Vom Erstarren und Zusammenbrechen
Die Lawine traf auf ein unsichtbares Hindernis, eine Wand, eine Barriere aus verhärteter Luft. Brocken aus Erde und Brocken aus Stein wurden in die Luft und zur Seite geschleudert. Schlamm brandete gegen den Schild, das Dröhnen wurde lauter, kalter Wind fuhr in Yonas Haare.
Ihr Blick fand erneut Acarion, der hoch aufgerichtet neben ihr stand, die dunklen Augen so auf die gegen sein Werk ankämpfende Naturgewalt fixiert, als wolle er sie allein dadurch in ihre Schranken weisen.
Jetzt realisierte Yona die andere Energie, die in der Luft lag, das unspürbare Vibrieren, dass ihr die Härchen an Armen und Nacken emporstehen ließ. Die Barriere hielt stand, während um sie herum der Erdrutsch seinen zerstörerischen Pfad fortsetzte.
„Zum. Turm!", presste Acarion zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und Yona packte mit tauben Fingern Ofri und Farén bei den Zügeln und zog die widerwilligen Pferde mit sich, ignorierte die Angst, die ihr noch immer das Blut durch die Adern pulsieren ließ.
In der Macht, mit der die Erde gegen Acarions Schild schlug, schien die Wut der Natur selbst zu liegen, als würde sich darin ihr ganzer Zorn darüber entladen, aufgehalten worden zu sein. Das dumpfe Dröhnen hing noch immer in der Luft um sie herum.
Unter Yonas Füßen hatte sich der Boden selbst verflüssigt. Mehrfach wäre sie fast gestürzt und hätte den schützenden Keil verlassen, den Acarion um sie herum errichtet hatte.
Der Eingang des Turmes war offen, ob die Tür durch Gewalteinwirkung verschwunden oder einfach verfallen war, konnte Yona nicht sagen.
Kaum waren sie hindurch, wich ein Teil der Anspannung aus Acarions Körper. Ein Blick in sein Gesicht sagte Yona jedoch, dass ihn das Manöver viel Kraft gekostet hatte. Seine Züge wirkten wächsern, eine dünne Schweißschicht zog sich über seine Stirn.
Knack.
Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Yona klarwurde, dass sie keineswegs außer Gefahr waren. Draußen drückten noch immer die Konsequenzen des tagelangen Regens an den Turm. Das alte Gemäuer stöhnte. Staub rieselte von oben auf sie herab.
Yona fuhr herum. Wenn die Mauern des Turmes nachgeben sollten, würden sie lebendig begraben werden. Wobei das lebendig nicht mehr lange gelten würde.
Knack.
Yonas Atem gefror in ihrer Brust. Raus hier.
Bevor sie diese Gedanken in Worte fassen konnte, gab die hangzugewandte Wand des Turms nach.
Wie ein dreckiger Fluss wälzte sich eine braune Masse aus Erde in den Raum, doch das war nicht das eigentliche Problem.
Der Turm knackte noch ein letztes Mal.
Dann brach die gesamte angegriffene Wand in sich zusammen, kippte wie in Zeitlupe nach vorne und auf sie zu. Dieses Mal schrie Yona.
Einen Augenblick später schien die Zeit stillzustehen. Die Steine erstarrten in der Luft wie gefrorene Sturmwolken, gehalten von einer unsichtbaren Kraft. Atemlos wandte Yona sich um.
Acarion stand kerzengerade mitten in dem kleinen Raum, die Arme ausgestreckt, als würde er ein unsichtbares Gewicht stemmen. Die Augen hatte er konzentriert geschlossen, angestrengte Linien zeichneten sich um seinen Mund und auf seiner Stirn ab.
Beinahe glaubte Yona, ein Flimmern in der Luft um Acarion sehen zu können. Etwas wie Ehrfurcht machte sich neben der Panik in ihrem Körper breit. Auf irgendeine Weise machte die absolute Stille, die sich plötzlich über den Turm gesenkt hatte, Acarions Tat beeindruckender, als es der Schutzschild draußen gewesen war. Das erste Mal glaubte Yona zu verstehen, was die tavagarischen Magier eigentlich ausmachte.
Und dann kam ihr die Erinnerung an eine andere Aussage Acarions in den Sinn. Hat er nicht einmal gesagt, es gäbe wenig, das alberner aussähe als ein Magier, der die Hände zur Unterstützung braucht?
Bevor sich das Lächeln bei der Erinnerung vollständig auf ihre Lippen stehlen konnte, wurde es von einem anderen Gedanken erstickt. Diese Lösung war zeitlich begrenzt. Sie würde zusammenbrechen, sobald Acarions Vorrat an Veralenergie erschöpft war. Bei der Vorstellung verwirrte Yonas Inneres sich in einen einzigen Knoten.
Langsam, so unendlich quälend langsam, schwebten die losgelösten Steine an ihren ursprünglichen Platz zurück, verbanden sich mit der Wand. Das Loch wurde von der hereinbrechenden Erde gestopft. Langsam. Das Beben des Turms ließ nach. Langsam. Der Andrang der Naturgewalt schwächte sich ab. So furchtbar langsam.
Acarions Hände fingen an zu zittern.
Yona wünschte, sie hätte etwas tun können, um ihn zu unterstützen.
Das Dröhnen war beinahe verstummt.
Dann geschah das Unvermeidliche. Die Kraft, die aus Acarion geströmt war, versiegte.
Yona wusste es augenblicklich, es war, als würde ein Ton verstummen, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie ihn hören konnte.
Sofort passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Das Beben des alten Gemäuers setzte wieder ein. Farén stieß ein schrilles Wiehern aus, Yona glaubte, etwas splittern zu hören, und das Pferd stürzte. Ebenso wie sein Besitzer.
Acarion sank nach vorne. Sie sprang instinktiv dazu, um ihn vor Verletzungen zu bewahren, stattdessen stürzten sie zusammen zu Boden.
Schmerz zuckte bei dem Aufprall auf den harten Holzboden durch Yonas Ellenbogen und ihre Hüfte, aber diese Verletzungen waren zweitrangig. Anders sah es aus, wenn der Turm nun doch noch über ihnen zusammenbrach.
Sie spuckte Haare aus und sprang wieder auf die Füße, bereit, Acarion, der sich nicht rührte, im schlimmsten Fall hinauszuschleifen. Doch von einigen vereinzelten Steinen, die sich knirschend aus der Wand lösten und auf das hereingedrückte Erdreich fielen, geschah nichts mehr. Das Dröhnen der Naturgewalt verebbte langsam.
Dafür klangen nun Faréns schrille Schmerzensschreie umso lauter in Yonas Ohren. Was war mit dem Pferd geschehen? Hatte Acarion es nicht geheilt?
Unmengen an nicht zu beantwortenden Fragen schossen durch Yonas Kopf. Beklommen beugte sie sich zu Acarion hinunter und stellte fest, dass er atmete. Sie erlaubte sich, erleichtert aufzuatmen. Für den Moment gab es nichts, was sie für ihn tun konnte. Anders sah das möglicherweise bei Farén aus. Yona stand auf und ging zu dem Pferd hinüber. Sie bekam bereits Kopfschmerzen von den schrillen Schreien des Tieres.
Das Bein des Pferdes schien genauso schlimm gebrochen wie zu dem Zeitpunkt seines Sturzes. Yona versuchte erfolglos, Farén mit sanften Worten zu besänftigen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Acarion aufwachen und dem Pferd helfen können würde. Ihr Herzschlag beruhigte sich nach und nach.
Allerdings nur so lange, bis sich im hinteren Teil des Raumes eine Falltür öffnete, die sie bisher nicht bemerkt hatte. Mit einem Aufschrei sprang Yona zurück und zog in der gleichen Bewegung die Ruhka aus der Halterung an ihrer Korba. Gleichzeitig schloss sich ihre andere Hand um Kaedras' Dolch.
Durch die schmale Öffnung schob sich der magerste Mann, den Yona in ihrem Leben gesehen hatte. Wären da nicht die in einem seltsamen Licht glimmenden Augen in den eingefallenen Höhlen gewesen, sie hätte beinahe geglaubt, ein wandelndes Skelett vor sich zu haben.
Der Alte hielt ein Wurfmesser in der Hand.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro