Acarion?
Yona hob den Kopf. Vielleicht – Das Licht erlosch.
„Bei Rox' verficktem Umhang", fluchte jemand.
Das war nicht Acarion.
Flackernd und mehrfach beinahe wieder erlöschend erschien die magische Lichtquelle erneut und beleuchtete Fionas schmales Gesicht und ihren wirren blonden Zopf. Von unten angestrahlt wirkten ihre Züge unheimlich verzerrt.
Dieses Mal klappte Yona der Mund auf. Grimors Geschichte ergab Sinn. Aber Fiona? Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie eigentlich nicht bei ihnen sein wollte.
„Überraschung", sagte Fiona lahm. „Schön, dass ihr euch so freut, mich zu sehen."
„Was tust du hier?", fragten Yona und Lira gleichzeitig.
„Euch die Ärsche retten, nachdem ihr einen Arsch mit hierher gebracht habt", sagte Fiona und kicherte über ihren Witz.
Aber Yona konnte auch in dem schlechten Licht die Sorge in dem Gesicht der Frau sehen und etwas Anderes, Dunkleres, das sie besser verborgen hielt. Was auch immer Fiona hierher geführt hatte, Selbstlosigkeit war es nicht.
„Hast du die Schlüssel?", fragte Grimor langsam. Fionas Augen blitzten zu ihm hinüber.
„Nein." Sie schlenderte zu seiner Zellentür. „Aber ich habe Veralenergie."
Fiona bewegte die Hand mit der leuchtenden Kugel darauf auf das Schloss von Grimors Zelle zu. Konzentrierte Falten erschienen auf ihrer Stirn und Yona verstand im selben Moment, als sich eine Welle von Hitze durch den ganzen Raum ausbreitete.
Die Lichtkugel wurde jedoch ebenfalls heller. „Nicht", wisperte Yona. „Du wirst die Verox anlocken."
Fiona ignorierte sie, die Lippen zu einem Zähnefletschen verzogen. Die Lichtkugel strahlte gleißende Lichtimpulse aus. Schweißperlen traten auf Yonas Stirn.
An dem Schloss änderte sich nichts. „Das ist doch –"
„Halt die Klappe!", fuhr Fiona sie an. „Ich kann das!"
Die Lichtkugel zerstob in unzählige Funken, nur ein helles Abbild blieb auf Yonas Netzhaut zurück.
Und nun näherten sich weitere Schritte.
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