13. Kapitel
„Alle aufstehen!", rief Darejan. „Wir gehen jetzt los." Verschlafen richtete ich mich auf. Wieso war ich überhaupt verschlafen? Immerhin war ich tot. Aber hoffentlich nicht mehr lange. Ich richtete mich auf und sah mich um. Kurz hatte ich gehofft, Marie würde auf einer der Matratzen liegen, wie beim ersten mal, und ich könnte sie wecken. Ich stand auf und folgte den anderen Freiwilligen in die Halle. „Wir gehen jetzt den Weg der Wiederbelebung entlang. Heute gehen wir etwas mehr Risiko ein. Es gilt weiterhin, dass man einfach umdrehen darf, wenn es einem zu viel wird. Ich will hier niemanden verlieren, also kehrt rechtzeitig wieder um", bat er. Alle nickten und dann gingen wir zu der Tür. Maike stand daneben und ich verabschiedete mich von ihm. „Kannst du einmal bei Janina vorbeischauen?", fragte ich und er nickte. „Ich wollte sie sowieso mal wieder besuchen", sagte er grinsend. Dann gingen wir durch die Tür und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich lief wieder ganz hinten, damit ich niemandem in die Quere kam. Als ich oben ankam, war Darejan schon am Stadtrand. Ich genoss noch kurz die Aussicht, ehe ich mich nach unten fallen ließ. Während ich den Nachzüglern durch die Stadt folgte, sah ich Marie am Wegesrand stehen. Ich winkte ihr zu. Sie sah mir hinterher. Ich ließ mich kurz zurückfallen und ging zu dem Mädchen. „Danke, dass ich noch einmal zu meinen Freunden schauen durfte. Ich verspreche dir, dass ich es schaffe", sagte ich und sah in ihre grauen Augen. Dann schloss ich schnell wieder zur Gruppe auf. Ich spürte ihren Blick im Rücken und hätte sie liebend gerne reden gehört. Ich kam ebenfalls am Stadtrand an. Darejan hatte hier auf den Rest der Gruppe gewartet. „Hier beginnt der Weg der Wiederbelebung. Bitte seid vorsichtig!", sagte er und ging wieder voran. Vor mir unterhielten sich zwei Jungen. Anscheinend waren sie das erste mal dabei. Ich hatte sie aber bereits auf der Versammlung gesehen, also schienen sie nicht neu zu sein. Ich spürte eine Enge um meine Brust, sobald ich den Asphalt der grauen Straße verließ und den Trampelpfad betrat. Das Haar von einem der Jungs färbte sich langsam grau. Fasziniert beobachtete ich den Vorgang. Jede Strähne einzeln verlor ihr sanftes blond. Auch seine Kleidung wurde grau. Bei ihm ging es ziemlich schnell. Als letztes kam seine Haut. Schließlich blieb er stehen und ich wäre beinahe in ihn hineingelaufen. „Ich glaube, ich gehe besser zurück", murmelte er. Sein Atem ging schnell und es fiel ihm schwerzufallen. Ich machte ihm den Weg frei. Ich war noch vollkommen farbig. Ich sah zurück und riss erstaunt die Augen auf. Wir waren schon ziemlich weit gekommen. Der Himmel verfärbte sich langsam. Es war Mittag. Wieso war die Zeit so schnell vergangen? „Sie wird nicht wieder auferstehen, Keno. Sieh es ein. Sie ist vor fast einer Woche gestorben!", hörte ich Robs Stimme und meine schwarzen Haare färbten sich grau. Ich schluckte. Ohne es zu beachten, lief ich weiter. Immer mehr Rebellen gingen wieder zurück. Keiner wollte eine tote Seele werden. Schließlich waren wir nur noch zu fünft. Darejan, zwei Frauen, der Junge, der von Anfang an vor mir gelaufen war, und ich. Auch die anderen wurden mit jedem Schritt grauer. Ich atmete gleichmäßig ein und aus. Ich glaube an meine Freunde. Sie werden mich nicht aufgeben., hielt ich mir immer wieder vor Augen, wenn sich die Hoffnungslosigkeit an mich herantraute. Meine Atmung wurde schwerer und ich fing an zu keuchen. „Vielleicht sollten wir sie wirklich begraben lassen", warf Marco ein. Keine Antwort. Anscheinend hörte ich nur was sie sagen, wenn es etwas mit den Zweifeln von diesem Weg zu tun hatte. Ich schloss kurz die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Meine Atmung blieb schnell und flach. Es fühlte sich an, als würde etwas meine Brust zuschnüren. Meine Kehle war trocken und ich würde nicht mehr lange laufen können. „Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen", schlug Darejan vor. Auch die anderen keuchten und wir ließen uns erleichtert zu Boden sinken. Die Wiese war genauso grau, wie die Stadt. Es begann zu dämmern und der graue Himmel wurde dunkler. „Legen wir uns schlafen", beschloss Darejan. Ich legte mich hin und sah in den Himmel. Kann man hier eigentlich Sterne sehen?, fragte ich, während ich weiter nach oben starrte. Neben dem Weg stand eine tote Seele. Es schien keinen zu stören, da sie einem nichts taten, wenn man sie nicht ansprach. Nur ich wusste, dass sie einem eigentlich gar nichts taten. Nach und nach fielen allen die Augen zu. Ich wartete, bis sie anfing zu leuchten. Dann setzte ich mich wieder auf und ging zu ihr. „Ist es noch weit?", fragte ich und sah in die grauen Augen des Mannes. „Woher weißt du, dass wir nachts reden?", entgegnete er und setzte sich hin. „Ich habe es durch Zufall herausgefunden", antwortete ich und sah in den Himmel. „Ich weiß auch, was es mit dem Weg auf sich hat." Er nickte langsam. „Ich bin nie bis ganz oben gelaufen. Der Weg hat auch Auswirkungen auf uns, obwohl wir nicht mehr zurückkönnen", erklärte er mir. „Wie lange bist du bereits hier oben? Und warum gehst du nicht zurück in die Stadt?", fragte ich ihn. Er wiegte leicht den Kopf. „Es macht mir keinen Spaß, den Rebellen hinterherzujagen, wie es die anderen machen. Außerdem kann man von hier viel mehr sehen", antwortete er bereitwillig. „Es macht euch Spaß? Die Rebellen denken, dass es euch ärgert. Sie finden es lustig, vor euch wegzurennen", meinte ich erstaunt. Er lachte leise und erinnerte mich dabei an Savio. Ein Stich durchfuhr mich. Ich wollte endlich zurück zu meinen Freunden. „Wen willst du wiedersehen?", fragte die tote Seele unvermittelt. „Meine Freunde", erwiderte ich. „Nein. Welche Bedeutung haben sie für dich?", hackte er nach. „Da gibt es ein Mädchen, dass meine beste Freundin ist. Der eine Mann ist mein Lehrer und ein bisschen wie ein Vater. Er hat einen Freund, den er immer ärgert. Dann ist da noch ein Junge, in den ich verliebt bin und sein Bruder", zählte ich auf. „Du musst diese Erinnerungen gut aufbewahren, damit du sie nicht vergisst. Du musst immer an sie denken, wenn du diesen Weg entlanggehst. Direkt auf die Hoffnungslosigkeit, folgt das Vergessen", warnte er mich. Ich schluckte. „Ich denke, ich sollte schlafen gehen", meinte ich schließlich und die tote Seele nickte. Ich ging wieder zurück zum Weg und legte mich hin. Seine Worte tönten noch in mir nach. „Direkt auf die Hoffnungslosigkeit folgt das Vergessen."
„Sollen wir weitergehen?", hörte ich Darejans Stimme. Ich richtete mich auf. Die anderen standen bereits wieder. „Gut. Du bist wach, Jenny", sagte er und half mir hoch. „Ist mit dir noch alles in Ordnung? Du kannst auch umdrehen, wenn du willst", sagte er. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die tote Seele mich aus ihren leeren Augen beobachtete. „Ich gehe weiter", sagte ich entschlossen. Wir folgten weiter dem Trampelpfad, der direkt zum Berg führte. Ich spürte, wie sich der Glaube meiner Freunde schwächte. Gebt nicht auf!, flehte ich sie in Gedanken an. Ich war mir sicher, dass sie weiter an mich glauben würden, so wie ich an sie glaubte.
Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe wir den Berg erreichten. Hätten wir es beim ersten mal auch so weit schaffen können?, fragte ich mich und sah zurück. Wir waren alle fast komplett grau. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch weitergehen sollten", wägte Darejan ab. Ich sah ihn entschlossen an. „Ich werde weitergehen", sagte ich. Er nickte grinsend. Obwohl der Weg breit war, liefen wir hintereinander. Ab und zu sah ich auch noch ein paar tote Seelen. Ich nickte ihnen lächelnd zu. Ich war mir sicher, dass sie es mitbekamen. Meine Lunge verkrampfte sich und ich konzentrierte mich. Ich war tot. Ich kam auch ohne Luft aus. Auf einen Schlag wurde meine ganze Haut grau. Ich biss die Zähne zusammen. Nicht zu atmen, brachte einen einer toten Seele näher. Plötzlich blieb ich wie erstarrte stehen. Robs Bild fing an zu verblassen. Das Vergessen. Davon hatte er also gesprochen. Ich schloss die Augen und dachte an ihn. Sein Bild nahm wieder etwas Farbe an. Ich durfte keinen meiner Freunde vergessen, sonst konnte ich nicht an sie glauben. Langsam ging ich weiter und hielt mir das Bild meiner Freunde vor Augen. Die Schritte von den anderen wurden immer zögerlicher und kleiner, bis sie schließlich stehenblieben. Sie waren beinahe komplett grau. Nur noch die Pupille ihrer Augen war schwarz. Ob ich genauso aussah? Ich sah entschlossen nach vorne und lief weiter. „Was machst du? Du wirst noch zu einer toten Seele", rief Darejan mir hinterher. Ich drehte mich zu ihm um. „Ich werde jetzt nicht mehr umkehren. Ich will zu meinen Freunden zurück", sagte ich mit fester Stimme und setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Es hat schon einmal jemand geschafft, also schaffe ich das auch!, dachte ich und klammerte mich an den Namen meiner Freunde fest. Langsam ging ich immer weiter den Weg entlang. Meine Pupille färbte sich grau, doch ich lief einfach weiter. „Ich bin bald da", sprach ich mir selbst Mut zu und lief weiter. Keno wäre enttäuscht, wenn ich einfach aufgeben würde. Der Weg wurde immer steiler und ich musste anfangen zu klettern. Nirgendwo war noch eine tote Seele zu sehen. Der Weg war jetzt ganz schmal und das klettern wurde immer schwerer. Ich schluckte, als ich nach unten sah. Von hier sollte ich besser nicht fallen. Das könnte ich auch als Tote nicht so leicht überstehen. Entschlossen sah ich nach vorne und verscheuchte die anderen Gedanken aus meinem Kopf. Ich musste mich jetzt auf meine Freunde konzentrieren.
Plötzlich ging es vor mir senkrecht nach oben. Ein Ende war nicht abzusehen und ich verrenkte mir beinahe den Nacken. Wieso kann man hier nicht weiter? Kann man es vielleicht doch nicht schaffen?, dachte ich. Die Bilder meiner Freunde fingen an zu verblassen und die Hoffnungslosigkeit machte sich über mich her. „Du hast jetzt alles, was du brauchst, um den Weg der Wiederbelebung zu bestehen!", hörte ich Maries Worte. Ich sah auf und die Bilder gewannen wieder an Farbe. „Alles was ich brauche", murmelte ich und erhob mich in die Luft. „Den letzten Teil muss ich einfach fliegen", rief ich aus und schoss senkrecht nach oben. Ich wurde immer schneller. Direkt über mir war ein hellblauer Fetzen. Ich steuerte direkt darauf zu. Immer näher kam ich dem Himmel des Totenreichs. „Nur noch ein kleines Stück", murmelte ich und sah angestrengt nach oben. Dann stieß ich durch den blauen Fetzen. Dahinter war ein Raum. Er war völlig bunt. Alle erdenklichen Farben und all ihre Varianten waren hier. Ich sah mich staunend um. „Deine Prüfung ist bestanden", hörte ich eine leise Stimme. Verwirrt sah ich mich um. Wer ist da?, fragte ich mich. „Jetzt ist noch die Prüfung deiner Freunde, ob sie wieder an dich glauben", fuhr die Stimme fort. „Sagt mal, spinnt ihr?", hörte ich Kenos Stimme. Sein Glaube war sogar noch stärker als vorher. „Was redet ihr hier für einen Schrott? Ich werde sie nicht aufgeben und wenn ich dafür sterben muss!", seine Stimme war fest und klar. „Genau!", stimmte Savio ihm zu. „Ihr kennt Jenny doch! Sie wird alles versuchen, um wieder zu uns zurückzukommen!" Mir rann eine Träne die Wange hinunter. Das waren meine Freunde. „Du hast gute Freunde. Lass sie nicht noch einmal alleine", sagte die Stimme und ich nickte unter Tränen. Das Lächeln wollte nicht aus meinem Gesicht weichen und ich hätte beinahe vor Freude gelacht. Dann sank der Boden unter meinen Füßen weg und ich fiel. Erschrocken versuchte ich, etwas festes zu fassen zu kriegen, doch da war nichts. Ich riss erschrocken die Augen auf. Sie hat doch gesagt, dass ich zu ihnen zurück darf!, schoss es mir durch den Kopf. Meine Arme begannen zu schmerzen und ich verzog das Gesicht. Mein ganzer Körper tat weh, doch was mich zum aufschreien brachte, war meine Brust. Es fühlte sich an, als würde mich jemand erstechen. Ich krümmte mich und fasste mir an die schmerzende Stelle. Kein Blut war zu sehen, doch langsam konnte ich eine Wunde erkennen. Es war die, die Tamaro mir zugefügt hatte. Getrocknetes Blut breitet sich aus und ich wäre den Schmerzen beinahe erlegen. Schweiß trat aus und durchnässte meine Kleidung. Wieso tut es so weh?, dachte ich, ehe der Schmerz meinen Kopf vernebelte. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Da war nur noch der Schmerz und er war überall. Ich fasste mir mit den Händen an den Kopf und rollte mich so klein zusammen, wie es ging. Mein Atem ging schneller und ich konnte meinen Herzschlag fühlen. Das schnelle Klopfen meines Herzens beruhigte mich. Ich lebe!, drang die Erkenntnis zu mir durch und ich war ungeheuer erleichtert. Für einen Moment vergaß ich die Schmerzen. Ich fiel noch immer. Die Farben rauschten an mir vorbei und wurden zu Schlieren.
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