NEFFEX
Die Sonne stand zu Mittag an ihrem höchsten Punkt und schien erbarmungslos auf die Insel herab wie jeden Tag des Jahres, weshalb sie den Namen Sonneninsel trug. Trotz eines kühlen Windes, den das weite Meer Myjava mit sich brachte, vermischte sich der salzige Duft des Meeres mit dem Schweißgeruch der Menschen. An einem langen weißen Sandstrand standen, schützend unter dem Schatten vieler hoher Palmen, einige Menschen in Reihen hintereinander und übten verschiedene Bewegungen.
Ein großer, nach Maori-Tradition tätowierter und mit Muskeln bepackter Mann lief durch die Reihen und strich sich mit seinem Arm den Schweiß von seiner Glatze. Er betrachtete jede Person sehr genau und achtete auf die Bewegungsabläufe, die seine Schüler machten. Nicht nur junge Männer, die in der anderen Welt lebten, waren auf seine Insel gekommen, um von ihm die Kunst des Kampfes zu lernen, auch ein paar ältere Damen, die sonst in den Bergen lebten und sich um Strom und Wasserversorgung der anderen Welt kümmerten, waren seit einigen Tagen unter seinen Schülern, um von ihm Tipps und Tricks zur Selbstverteidigung zu erlernen. Während er die Reihen wieder nach vorne schritt, prallten immer wieder Sandkörner auf seinen nackten Oberkörper, welche durch das Springen der Schüler neben ihm aufgewirbelt wurden. Ganz vorne angekommen stellte er sich vor die älteren Damen, hielt ihre Hände fest oder täuschte einen Würgeversuch von hinten an, um sich ihrer Fortschritte zu vergewissern. Tatsächlich waren sie in den wenigen Tagen schon so gut geworden, dass sie die Bewegungsabläufe trotz ihres hohen Alters so verinnerlicht hatten, sodass es nur wenige Momente dauerte, bis sie sich aus seinen Fängen befreien konnten. Nachdem sein Kontrollgang abgeschlossen war, stellte er er sich freudig vor die Gruppe, bedankte sich für ihre Zeit und die gute Mitarbeit und wünschte allen noch einen schönen Tag auf der Insel, die für viele wie ein paar Tage Urlaub für sich und ihre Tiere waren.
Neffex war nicht nur stolz darauf, Menschen etwas wichtiges für ihr Leben beibringen zu können, sondern auch darauf, Herr über die Sonneninsel sein zu dürfen. Für ihn war sie nun der schönste Fleck auf Erden und er hatte sich an das abgeschottete Leben hier gewöhnt, obwohl er damals wutentbrannt gewesen war, als Myriam ihn hierher verbannt hatte, weit weg von ihr und den anderen Bewohnern, denn die Insel lag fast zwei Stunden vom Festland der anderen Welt entfernt. Seitdem hatte er sie nicht mehr verlassen, nicht nur, weil er sich mit Myriam und vielen anderen zerstritten hatte, sondern auch, weil er hier seinen Frieden gefunden hatte und eigene Pläne schmieden konnte. Trotzdem konnte er den Tag nicht erwarten, an dem er endlich wieder in ein Boot steigen durfte.
Wie jedes Mal nach einer Trainingseinheit wartete sein Tiger im Schatten einer Palme. Neffex ging zu ihm und kraulte ihm das weiche Fell, woraufhin sich das Tier genüsslich auf den Rücken rollte um ihm den Bedarf nach mehr Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten zu signalisieren. Dem ging Neffex aber nicht nach Er entfernte sich ein Stück von dem Tiger und zeigte ihm mit einem Klopfen auf die Oberschenkel, dass er ihm folgen sollte. Schwungvoll drehte sich das Tier wieder auf den Bauch, erhob sich und sprang mit seinen großen Tatzen an den Arm des Halbgotts und bohrte seine Krallen in dessen Haut, um ihn zum Spiel aufzufordern. Neffex lachte, schüttelte die Raubkatze halbherzig ab und ging weiter.
Während er die sandigen Dünen nach oben stieg, sah er seinen Bruder, der an dem nicht weit entfernten kleinen Hafen ein hölzernes Segelboot belud und beschloss, zu ihm zu gehen. Seinem Tiger signalisierte er, hier auf ihn zu warten. Wie auch Neffex war sein Bruder ein Sohn des maorischen Gottes des Krieges Tuematauenga und einer sterblichen Maori-Frau, was die beiden zu Halbgöttern machte. Neffex prahlte gerne damit, doch sein junger Bruder war bescheidener und behielt seine Herkunft gerne für sich, auch aus dem Grund, um in der Schule für Tiermenschen, die er besuchte, kein Aufsehen zu erregen.
„Na Kleiner, wo geht es hin? Musst du dich nicht erst morgen früh wieder auf den Weg zur Schule machen?", fragte er seinen Bruder und klopfte ihm auf die Schulter, auf der ein kleiner Affe saß. Neffex gab dem kleinen Tier einen Finger als lustiges Begrüßungsritual und half dann seinem Bruder beim Beladen des Bootes. „Ja, aber ich wollte heute Abend noch in einer Bar von Veronica aushelfen und kann dann dort schlafen. Dann ist mein Weg bis zur Schule am Morgen nicht mehr ganz so weit." Neffex seufzte, aber blieb still und blickte betrübt gen Festland, denn ihm fiel es schwer, seinen Bruder nur am Wochenende bei sich zu haben, doch der Weg zwischen Schule in der normalen Welt und Sonneninsel war zu weit. „Lara möchte mit mir zusammenziehen, da wir ja jetzt schon so lange ein Paar sind, aber irgendwie bin ich nicht wirklich bereit, meine kleine Wohnung in der Stadt mit ihr zu teilen. Und Umziehen, so kurz vor unserem Abschluss, macht für mich auch wenig Sinn." Neffex bemerkte den trüben Blick des Jungen und erahnte, dass ihn noch etwas anderes bedrückte. „Komm, rück raus mit der Sprache. Was ist das eigentliche Problem?" Die Beziehung seines Bruders zu Lara hatte ihm nie gefallen, denn trotz ihrer sterblichen Mutter, hatte Neffex mit Beziehungen zu Menschen abgeschlossen und erachtete sie nicht mehr als erstrebenswert und würdig für einen Halbgott. Such dir lieber eine Göttin zum Heiraten, denn so wirst du an Macht und Ansehen kommen, hatte sein Vater ihn nach seiner ersten und einzigen Beziehung mit einem Menschen gelehrt.
„Ach, mit Lara das läuft nicht mehr so gut. Ich meine, sie und Kaitlynn sind meine besten Freunde und ich habe Angst, dass unsere coole Clique zerfällt, wenn ich mich von ihr trenne." Er setzte sich auf den Steg, hängte seine Füße ins warme Meer und plantschte etwas im Wasser. Sein Äffchen krabbelte schnell auf seinen Schoß und versuchte ein paar Streicheleinheiten zu ergattern, was ihm auch gelang, und so kraulte der Bruder gedankenversunken das Fell des kleinen Tieres. Schon wieder so ein typisches Teenager-Menschen-Drama. Neffex seufzte, ließ sich aber dann auch auf dem Boden neben seinem Bruder nieder. „Natürlich wird eure Freundschaft zerbrechen. Sie will mit dir zusammenziehen und du dich trennen, sie wird am Boden zerstört sein. Was hast du denn erwartet?" Der Junge sah Neffex mit großen Augen an, denn mit diesen Worten hatte er nicht gerechnet, obwohl sein großer Bruder noch nie ein Mann tröstender Worte gewesen war. „Aber, und das ist noch viel wichtiger, du bist dann ehrlich zu ihr. Und das ist es, worauf es immer und zwar in jeder Lebenslage ankommt, sowohl in einer Beziehung, als auch in einer Freundschaft." Sein Bruder nickte und dachte über die Worte nach, während er schweigend aufs Wasser sah. „Oder du behältst sie, täuschst ihr noch einige Zeit etwas vor und wartest, bis sich etwas Besseres ergibt. Eine schöne Göttin vielleicht. Dann werden unsere beiden Leben einfacher. Ich selbst hoffe ja immer noch darauf, einmal die dritte My-Schwester zu heiraten. Mit ihr hätte ich genug Macht, um die andere Welt mit ihrer Hilfe zu regieren. Und Myriam ist dann endlich für immer auf dem Olymp und lässt mich hier auf der Erde in Ruhe. Oder ich zwinge sie dazu, sich ihre eigene Insel zu erschaffen, auf die ich sie dann bis ans Ende aller Tage verbannen kann." Er blickte voller Hoffnung zum Himmel, denn er glaubte fest daran, dass sein Vater ihn oben auf dem Olymp hören konnte und ihm half, seine Träume und Wünsche Realität werden zu lassen.
„Naja, die prophezeite dritte Schwester wird ja dann die Herrscherin der anderen Welt und du nur der Mann an ihrer Seite, der ihr hilft." Die Worte rissen Neffex wieder aus seinen Tagträumen, während sein Bruder ihn mit seinem fragenden Blick durchlöcherte. „Und ich wüsste zu gern, was sich damals zwischen Myriam und dir zugetragen hat. Wie können sich zwei Personen so sehr hassen, dass sie einander verbannen, beziehungsweise verbannen wollen?" Neffex schwieg und genoss den Wind, denn er bildete sich ein, dass Gerüche des Festlandes zu ihm getragen wurden und er seine Freiheit riechen konnte. Er nahm einen tiefen Atemzug und schloss dabei friedlich die Augen. „Das Vergangene muss ruhen und schlafende Dämonen sollten nicht geweckt werden." Mit diesen Worten stand er ruckartig auf und erschreckte dabei den Affen, welcher ins Wasser zu fallen drohte. Sein Bruder reagierte zum Glück schnell genug um ihn noch zu schnappen und setzte ihn wieder auf seine Schulter. „Wie lautet deine Entscheidung bezüglich Lara, mein Bruder? Das ist eine gute Übung für dich, denn du musst lernen, dich schneller zu entscheiden." Auch sein Bruder stand nun auf, allerdings etwas unbeholfener und weniger elegant als Neffex. „Ich behalte Lara noch bis zum Abschluss an meiner Seite, oder bis sich etwas Besseres ergibt." Ein verschmitztes Grinsen glitt über seine Lippen, welches Neffex ansteckte, denn die beiden Brüder freuten sich mal wieder, bei ihren Gedanken und Plänen auf einer Wellenlänge zu sein. „Vielleicht finde ich die dritte Schwester ja vor euch allen, dann heirate ich sie. Oder ich habe irgendwann die Gelegenheit, Mynja näher kennenzulernen. Momentan gibt es ja nur drei Göttinnen auf der Erde und die temperamentvolle Myriam fällt auf jeden Fall auch aus meinem Beuteschema heraus." Neffex fing laut an zu lachen. „Die kleine Mynja ist zwölf Jahre alt und du bist schon 20. Denkst du nicht, dass das ein bisschen arg pädophil ist?" Er konnte sich vor Lachen kaum noch halten, was seinen Bruder sichtlich verletzte. Er ballte seine Hände zu Fäusten und stampfte mit einem Fuß in den Boden, wie ein kleines Kind, dessen Eltern im gerade etwas verweigert hatten. „Das Alter spielt doch keine Rolle, wenn die Liebe echt ist. Außerdem ist sie für ihr Alter schon sehr reif." Er stapfte wütend davon, während Neffex' schallendes Gelächter immer lauter wurde.
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