MYRIAM
Ein bodenlanges Kleid, die Ärmel weit und der Hals von einem Stehkragen bedeckt, dafür hatte Myriam sich entschieden. In den zusammengebundenen Haaren steckte eine Krone, die sie vor vielen Jahren von einem bereits verstorbenen Präsidenten bekommen hatte. Er wollte uns helfen und hat, wie ich, alles dafür gegeben, die Menschheit ein My besser zu machen. Ihre Finger glitten über das Gold in ihren Haaren. Es passte perfekt zu ihrem dunklen Teint. Die Hand glitt am weichen Stoff des Kleides entlang, als ein kleiner Faden sich löste. Einer ihrer Fingernägel hatte wohl einen Riss, obwohl sie beim genauen Betrachten ihrer Hand nichts finden konnte. Vorsichtig drehte sie den Stoff ihres Kleides etwas, um den losen Faden zu kaschieren. Auf dem Schreibtisch vor ihr waren Briefe ausgebreitet, Bitten und Sorgen der Menschen, denn viele von ihnen trauten sich nicht, einen kompletten Neuanfang in der anderen Welt zu wagen. Aus dem Regal holte sie noch hastig drei große Bücher und drapierte sie ganz zufällig auf dem Tisch. Dann ließ sie sich auf dem Stuhl nieder und schaute sich im Raum um. Wandregale, die bis an die hohen Decken reichten, gefüllt mit jedem Buch, das die Menschheit jemals als wichtig erachtet hatte. Myriam war selten in diesem Raum. Dennoch war er der perfekte Ort, um den neuen Präsidenten zu empfangen und ihr Schauspiel zu betreiben. Hier sah sie aus wie eine vielbeschäftigte Frau, genau das, was er sich unter einer Göttin vorstellte, perfekt in jeglicher Hinsicht. Um sich mit ihm gutzustellen, handelte sie mit allen Tricks. Ihr Blick schweifte über eine Sesselgruppe am Fenster. Das Licht fiel dort so perfekt in den Raum, dass sie sich gut vorstellen konnte, wieso das Mynjas Lieblingsplatz zum Lesen war. Ein Bücherhaufen neben den Sesseln verriet, welche Bücher ihre Schwester zuletzt gelesen hatte. Elon Musk, las sie, wer das wohl ist? In Gedanken versunken hatte sie das Klopfen an der schweren Holztür nicht bemerkt.
Myriam sprang vor Schreck auf ihren Stuhl, als die Tür mit einem lauten Knall aufsprang. Ein verschmitztes Lächeln wurde ihr von dem Bodyguard entgegengebracht. Sein Körper war einfach riesig und durch seinen Anzug konnte man seine großen Muskeln sehen. Die Göttin war immer wieder erstaunt, wie groß Menschen werden konnten. Er richtete seinen Anzug und seine Krawatte, zwinkerte Myriam zu und setzte sich auf den Sessel, den sie vor wenigen Momenten noch betrachtet hatte. Hinter ihm schritt der Präsident herein. Myriam schätze ihn auf etwa 35 Jahre, also kaum älter als der Körper, den sie selbst besaß. Bisher hatte sie ihn erst auf einer Handvoll Treffen gesehen und er sah immer perfekt und elegant aus. Sein Bart hatte klare Linien, er hatte volles schwarzes Haar, welches kurz geschnitten war und ihm ausgezeichnet stand. Seine dunklen Augen ließen wohl viele Frauen dahinschmelzen, so hatte sie es jedenfalls gehört, und dass er immer im Anzug mit passenden italienischen Schuhen abgelichtet wurde, würde ihn wohl irgendwann zum Sexiest Man Alive machen, so erinnerte sie sich an Evis Worte, die in seiner Nähe sicherlich kein Wort herausbringen würde.
„Neuer Standpunkt?", fragte der Präsident und streckte seine Hand zu Myriam aus, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie nach wie vor auf ihrem Stuhl stand. „Neuer Blickwinkel", antwortete sie ihm und nahm seine Hand, um mit seiner Hilfe elegant auf den Boden zurückzugelangen. Anschließend bat sie ihn mit einer Handbewegung, sich zu setzen. „Herr Falk, was kann ich für Sie tun? Sie sind zum ersten Mal hier in der anderen Welt, und dann auch noch unangekündigt. Ich bin wirklich gespannt wie ich Ihnen helfen kann." Myriam lehnte sich zurück und bemerkte ihre schwitzigen Hände, woraufhin sie diese auf ihr Knie legte. Der Präsident öffnete einen Knopf seines Jacketts und lehnte sich entspannt im Stuhl zurück. Mit der einen Hand holte er einen Stapel Bilder aus seiner Arbeitstasche, die neben seinem Stuhl stand, lehnte sich dann nach vorne und schob mit seiner anderen Hand alles von Myriams Schreibtisch in eine Ecke, ohne all die Briefe auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Göttin verzog keine Miene und lenkte ihren Blick auf die Fotos vor ihr. Es waren Männer, die allesamt ganz unterschiedlich aussahen. Ein paar waren klein, manche dick, andere ohne Haare, aber sie konnte bei einem ersten schnellen Blick keine Gemeinsamkeiten der fünfzehn Männer entdecken, außer, dass die Bilder durch eine Überwachungskamera vor dem Portal, das die beiden Welten verband, entstanden waren, alle auf der Seite der normalen Welt. Der Bodyguard stand vom Sessel am Fenster auf, stellte sich breitbeinig mit einem angemessenen Abstand hinter den Stuhl des Präsidenten und verschränkte seine muskulösen Arme. Myriam wandte ihr Gesicht von den Fotos ab und schaute dem Bodyguard in seine eisblauen Augen. Ihr wurde direkt kalt. „Sagen Sie, wie heißt Ihr Berg von einem Bodyguard eigentlich?", fragte sie den Präsidenten, ohne den Blick von dem großen Mann abzuwenden. „Björn Gonosz ist sein Name. Schön, dass Sie bei unserem vierten Treffen endlich danach fragen, irgendwann wäre es sicherlich peinlich geworden. Aber keine Angst, sie werden ihn wiedersehen. Und zwar jedes Mal, wenn ich zugegen bin." Er drehte sich um und schaute lächelnd zu seinem Bodyguard. Björn erwiderte das Lächeln und blickte dann wieder zu Myriam, während er seine Augen zusammenkniff wie ein Tier, welches seine Beute vor dem Erlegen fixiert.
„Nun zum Wesentlichen." Herr Falk hatte sich wieder zu der Göttin gewandt und lehnte sich leicht nach vorne, während seine Miene versteifte. Innerhalb weniger Sekunden war seine Fröhlichkeit, mit der er Björn angesehen hatte, verflogen und er wurde ganz ernst, lächelte nicht mehr und sah nun sehr einschüchternd aus. „Diese Männer sind alle seit mehreren Tagen nicht mehr zu ihren Frauen, Müttern oder sonst wem nach Hause zurückgekehrt, nachdem sie die andere Welt durch das Portal betreten haben. Keiner von ihnen arbeitet in der anderen Welt, ich glaube sogar, dass es für sieben von ihnen das erste Mal war, dass sie überhaupt durch das Portal gegangen sind. Wieso sind sie nicht mehr zurückgekommen? Was zur Hölle ist mit ihnen passiert?" Myriam ließ ihre Hände noch einmal schnell über den Stoff des Kleides über ihren Beinen gleiten, um den Schweiß abzutrocknen und wollte gerade antworten, doch da unterbrach der Präsident ihren Ansatz auch schon, indem er zügig vom Stuhl aufstand, sein Jackett wieder zuknöpfte und ihr die Hand reichte. Sie stand schnell auf, nahm seine Hand und schüttelte sie. „Mir ist scheißegal, was die Männer in ihrer Freizeit machen oder ob sie jemals wieder bei ihren Weibern auftauchen, aber wenn sie in drei Tagen immer noch nicht auf ihrer Arbeit erschienen sind, dann mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich." Sein aggressiver Tonfall machte Myriam wütend. Ihre Nasenflügel blähten sich auf, die Hände ballten sich zu Fäusten, was man unter den langen, weiten Ärmeln ihres Kleides jedoch nicht sehen konnte und sie wollte ihm beim Herausgehen noch etwas hinterherrufen, kam aber wieder nicht zu Wort. Der Präsident blieb hinter der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu Myriam um. Seine linke Hand war in der Hosentasche, die rechte Körperseite war ihr zugewandt. Er sieht ein bisschen aus wie der Teufel. „Gönnen Sie sich eine Maniküre, das Aussehen Ihrer Fingernägel wäre ja selbst für eine Putzfrau peinlich. Und kümmern sie sich um ihre schwitzigen Hände. Sie hätten noch viel lernen müssen, bevor man sie auf Menschheit losließ." Mit diesen Worten verabschiedete sich der Präsident, sichtbar zufrieden über den perfekten Abgang. Sein Bodyguard lächelte Myriam erneut verschmitzt an und zog die Holztür zu. Diese schloss sich mit einem lauten Knall, sodass der Kronleuchter an der Decke zu klirrte.
Er ist der verdammte Teufel, wie kann dieses verfickte Arschloch es wagen! Myriam sprang wütend im Raum umher, biss die Zähne zusammen und schnaubte. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie mit ihm über das Flüchtlingsproblem reden wollte. Die Wut kochte nun gänzlich in ihr hoch und ihr Blick suchte nach etwas, das sie zerstören konnte, bis er auf der Enzyklopädie hängen blieb. Hastig nahm sie ein Buch aus der Reihe, schlug es auf und zerriss es mit ihren bloßen Händen in zwei Teile. Das Gewicht der Buchhälften lag schwer in ihren Händen und als sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte, legte sie beide wieder aufeinander und schob sie zurück an ihren Platz im Regal. Sie ging zum Schreibtisch zurück und nahm die Fotos in ihre Hand. Jedes einzelne betrachtete sie eine Weile, während sie zum Sessel am Fenster schritt. Langsam ließ sie sich nieder und genoss die weichen Polster, jedoch war es für sie unbequem auch noch den Kopf nach hinten anzulegen. So beugte sie sich wieder leicht nach vorne, legte die Fotos auf ihren Schoß und faltete die Hände zusammen.
Während sie ihre Augen schloss, nahm sie ein paar tiefe Atemzüge. Ihr Hirsch sollte nichts von ihrer Wut erfahren, denn er war sehr feinfühlig und es war schwierig, ihre Seelen zu verbinden, wenn sie gerade aggressiv gehandelt hatte. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie das Schloss vor sich aufragen. Myriams Mund füllte sich mit dem Geschmack von Karotten. Ich störe wohl gerade beim Essen, dachte sie, während der Hirsch seinen Kopf senkte und sie einen großen Haufen saftig orangefarbener Karotten vor sich sehen konnte. Ohne ihn abzulenken verschwand ihre Seele in seinen Erinnerungen, um herauszufinden, ob er bei seinen Streifzügen einen der Männer von den Fotos gesehen hatte. Die Gedanken des großen Tieres schweiften immer wieder zum Essen ab und so sah sie die leckeren Brotstücke, die er am Morgen an der Promenade von den Menschen bekommen hatte. Sie ließ ihren Blick durch die Menge schweifen und tatsächlich, vor einer Bar standen drei der Männer, die mit offenem Mund den Hirsch bestaunten. Na wenn das keine Spur ist.
Sie öffnete ihre Augen, stieß sich aus dem Sessel hoch und machte sich sofort auf den Weg. Die Fotos fielen ihr aus dem Schoß und segelten zu Boden, was sie jedoch in ihrer Eile nicht bemerkte. An der großen Holztür angekommen brauchte sie einige Kraft, um diese zu öffnen und musste unmittelbar an Björn denken, der diese Tür mit Leichtigkeit fast aus den Angeln gehoben hatte. Sie eilte die große Treppe herauf um das Kleid auszuziehen und in etwas bequemeres zu schlüpfen. Eine Hose mit Lederbesatz, damit sie sich beim Reiten nicht die Beine aufrieb und ein dünner Pulli sollten es werden. Beim Blick in den Spiegel fiel ihr auf, dass die Krone auf ihrem Kopf verrutscht war. Langsam nahm sie sie ab und legte sie behutsam in ihre Schatulle. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit, denn der alte Präsident wäre nie so mit ihr umgesprungen wie Herr Falk es heute getan hatte. Ihr Blick hob sich wieder bis sie ihre Augen im Spiegel sah. Sie schaute sich an und sagte motivierend zu sich selbst: „Ich bin Myriam, eine der My-Schwestern, Kind von Myjava und Zeus, geschickt von den Göttern, die Erbauerin der anderen Welt. Niemand ist klüger oder mit mehr Macht gesegnet als ich. Niemand kann über mich regieren." Sie schloss die Augen, atmete tief in ihren Brustkorb ein, und saugte so die Kraft ihrer Worte auf. Dann machte sie sich auf den Weg, um auf ihrem Hirsch zur Promenade zu reiten.
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