KARMA
Karma war schon vor ein paar Stunden früh morgens in der Schule eingetroffen, um noch einige Vorbereitungen zu treffen. Es war das erste Mal, dass die beiden Göttinnen seit Eröffnung der Schule wieder zu Besuch hier waren. Und es ist auch bitter nötig, dachte sie traurig darüber nach. Sie schob das Lehrerpult zum Fenster um Platz vor dem Whiteboard zu schaffen. Auf diesem liefen einige Bilder der anderen Welt als Diashow ab, denn die meisten ihrer Schüler waren zwar schon in der anderen Welt, aber noch nicht auf allen Inseln und Ecken. Eine leere Tafel an der Wand gegenüber der Fenster weckte ihr Interesse und brachte sie auf eine Idee. Schnell schaute sie auf die Uhr, welche ihr verriet, dass ihr noch eine halbe Stunde blieb, bis die Schule begann sich zu füllen und sie die My-Schwestern in Empfang nahm. Beim Blick auf die Stühle war sie sich sicher, dass sie an ihnen nichts mehr verändern musste: Alle standen in einem Halbkreis und so hatte jeder eine gute Sicht auf die Göttinnen, mit denen sie später eine kleine Fragerunde machen wollte. Sie selbst hatte auch ein paar Themen vorbereitet, über welches sie oder Myriam sprechen konnten, sollten sie Schüler nicht genügend Fragen vorbereitet haben. Kratzen der Kreide erfüllte den Raum, als Karma anfing eine Karte der anderen Welt auf die Tafel zu malen, beginnend mit dem Portal, dann inmitten des Meeres die Sonneninsel, wieder auf dem Festland malte sie ein kleines Schloss, dann fiel ihr noch die Insel von Perantara ein, dann glitt die Kreide wieder zurück zu Promenade um die Schiffe der Piraten einzuzeichnen. Am Ende hat sie eine große Karte mit den wichtigsten Punkten der anderen Welt, wie der riesige Wald, Felder für den Anbau von Lebensmitteln, die großen Wiesen der Obstbäume und das Gebirge. Ich sollte eine richtige Karte malen, die wir jedem der in die andere Welt kommt in die Hand geben können. Dann finden die Menschen auch mal die wirklich schönen Orte und sind nicht immer nur in einer Bar oder Restaurant am Pier. Beim Blick auf die Uhr wusste sie, dass es Zeit war die beiden Schwestern abzuholen.
Sie lief aus dem Klassenzimmer heraus den Flur entlang in einer schnellen Schrittgeschwindigkeit, ohne zu rennen, denn dann würden ihre Haare sich wieder zu sehr in ihrem Schmuck verheddern und ihr bodenlanges Kleid war leider nicht zum Rennen gedacht. Den silbern schimmernden Stoff hielt sie nun etwas hoch, um die Stufen besser herunterlaufen zu können. Auf der Treppe wurde sie von einigen Schülern mit einem Winken und Lächeln begrüßt. „Hallo Kaitlynn mein Schatz, wir sind wie immer oben in dem großen Klassenraum. Damian, kannst du dich bitte um die Technik kümmern, ich kenne mich da nur so halb aus. Und Lara, bitte hole noch ein paar Getränke und Gläser für und alle aus dem Speisesaal. Und Kaitlynn kannst du noch einmal über den Boden fegen? Ich habe die Kreide fallen lassen." Die drei mussten lachen, denn Karma war nicht stehen geblieben um ihnen ihre Aufgaben mitzuteilen, sondern sie lief weiter die Treppe herunter und ihre Stimme wurde immer lauter, je weiter sie sich von den jungen Erwachsenen entfernte, bis sie den letzten Satz fast schrie. Kaitlynn grinste ihre Freunde an und sie gingen ihren Aufgaben nach, welche Karma in ihrem Gedankenchaos vergessen hatte. Als Karma das große Eingangstor, welches weit offenstand, erreicht hatte, sah sie draußen vor der Schule schon eine große Scharr ihrer Schüler, welchen mit ihren Handys Fotos und Videos von Myriam auf ihrem Hirsch sitzend machten. Die Lehrerin ging weiter nach draußen und wurde sofort von der Göttin entdeckt, da sie auf dem Rücken ihres Tieres leicht über die Menge blicken konnte. Sie stieg ab während Karma sich einen Weg durch die Menge bahnte.
„Hallo Myriam, ich freue mich sehr dich und den Hirsch zu sehen. Du bist pünktlich auf die Minute wie immer." Die beiden umarmten sich und gingen ein Stück von dem Hirsch weg, denn er war der wahre Grund für die Aufregung der Schüler. Jeder von ihnen hatte zwar ein Tier, mit dem sie ihre Seelen teilen konnten, aber alle sahen von außen aus, wie normale Tiere, doch der Hirsch war durch seine riesige Gestalt eine Besonderheit und er sah für viele aus, wie ein Fabelwesen. „Wo ist dein hübsches Pferd, wenn du Unterrichtest, Karma?" Die beiden schauten noch einen Moment zu der Schülergruppe, bis sie sich umdrehten und Richtung Eingangstor liefen. „Ach, sie bleibt entweder zuhause, wenn ich mal wieder zu spät war und das Auto nehmen muss, oder aber sie kommt auf eine Koppel, die hinter den vielen Ställen für die Tiere der Schüler liegt." Karma deutete mit einer Handbewegung, dass sie sich auf eine Bank in der Sonne vor dem Gebäude setzten. „Wo ist deine Schwester, Myriam? Du scheinst nach außen sehr gefasst und höflich, aber ich merke doch, dass etwas nicht stimmt." Myriam seufzte. „Sie ist heute Morgen mit ihrer Eule weggeflogen. Keine Ahnung wohin. Aber es ist mir nun egal, denn ich brauche sie nicht. Ich habe keine Lust mehr Babysitter für ein 80-jährige zu spielen, die meint, für immer zwölf bleiben zu wollen." Die beiden schwiegen und schauten gen Himmel, doch sahen weit und breit keine Eule. Nach einem kurzen Moment in der Stille, denn die Schüler waren nun alle in das Gebäude gegangen, standen die beiden auf, um auch hineinzugehen.
Die Stille von draußen hielt nicht lange an, denn im Inneren der Schule fanden sie lachende und jubelnde Schüler vor, die wieder ihre Handys gezückt hatten. Karma schritt mit Myriam hinter sich durch die Menge und folgte dem Blick der Menschenansammlung nach oben. Dort in der Höhe hing Mynja an einem Kronleuchter, schaukelte hin und her und ließ so das Glas des Leuchters klirren. Ein Raunen ging durch die Menge, als das Mädchen am höchsten Punkt ihres Schaukelns ihre Hände löste, einen Salto machte und dann in die Tiefe fiel. Blitzschnell flog ihre Eule, die vorher wie eine Statue auf einem Geländer der oberen Stockwerke gesessen hatte, unter ihr hindurch und fing sie somit auf. Die Schüler fingen an zu jubeln, als Mynja von ihrer Eule wieder auf dem Boden abgesetzt wurde und sich lachend verbeugte. Ich kann nicht glauben, dass von meinen 200 Schülern, nicht die pubertierenden Jungen und Mädchen, sondern eine Göttin mein größtes Problem wird. Karma ging im schnellen Schritt auf sie zu und rief gleichzeitig in die Menge „Wenn ich auch nur einen von euch erwische, der mit seinem Tier etwas in meiner Schule macht, was euch nicht ausdrücklich von einem Lehrer aufgetragen wurde, dann überlege ich mir die ekelhafteste und schlimmste Aufgabe, welche euch noch wochenlang, nein, monatelang nicht mehr friedlich schlafen lässt." Mittlerweile stand sie in der Mitte der großen Eingangshalle neben Mynja und sah in die Runde. Ihre Schüler hatten zwar alle die Köpfe beschämt gebeugt, doch man sah sie noch Kichern und Lächeln, aber als Karma noch einmal laut wurde, gingen ie alle zügig in ihre Klassenräume. Myriam kam auf die beiden zu, doch ihre Miene verriet nicht, wie sie das Specktakel gerade fand. „So wir müssen jetzt nach oben, wir werden erwartet. Aber du Fräulein," Karma hielt Mynja am Arm, die gerade an ihr vorbei die Treppe hochsprinten wollte „Du musst dich während deiner Zeit hier an Regeln halten. Und wir werden später alle einmal durchgehen." Streng, aber liebevoll blickte sie das Kind an und hob fragend eine Augenbraue, als Zeichen, ob sie denn verstanden wurde. Mynja nickte nur und schaute beschämt auf dem Boden, dann gingen die drei stillschweigend nebeneinander die große Treppe nach oben.
Im Klassenzimmer angekommen warteten bereits alle Schüler auf ihren Plätzen, aber standen sofort auf und begrüßten die drei, als diese den Raum betraten. Es war eine bunte gemischte Gruppe, nicht einmal gleichalt waren sie, und doch fühlte man eine gewisse Harmonie, wenn man den Raum betrat. „Hallo meine Lieben. Wie versprochen konnte ich unsere großartigen Göttinnen für eine Fragerunde gewinnen." Während Karma ihre Einleitung an die Schüler hielt hörte sie Mynja hinter sich zu Myriam flüstern. „Pssst, ich muss dir was sagen. Es ist ganz doll wichtig." Doch Myriam reagierte nicht und Karma warf dem Mädchen einen schnellen Blick zu, um sie zum Stillschweigen zu bitten. „Gut also fangen wir an. Meine Damen, ihr könnt euch hier in die Mitte stellen oder auf diese beiden Stühle setzten, die irgendjemand hier noch hingestellt hat. Naja, sucht es euch aus und ich bleibe hier am Fenster und versuche mich zurückzuhalten." Aufgeregt ging sie zum Fenster und sah, dass die beiden die Stühle gewählt hatten. Mynjas blonde Haare waren von dem fast zirkusreifen Kunststück durcheinandergewirbelt worden und lagen wild auf ihren Schultern. Sie ließ die Beine baumeln, war nach vorne gebeugt und hatte ihre Hände zu einer Faust zwischen die Knie geklemmt. Myriam hingegen schlug ein Bein über das andere, sodass ihr Kleid leicht verrutschte und man die dunkle Haut der schlanken Beine sehen konnte, sie lehnte sich entspannt in den Stuhl und legte elegant ihre Arme auf die Armlehnen. Sie sind das komplette Gegenteil voneinander. Hautfarbe, Haarfarbe, Verhalten. Das Einzige was die beiden gemein haben ist ihre grüne Augenfarbe und ihre Eltern. Karma bemerkte, dass sie abgelenkt war, denn die ersten Fragen schon beantwortet wurden.
„Also wir brauchen kein Geld in der anderen Welt, denn wenn du etwas brauchst, dann gehst du zu den Menschen, die es anbauen oder bauen oder was auch immer du gerade brauchst. Zum Beispiel Lebensmittel werden auf großen Plantagen im Süden angebaut." Myriam stand auf und zeigte auf der Karte an der Tafel die Stelle die sie meinte. „Und wir im Schloss machen es zum Beispiel so, dass wir uns überlegen, was wir in einer Woche essen wollen und gehen dementsprechend einmal dort hin, zum Beispiel jeden Montag, und nehmen dann Lebensmittel für die ganze Woche mit. So wird nichts verschwendet, denn wir haben ja einen Plan und keiner muss etwas dafür bezahlen, denn die Leute arbeiten ja für die Gemeinschaft." Myriam setzte sich wieder auf ihren Stuhl, während die Schüler miteinander sprachen. Karma schaute zu Kaitlynn, welche sich mit ihren Freunden Lara und Damian beriet. Die drei waren ihr besonders ans Herz gewachsen, denn jeder von ihnen war sehr talentiert und ein guter Mensch und so hoffte sie sehr, dass die drei ihren Platz in der anderen Welt fanden und dort glücklich wurden. Ein Junge, welcher neben Damian saß, hob die Hand und Karma nickte ihm zu, als Zeichen, nun reden zu können. „Ich würde wirklich gerne in der anderen Welt wohnen, aber ich weiß noch nicht, als was ich arbeiten möchte. Mir macht zum Beispiel die Gartenarbeit Spaß, also kann ich mir vorstellen dort zu Arbeiten." Er deutete auf den Punkt der Karte, den Myriam gerade erwähnt hatte, die großen Plantagen. „Aber ich würde auch gerne Häuser bauen, oder mich sportlich betätigen. Was macht denn nun so ein planloser Junge wie ich?" Er lächelte verlegen und zog die Schultern entschuldigend nach oben. Die anderen Schüler schauten nun auch fragend zu den Schwestern, denn diese Frage schien ihnen auch auf dem Herzen zu liegen. Obwohl Karma mit den Schülern schon oft darüber geredet hatte, wollten sie es anscheinend lieber offiziell von den Göttinnen hören. Sie konnte erahnen, dass Myriam noch kurz nachdachte um die passenden Worte zu finden, doch Mynja nutzte die Chance, um auf die Frage zu antworten.
„Bei uns kannst du machen was du willst, denn niemand bekommt etwas vorgeschrieben. Ihr könnt euch alle jeden Tag neu entdecken, neu erfinden und einfach schauen, was euch Spaß macht. An einem schönen sonnigen Tag könnt ihr bei der Landwirtschaft helfen, am nächsten Tag Häuser bauen, am dritten Tag auf die Berge wandern und dort helfen, Regenwasser für die Versorgung zu sammeln. Alles, was nützlich ist, kann man bei uns machen." Mynja lächelte und steckte damit auch Myriam und Karma an. Sie hat die Frage wirklich gut beantwortet. „Und zu dem sportlichen Teil", übernahm Myriam das Wort „Auf der Sonneninsel wohnt Neffex, ein Halbgott, der die Menschen dort die Kunst der Selbstverteidigung beibringt. Und ich würde euch wirklich empfehlen dort einmal hinzugehen, denn es sind wunderbare Grundlagen, um sich in der normalen Welt verteidigen zu können." Der Junge lächelte nun auch und es sah aus, als hätte er die Antwort bekommen, die er hören wollte. Eine andere Schülerin erkundigte sich nach Myriams göttlichen Fähigkeiten, die sie nur zu gerne zur Schau stellte. Aus einem mit Erde gefüllten Blumentopf ließ sie viele bunte Blumen sprießen, indem sie sich nur darauf konzentrierte. Zufrieden schaute die Göttin die Blumen an und stoppte den Wachstum. Die Schüler waren begeistert und man hörte unter dem Gemurmel ihrer Stimmen, dass sie das Gefäß mit den Blumen, die durch die Hand der Göttin gewachsen sind, gerne mit nach Hause nehmen würden.
„Was ist mit der dritten Schwester die prophezeit wurde, die als Herrscherin der anderen Welt beschrieben wird? Weiß man denn, wann sie geboren wird?" Damian sah Myriam herausfordernd an und Karma musste schlucken. Sie ahnte, dass diese Frage wohl eher die seines Bruders Neffex war, aber sie wusste auch, dass die Göttinnen nichts über diese Verwandtschaft wussten, denn sie standen in keinem engen Verhältnis zu dem Halbgott. Myriam war tatsächlich nichtsahnend und beantwortete die Frage, wie jede andere. „Meines Wissens nach, ist unsere Schwester noch nicht geboren, obwohl ich seit Jahren sehnlichst auf ihre Ankunft warte. Trotz allem..." „Sie lebt! Myriam, sie lebt schon seit 20 Jahren!" Mynja sprang von ihrem Stuhl auf und stellte sich nun breitbeinig vor Myriam, um ihre Schwester zu unterbrechen und ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie sah aus, als wäre ihr jetzt erst wieder eingefallen, dass sie diese wichtige Mitteilung überbringen wollte. Karma wurde unruhig und warf Damian einen strafenden Blick zu, denn sie ahnte, dass Myriam die Fragerunde nun bestimmt beenden wollte. Außerdem darf sie nicht erfahren, wer ihre Schwester ist. Es ist noch zu früh. Karma hatte die dritte Schwester bei ihrer ersten Begegnung mit ihr sofort erkannt, hatte aber beschlossen es den anderen beiden Göttinnen erst zu sagen, bis diese Erwachsen genug war um auch wirklich Herrscherin der anderen Welt zu werden. Und davon ist sie noch so weit entfernt. Die Schüler wurden unruhig und unterhielten sich laut. Auch Damian war überrascht und redete mit seinen Freundinnen über das, was Mynja soeben gesagt hatte. Karma ging zu den beiden My-Schwestern und hielt Mynja an ihren Schultern fest, damit das aufgedrehte Kind mit Hüpfen aufhörte. Sie hatte die ganze Zeit weiter auf Myriam eingeredet, welche fassungslos immer noch in ihrem Stuhl saß. Langsam drehte sich ihr Kopf zu Karma bis sich ihre Augen trafen. Ihr wurde von Myriams durchdringenden Blick und der steifen Miene kalt und sie fürchtete sich vor einem ihrer Wutausbrüche, als diese mit bebender Stimme zu ihr sprach. „Karma. Wusstest du etwa davon?"
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