Prolog
König Kalerion war tot.
Der Gestank nach Blut fraß sich in General Thorians Geist. Ein unsichtbares Gewicht schien sich auf seine Schultern zu senken, als er auf den zerfetzten Leichnam starrte. Atme.
Blut malte eine Karte der Gewalt auf den polierten Steinboden. Blut bedeckte die edlen Möbel und war auf den vom Tisch gefallenen Stadtplan Tavagars gespritzt. Die Wachen, die für König Kalerions Sicherheit hatten sorgen sollen, waren kaum noch als menschliche Wesen zu erkennen, so sehr hatte der magische Angriff unter ihnen gewütet.
Thorian spürte die Blicke der anderen in seinem Rücken. Rilen, in namérischem Grün. Morvan, der Befehlshaber aus Lavókan, der zur Abwechslung einmal den Mund hielt. Die drei Generäle hatten zu dem tavagarischen König gehen und die glorreiche Nachricht des Sieges überbringen wollen – die Verox besiegt, noch die letzte der elenden Kreaturen aus Tavagariens Hauptstadt geflohen – die tavagarische Kronprinzessin siegreich am Osttor –
Sie hatten sich geirrt.
Es war noch nicht vorbei. Der Krieg streckte noch immer die blutigen Finger nach ihnen aus.
Langsam kehrte das Gefühl zurück in Thorians Glieder, gepaart mit dem wachsenden Grauen über den Fehler, den er begangen hatte. Reiß dich zusammen. Trauere später.
Er drehte sich um und sah in die Gesichter seiner Verbündeten. Rilen wirkte zutiefst betroffen. Morvans blutverkrustete Züge waren zu einer unbewegten Maske erstarrt.
„Wir werden –", begann Thorian, doch in diesem Moment erbebte die Festung.
Nur mit Mühe konnten sich die Generäle auf den Füßen halten, gusseiserne Feuerschalen lösten sich aus ihren Halterungen, Buntglasfenster zerbarsten und Risse zogen sich durch den Marmorboden. Ein dumpfes Dröhnen, das sich aus den tiefsten Abgründen der Erde zu ihnen zu übertragen schien, durchdrang die Korridore Me'lions. Es folgte das Geräusch berstenden Steins.
Das Beben verebbte und die Generäle tauschten einen Blick aus. Aus Thorians Ahnung wurde Gewissheit und das Gefühl des Grauens in ihm bäumte sich auf. Schreie, anfangs noch leise, dann immer lauter, hallten durch die Korridore.
Die Verox drangen in die Festung Me'lion ein.
„Es kommt von Osten!", stieß Rilen hervor.
Thorian fragte nicht weiter nach. Beim Gehör konnte man sich auf Namérier verlassen.
Er erlaubte es sich nicht, darüber nachzudenken, was es für Kronprinzessin Kolina bedeuten mochte, falls ihre Feinde an der westlichen Front durchgebrochen waren.
„Mir nach!", bellte er. Die Tür, hinter der Kalerions Leichnam lag, schloss er mit einer bestimmten Bewegung. Falls Me'lion später noch stand, würde ihm die letzte Ehre erwiesen werden. Doch dafür musste das Königreich überleben.
Thorians Füße setzten sich von allein in Bewegung, seine Hand schloss sich fester um den Schwertgriff. Sie mussten den östlichen Wehrgang erreichen, bevor die Verox die Festung betraten, bevor alle Verteidigung, die Tavagarien noch aufbieten konnte, gefallen war.
Prachtvolle Wandteppiche zogen als Schlieren an Thorian vorbei, den polierten und mit Edelsteinen verzierten Steinreliefs hatte er nie weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Wut flammte in ihm auf, füllte das Loch, das der Anblick von König Kalerions Leichnam in ihn gerissen hatte, und trieb ihn an. Hass gegen die Verox wallte in ihm auf.
Ein Soldat taumelte ihnen entgegen, die Rüstung und die Haut blutverschmiert, die Augen weit aufgerissen. „Verox ... am Wehrgang ..."
Thorian nahm kaum wahr, wie er dem Soldat den Befehl gab, Verstärkung zu organisieren. Seine Gedanken waren auf die bevorstehende Aufgabe ausgerichtet, sein Atem ruhig und kontrolliert. Ich werde euch dafür bezahlen lassen, ihr Bastarde.
Eine letzte Treppe hinauf. Die Tür zum westlichen Wehrgang kam in sein Blickfeld. Thorian nahm sich nicht die Zeit, zu verlangsamen, ehe er durch die hölzerne Tür brach. Ein kalter Windstoß fuhr ihm entgegen.
Einen Augenblick später war es dem alternden General, als wäre er in einen seiner Albträume gestolpert.
Verox überwanden die Brüstung wie Insekten, die einen Kadaver eroberten. Auf dem Wehrgang wimmelte bereits von ihnen. Verzerrt wirkende menschliche Proportionen, rote Augen, Haut, die in den verschiedenen Graden der Veränderung von Schuppen überzogen war.
Zahllose der Kreaturen hingen noch an der Mauer, die Klauen in den hellen Stein geschlagen. Und unter ihnen ... unter ihnen klaffte ein gewaltiger Riss in Tavagars Boden, als hätte die Erde selbst sich aufgetan, die Stadt zu verschlingen.
Thorian ignorierte den animalischen Instinkt, umzukehren und zu fliehen. Me'lions Wehrgang verlief in einem Halbkreis um die Festung herum und wurde von fünf schlanken Türmen gekrönt, die wie stolze Wächter in die Luft ragten. Doch diese Wächter hatten versagt, ihr Schutz war zusammengebrochen. Es lag nun an den Menschen, ihn der Festung zurückzugeben.
Der alternde General hob das Schwert und erlaubte es seiner Wut und seiner Trauer, in einem Kriegsschrei nach außen zu dringen. Er stürmte nach vorne, Rilen und Morvan unbeirrt an seiner Seite.
Bevor die Kreaturen sich in dem Chaos auf dem Wehrgang orientieren konnten, fanden sie sich in einem verzweifelten Angriff wieder. Thorians Schwert bohrte sich in den Rücken des ersten Gegners, er sah aus dem Augenwinkel, dass Rilen gleich zwei Verox zurück über die Brüstung schickte.
Einige der Verox, bei denen man die menschlichen Gesichtszüge unter den schwarzen Schuppen noch erahnen konnte, kämpften mit gewöhnlichen Waffen, doch bei vielen liefen die Hände in Krallen aus, die an Schärfe einem Schwert in nichts nachstanden.
Mit einem grollenden Knurren sprang eine der Kreaturen auf Thorian los, die roten Augen auf ihn gerichtet. Der General hob die Klinge, so, wie er es sich seit Jahren antrainiert hatte. Im Kampf gegen Verox gab es nur eine unumstößliche Regel: Lass sie dich unter keinen Umständen berühren. Eine Rüstung konnte in mehr als einer Hinsicht nützlich sein.
Der Aufprall des Monsters ließ Thorian einen Schritt zurückweichen. Die Kreatur warf sich gegen ihn und versuchte seine Verteidigung zu durchbrechen. Sein erster Schlag traf den Unterarm des Verox', hellrotes Blut spritzte. Als Ausgleich fuhren die Krallen über Thorians Schulter, fügten aber nur seiner Rüstung einen Kratzer zu.
Neben ihm stürzte ein Verox mit aufgeschlitzter Kehle zu Boden, die krallenlosen Hände hilflos an den Hals gehoben. Morvan stieß ein triumphierendes Brüllen aus.
Der altbekannte Rausch des Kampfes flutete durch Thorians Adern, gab ihm die Kraft, durchzuhalten. Als der Verox vor ihm zu einem Hechtsprung ansetzte, täuschte er an, wieder nur zu blocken, stieß die Klinge aber nach vorne und in das Herz der Kreatur. Mit einem beinahe menschlichen Schrei stürzte der Verox.
Angewidert riss Thorian das Schwert aus der Brust seines Gegners und wandte sich dem nächsten zu, ein Exemplar, an dem nichts Menschliches mehr war. Der General nahm Haltung an. Er würde sie nicht siegen lassen. Me'lion würde nicht fallen.
Die Kreatur stieß einen schrillen Schrei aus und hechtete nach vorne. In diesem Moment schoss ein gleißend helles Lichtbündel heran, fuhr durch den Hals des Monsters und hinterließ ein faustgroßes, blutiges Loch. Der Verox ließ ein jämmerliches Röcheln hören und sackte nach vorne.
Irritiert blickte Thorian auf und erkannte, was ihm bei seiner Ankunft auf dem Wehrgang entgangen war: Er, Morvan und Rilen waren nicht die ersten gewesen.
In der Mitte des Wehrgangs, zwischen Thorian und dem nächsten Turm, kämpften Rücken an Rücken zwei junge Männer. Einer von ihnen, breitschultrig und mit militärisch kurz geschnittenen blonden Haaren, führte ein langes zweischneidiges Schwert in den Händen, mit dem er sich die Verox mit beneidenswerter Leichtigkeit vom Leib hielt.
Als Thorian ihn erblickte, trennte er gerade den Kopf eines Monsters von seinem Körper, um sich in der gleichen Bewegung zu drehen und das Schwert in die Brust des nächsten Verox zu stoßen. Die prachtvolle Rüstung in tavagarischem Dunkelblau schien er dabei kaum zu benötigen. Prinz Raverion, der jüngste Sohn des Königs, hätte irgendwo in Me'lions Tiefen außer Gefahr sein sollen.
Nicht, dass es seinem Vater viel genutzt hätte, schoss es Thorian durch den Kopf. Und schließlich hatte Raverion überaus fähige Unterstützung.
Acarion strahlte weniger Kraft, aber dafür eine raubtierhafte Eleganz aus. Die dunklen Haare halblang und die scharf geschnittenen Gesichtszüge gnadenlos hatte er auf das tavagarische Blau verzichtet und trug stattdessen nur einen simplen schwarzen Gambeson. Sein schlankes Schwert gebrauchte Acarion kaum, dennoch konnte keiner der Verox zu ihm durchdringen. Es war, als umgebe ihn und Raverion eine unsichtbare Mauer, die sich immer nur dann auflöste, wenn der Königssohn den nächsten Verox mit seinem Schwert durchbohrte.
Gerade, als Thorian zu ihm hinüberblickte, bildete sich vor Acarion ein weiteres Energiebündel, das durch die Luft zischte und den nächsten Verox tötete. Der junge Mann bemerkte Thorians Blick, hob kurz die Augenbrauen und wandte dann seine Konzentration wieder seinen Gegnern zu und auch der General musste einen erneuten Angriff abwehren. Ich wünschte nur, alle von Akkrons Absolventen wären so talentiert wie Acarion. Dann hätten wir diesen Krieg vielleicht schneller gewonnen. Dann wäre unser König noch am Leben.
Doch immer mehr Verox eroberten den Wehrgang, Kreatur um Kreatur zog sich über die Mauer. Es war ein nicht abreißender Strom und bald spürte Thorian seinen Arm schwer werden. Dann zerriss ein Schrei die Luft, abrupt abgeschnitten von einem gurgelnden Geräusch und plötzlich war Thorians rechte Seite ungedeckt. Aus dem Augenwinkel sah der General, dass ein Schleier aus grünem Stoff über die Brüstung taumelte und verschwand.
Rilen war gefallen. Sie waren nur noch zu viert. Wo blieb die Verstärkung?
Die Verox drangen nun von zwei Seiten auf ihn ein, Thorian musste seine gesamtes Können mit dem Schwert anwenden und jeden Moment erwartete er, dass sich scharfe Krallen durch seine Rüstung bohren würden.
In diesem Moment erbebte der Turm vor ihm, hinter Acarion und Raverion. Morvan keuchte auf.
Die Verox wichen zurück. Kletterten wieder über die Brüstung.
Die Mauern des Turmes barsten nach außen, Gesteinsbrocken wurden durch die Luft geschleudert. Thorian duckte sich an die Wehrmauer, die Arme über dem Kopf. Er hörte Stein auf Fleisch treffen, hörte, wie einige Verox jaulend die Mauer wieder hinunterstürzten. Doch die schlimmsten Einschläge blieben aus. Hinter ihm fluchte der lavókanische General.
Thorian blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Acarion sich in der Mitte des Wehrgangs erhob, inmitten der schwarzen Masse der Verox, die Arme ausgestreckt, als wollte er ganz alleine die Gesteinsbrocken aufhalten, die drohten, ihn und die anderen Verteidiger zu zermalmen. Und tatsächlich hielten die Trümmerstücke an, blieben wie versteinerte Sturmwolken in der Luft schweben, ohne Schaden zuzufügen.
Und dann setzten sie sich wieder in Bewegung, riesige Geschosse, die erstaunlich zielsicher auf die Verox hinunterstürzten und sie unter sich zermalmten. Ein steinerner Wirbelsturm bildete sich um Acarion. Kreischend und schreiend versuchten die Verox, den tödlichen Trümmerteilen auszuweichen.
Selbst auf die Entfernung konnte Thorian die Konzentration auf Acarions Gesicht sehen, die mentale Kraftanstrengung, die ihn das dramatische Manöver kostete.
In diesem Moment, als scheinbar alle Aufmerksamkeit auf den jungen Magier gerichtet war, ertönte ein grauenhaftes Röcheln hinter Thorian. Er riss den Blick von Acarion los und wandte sich um. Einer der Verox hatte Morvan am Hals gepackt. Er reagierte nicht, als einer der Steine in die Brüstung neben ihm einschlug und sie einriss. Seine Krallen bohrten sich tief in die Kehle des lavókanischen Generals. Doch noch lebte Morvan, auch wenn das Röcheln aus seiner Kehle beständig schwächer wurde.
Aus dem Augenwinkel sah Thorian eine Bewegung hinter sich. Keiner der Verox. Raverion. Der Prinz war ungeachtet der herumfliegenden Steine aufgestanden und hatte nach seinem Schwert gegriffen. „Nicht, Eure Hoheit!", rief Thorian, doch seine Warnung kam zu spät.
Etwas geschah. Die Luft um Morvan schlug Wellen. Der lavókanische General erschlaffte, während gleichzeitig ein Zittern durch den Verox lief. Einen Herzschlag später schleuderte die Kreatur den Leichnam in einer beiläufigen Bewegung über die Brüstung und fuhr herum, die Augen nun irislos und pechschwarz. Raverion war ihm viel zu nahe gekommen, um noch ausweichen zu können.
Thorian wusste, was geschehen würde, noch bevor sich ein groteskes Grinsen auf dem Gesicht des Verox ausbreitete. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als Thorian aufsprang und in den Weg des Prinzen hechtete. Es kam ihm zugute, dass die Kreatur den Augenblick des Sieges auskostete. Er stieß Raverion in genau dem Moment zur Seite, als der Verox den Kopf in den Nacken warf und mit einem lauten Schrei das Gestohlene wieder freisetzte.
Eine Welle an furchtbarer, zerstörerischer, zerfetzender Energie fuhr durch die Luft, gleich eines Schwarms unsichtbarer Messer. Sie traf ungebremst Thorians Seite und fuhr mühelos durch seine Rüstung und in das Fleisch darunter.
Der General spürte, wie seine Knochen brachen, wie Gewebe, Nerven und Muskeln zerfetzt wurden. Mit dem Klirren von Metall auf Stein trafen Raverion und Thorian auf dem Boden auf.
Die Zeit lief wieder mit normaler Geschwindigkeit.
Sengender, alles verzehrender Schmerz schoss durch Thorians rechte Seite, er sah Blut spritzen, nahm wahr, dass Raverion seinen Namen rief. Dummer Junge, kümmere dich nicht um mich.
Der metallische Geruch von Blut drang Thorian in die Nase. War es sein eigenes? Er versuchte, mit der rechten Hand nach seiner Seite zu tasten. Doch diese Hand fehlte.
Er blickte in den sturmverhangenen Himmel über Tavagar. Die Trümmer des Turms sind verschwunden. Etwas musste mit Acarion geschehen sein.
Es war niemand mehr übrig, der die Verox aufhalten würde.
Tiefe Trauer durchflutete Thorian, das Bild von König Kalerion in der Blutlache tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf. Sein König war gefallen, die Verox hatten das Königreich Tavagarien letzten Endes doch noch gestürzt. Vielleicht war es besser, wenn es so endete.
Hände griffen nach Thorian. Der Tod streckte seine knorrigen Finger nach ihm aus. Wärme durchflutete den alternden General und für einen Moment wichen seine Schmerzen zurück.
Dann schloss er die Augen.
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