10.Kapitel
Eintöniges Grau. Das war das erste, was ich sah. Ich dachte, ich bin tot?, fragte ich mich. Der Boden unter mir war hart. Er fühlte sich wie Asphalt an. Was ist hier los? Vorsichtig setzte ich mich auf. Auf dem Gehweg stand ein Mann. Seine Augen waren glanzlos und sahen einfach über mich hinweg. Seine Schultern hingen herab. Er war völlig in Grau gekleidet und auch seine Haut war gräulich. Sein Haar hatte noch leichte Farbreste und hing von seinem Kopf hinab, als würden sie ihm jeden Moment ausfallen. Das war meine erste Begegnung mit einer toten Seele. Aber von Seele konnte man nicht sprechen. Denn er schien völlig seelenlos zu sein. Ohne auf die Umgebung zu achten, lief er über die Straße. Einfach an mir vorbei, ohne mich zu beachten. „Entschuldigen Sie", rief ich ihm hinterher und rappelte mich auf. Er reagierte nicht und lief weiter. Ich runzelte die Stirn und hielt ihn an der Schulter fest. Er blieb stehen, ohne sich zu mir umzudrehen. „Wo bin ich hier?", fragte ich ihn. Er schwieg. Was ist los mit ihm?, fragte ich mich überrascht. „Bin ich tot?", wollte ich als nächstes wissen. Keine Antwort. Als ich seine Schulter losließ, ging er einfach weiter. Verwirrt blieb ich stehen. Unauffällig folgte ich ihm. Schließlich wurde mir klar, dass ich mich nicht bemühen musste. Er würde es sowieso nicht bemerken. Die Straße führte in eine graue Stadt. Dort liefen mehrere Menschen herum. Ich begegnete einer Frau. Ihr Blick war stumpf und sie reagierte nicht auf meine Rufe. Genau wie der Mann. Ab und zu sah ich sogar Kinder. Ich kniete mich vor ein kleines Mädchen und sah ihr in die grauen Augen. Ihre Haare waren bereits komplett grau. Zeigte das an, wie lange sie bereits hier waren? Meine Haare waren noch komplett schwarz. „Hey, Kleine", versuchte ich, zu ihr durchzudringen. „Was ist das hier?" Ihr Blick war eintönig. Sie sah direkt durch mich hindurch. „Sie wird dir nicht antworten", hörte ich eine Stimme hinter mir. „Keiner wird das tun." Ich fuhr herum. Auf dem Dach eines grauen Hauses stand ein Mädchen. Sie hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden. Ihre Haare waren bereits grau, aber ihre Augen hatten eine rote Farbe und ein kämpferisches Funkeln. „Du bist gut, Kleine", lobte sie mich und sprang zu mir auf den Weg. „Was ist hier los?", fragte ich sie und das Mädchen fing an zu lachen. „Du bist noch nicht lange hier, oder?", fragte sie mich. „Erst seit gerade eben", meinte ich und senkte den Blick. „Tja, du bist tot", sagte sie, ohne Vorwarnung. „Das weiß ich", erwiderte ich. „Oh, du bist schlau", meinte sie grinsend. Dann streckte sie mir die Hand hin. „Ich bin Janina", stellte sie sich vor. „Ich bin Jenny", antwortete ich und schüttelte ihre Hand. Sie war kalt und ich konnte die Berührung kaum spüren. „Das sind die toten Seelen", meinte sie und plötzlich drehten sich alle zu uns um. Ich schauderte. Ihr Blick war noch genauso leer, wie vorher, doch jetzt kamen sie langsam auf Janina und mich zu. „Wir sollten besser verschwinden", lachte die und sprang mit mir an der Hand aufs Dach. „Bevor du etwas sagst. Das hier ist die Unterwelt. Wir sind tot und deshalb können wir auch machen was wir wollen", erklärte sie mir. Ich runzelte die Stirn. Die toten Seelen drehten sich langsam wieder um und liefen mit leerem Blick durch die Straßen. „Normalerweise wird jeder am Anfang so leer, wie sie. Es kann sein, dass du jemandem begegnest, den du kennst, aber er wird dich nicht erkennen. Sie sind einfach nur da und laufen herum. Es gibt noch viele andere solcher Städte. Du musst dich aber vor ihnen in Acht nehmen, wenn sie dich verfolgen", meinte sie. „Warum wissen wir beide dann noch alles?", fragte ich sie. Janina lächelte mich an und sagte: „Weil noch jemand an uns denkt. Diese Person wünscht sich unbedingt, dass wir zurückkommen. Ihr Glaube ist stark. Bei dir scheinen es wohl mindestens zwei zu sein, sonst wärst du schon längst grau. Aber da du noch komplett farbig bist. Sie müssen fest an dich glauben. Mir wurde ganz warm ums Herz, auch wenn es nicht mehr schlug. Die eine Person war garantiert Savio. Ich hoffte, dass Keno auch an mich glaubte. „Gibt es noch andere, die nicht leer sind?", fragte ich sie neugierig. Janina nickte und nahm mich wieder an der Hand. „Gehen wir", meinte sie und zog mich mit sich.
Kurz darauf sprangen wir Seite an Seite von Dach zu Dach. „Wir nennen uns die Rebellen, weil wir gegen den Tod und die Leere ankämpfen. Aber es gibt nicht viel was wir tun können. Wir können nur hoffen, dass der Glaube bestehen bleibt. Gestern haben wir einen verloren. Er hat sich plötzlich komplett grau gefärbt und sein Blickt wurde glasig", murmelte sie bedrückt. Wir steuerten direkt auf einen Kirchturm zu. Janina ging in die Knie und sprang hoch zur Glocke. Staunend sah ich ihr nach. Von oben winkte sie. „Na komm!", rief Janina zu mir herunter und ich atmete tief durch. Dann ging ich ebenfalls leicht in die Knie und sprang hoch. Es war ein Gefühl, als würde ich fliegen. Der Wind zerrte an meinem Haar und ich schloss kurz die Augen. Doch ich kam nicht hoch genug und fiel wieder. Ich versuchte, die Panik zu bekämpfen und stellte mir vor, wie ich einfach wieder nach oben flog. Hier ist alles möglich, hat Janina gesagt. Also bitte! Lass mich fliegen!, dachte ich mir. Im selben Moment blieb ich in der Luft stehen und stieg langsam nach oben. Als ich neben der Glocke stand, musterte Janina mich staunend. „Du bist geflogen", hauchte sie. Dann fing sie an zu grinsen und der Boden öffnete sich unter uns. Im Fallen lachte sie: „Willkommen im Schlupfwinkel der Rebellen!" Ich sah mich um. Bisher fielen wir nur durch einen grauen Schacht. Dann kamen wir auf dem Boden auf. Verwundert sah ich auf meine Füße. „Sollte das nicht eigentlich weh tun?", fragte ich überrascht. Janina verzog das Gesicht. „Wir sind tot", erinnerte sie mich und führte mich dann durch einen langen Tunnel. „Wir sind unter der Stadt, oder?", vermutete ich und das Mädchen nickte. Feierlich öffnete sie ein Tür. Dahinter war ein Raum. Er war ebenfalls grau, aber an der Decke hing eine Lampe, die gelbliches Licht verströmte. „Du hast aber lange gebraucht, Janina", begrüßte ein Junge sie. Sie grinste und zog mich in den Raum. „Wir haben eine neue Rebellin", meinte sie zufrieden. „Das ist gut", freute sich eine Frau. „Mädchen sind hier ziemlich in der Unterzahl", fuhr sie fort und zwinkerte mir zu. „Ich heiße Manuela." Ich lächelte ihr zu. „Ich bin Jenny." Janina sah sich um. „Wo sind die anderen, Tobi?", fragte sie den Jungen. „Unterwegs. Sie wollen die toten Seelen ein wenig ärgern", informierte er sie und setzte sich auf eine Coach. Manuela setzte sich einfach auf den Boden. „Sie sollten sich wirklich ein anderes Hobby suchen", murmelte sie und zeichnete Bilder in den Staub. Vorher war er noch nicht da gewesen. „Hör auf, hier alles schmutzig zu machen", murrte Janina und sofort war der Boden wieder sauber. „Wird langsam Zeit, dass sie kommen." Der Raum war eher klein, aber er sah recht gemütlich aus. Hinter uns stürmten zwei Jungen lachend durch die Tür und rempelten mich an. „Oh, entschuldige", meinte der eine und setzte sich neben Tobi. „Das war geil! Sie haben uns bis zur Straßenecke gejagt!", lachte der andere. „Nick! Jim! Ihr seid unhöflich. Wir haben eine neue Rebellin", fuhr Janina die beiden an. Sie sahen zu mir. „Freut mich, dich kennenzulernen", sagte Nick. Jim nickte mir einfach nur zu. „Ich habe sie in der Stadt gefunden", erklärte Janina und sah auf die Uhr. „Wir müssen langsam los." „Wohin denn?", fragte ich neugierig. Sie öffnete eine andere Tür, die gerade eben erst erschienen war. „Zum Treffen. Es gibt noch andere Rebellen in den anderen Städten. Wir treffen uns immer Abends und besprechen einfach, was wir so gemacht haben", erklärte Janina. Die Jungs und Manuela gingen in den Gang. Plötzlich blieb Nick stehen und sah sich zu uns um. Seine Augen waren ganz groß und ich sah Angst darin. „E-es ist", stammelte er. Dann wurden seine Augen grau und leer. Ohne uns anzusehen, lief er wieder in den Raum hinein und zu der anderen Tür. Ich schwieg geschockt. Gerade eben hatte er noch gelacht und jetzt war er eine tote Seele. Janina brach in Tränen aus und Manuela eilte zu ihr, um sie zu trösten. Jim und Tobi waren ganz still. Schließlich gingen sie zu Nick. Sie brachten ihn in den Gang, der zum Kirchturm führte. Die Tür schloss sich hinter ihnen. „Was machen sie jetzt mit ihm?", fragte ich. Meine Kehle war wie zugeschnürt. „Sie bringen ihn nach draußen. Dort wird er mit den anderen herumlaufen", murmelte Manuela. Ich schluckte. Bitte glaub weiter an mich!, flehte ich Savio in Gedanken an. „Gibt es denn keinen Weg hier raus?", fragte ich. Janina sah zu Boden. „Bisher hat es noch keiner geschafft", antwortete Manuela. „Aber es gibt einen, oder?", hackte ich nach. „Das wirst du sicherlich beim Treffen erfahren. Jim und Tobi werden nachkommen", meinte Janina und wir gingen durch den Gang. „Wie lange seid ihr schon hier?", fragte ich die beiden. „Seit ungefähr einem Monat", antwortete Manuela. „Janina hat mich gefunden. Ich war völlig verzweifelt und verwirrt. Die Menschen hier haben mir Angst gemacht." „Ich bin bereits seit einem Jahr hier", murmelte Janina. Ich sah sie staunend an. „Die Person, die an dich glaubt, muss dich wirklich gern haben", meinte ich. Ich sah Tränen in ihren Augen. „Mein Freund. Er hat sich keine neue Freundin gesucht. Eigentlich wollten wir irgendwann mal heiraten, wenn wir alt genug sind, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Ich will nur, dass er endlich wieder glücklich wird. Dafür würde ich es auch in Kauf nehmen, dass ich eine tote Seele werde", erwiderte sie. Ich senkte den Blick. Janina straffte die Schulter und trocknete ihre Tränen. „Wir sind da", sagte sie und vor uns tauchte eine Tür auf. Der Raum dahinter war hell beleuchtet. Es warteten bereits ein paar Gruppen darin. Angesichts der Tatsache, dass wir alle tot waren, waren es recht viele. Am Ende des Raumes gab es ein Podest. „Dort werde ich später stehen", meinte Janina stolz und grinste mich an. „Die Anführer stellen sich dort hin, wenn die Versammlung beginnt. Dann werden die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht. Die eher unwichtigen kann man davor austauschen", erklärte Manuela mir. „Na dann, stürzen wir uns mal ins Getümmel", meinte eine Stimme hinter uns. Es war Tobi. Er lächelte uns aufmunternd an und tauchte dann zwischen den anderen Rebellen unter. Jim folgte ihm. „Wir bleiben zusammen", schlug Manuela vor. Sie hatte wohl meinen ängstlichen Blick gesehen. Als wir uns der Menge näherten, sahen ein paar auf und begrüßten Manuela und Janina. Manche lächelten mir zu. „Hey, Maike", rief Janina plötzlich und wir hielten auf einen älteren Mann zu. Er erinnerte mich an Savio und ich bekam einen Stich. Ich wollte zurück zu Keno und Savio. Marco und Rob vermisste ich auch. Ich will wieder leben., dachte ich mir sehnsüchtig. Ich schaffe das schon, also wartet bitte auf mich. „Gibt es bei euch etwas neues?", fragte sie ihn. Er wiegte den Kopf. „Nicht unbedingt. Aber es wollen wieder ein paar starten. Es kann also sein, dass wir bald wieder einen neuen Anführer vorzuweisen haben", meinte er. „Wohin starten?", fragte ich verwirrt. Maike sah mich erst jetzt an. „Bist du neu hier?", fragte er mich freundlich und ich nickte. „Die Anführer bitte auf das Podest", rief jemand und Janina winkte uns noch einmal zu, ehe sie davonging. Kurz darauf standen zehn Leute auf dem Podest. Vier davon waren Mädchen. „Seid leise", bat Janina und Stille kehrte ein. „Wir haben ein neues Mitglied. Sie heißt Jenny. Leider haben wir heute auch ein Mitglied verloren. Der Glaube an Nick ist verloren gegangen", sagte sie traurig. Alle senkten betrübt den Blick. Es fühlte sich an, als wären wir eine einzige große Familie. Als nächstes trat ein Mann vor. „Ich habe vor, einen neuen Versuch zu starten. Wir wollen den Weg zur Wiedergeburt entlanggehen. Wer mitkommen möchte, kann sich später bei mir melden. Ihr seid jederzeit willkommen", sagte er. Wie viele andere, war er fast komplett grau. Nur seine Augen waren von einem hellen blau. Ich sah aber auch andere, die noch komplett farbig waren. Die anderen Anführer sagten nur etwas von neuen Mitgliedern oder von neuen toten Seelen. Als sie schließlich vom Podest sprangen, wandte ich mich an Manuela. „Was ist der Weg der Wiedergeburt?", fragte ich sie. „Es ist der einzige Weg, wie du wieder leben kannst. Aber bevor du dich seiner Gruppe anschließt, lass dich von ihm über die Gefahren aufklären", bat sie mich und ich nickte. Dann suchte ich die Menge nach dem Anführer ab.
Ich fand ihn schließlich direkt vor dem Podest. Er sah mich an und lächelte. „Du bist das neue Mitglied Jenny, oder?", fragte er und ich nickte. „Können Sie mir etwas über den Weg der Wiedergeburt erzählen?", fragte ich ihn. „Duze mich doch", schlug er vor. „Das ist der einzige Weg, der aus dieser Welt herausführt. Wenn du wieder leben willst, kannst du gerne mit uns kommen." „Manuela meinte, ich solle mir noch über die Gefahren berichten lassen", erwiderte ich. Er lachte. „Das klingt nach ihr", meinte er und setzte sich auf das Podest. „Das ist ein sehr gefährlicher Weg für Rebellen und tote Seelen beschreiten ihn nicht. Je näher du dem Ende kommt, desto mehr verlieren die Personen den Glauben in dich. Es ist unmöglich anzukommen. Jemand soll es aber schon einmal geschafft haben, deshalb versuchen wir es weiter", erklärte er. „Also wird man zu einer toten Seele, bevor man ankommt?", hackte ich nach. Er nickte. „Schon viele aus unsere Stadt haben es versucht. Jetzt sind sie tote Seelen, die durch unsere Stadt wandern", meinte er. „Ich will es versuchen", sagte ich entschlossen. „Ich will zu meinen Freunden zurück." Er lächelte mich an. „Du bist ziemlich entschlossen, Jenny. Das wird dir sicher weiterhelfen. Ich hoffe, wir schaffen es. Aber wenn wir kurz vor der Vernichtung stehen, werde ich alle dazu bringen, umzudrehen", warnte er mich. „Ich will nicht, dass sie in tote Seelen verwandelt werden." Ich nickte. „Das ist sehr nett von dir. Man sollte nicht zu viel riskieren", stimmte ich ihm zu. „Glückwunsch, du bist unsere erste Freiwillige von einer anderen Stadt. Sag noch schnell Janina Bescheid", sagte er. Ich drehte mich um und suchte nach ihr. Sie stand wieder bei Manuela und Maike. „Ich möchte zum Pfad der Wiedergeburt", sagte ich und sah Janina fest in die Augen. Sie blickte mich an. Es war ein Test. Wenn ich zuerst wegsah, durfte ich nicht gehen. Wenn sie zuerst wegsah, musste sie mich gehen lassen. Wir wussten es beide und weigerten uns, wegzusehen. „Lass sie doch, wenn sie will", mischte Maike sich ein. „Das geht nicht. Ich will nicht noch jemanden aus meiner Stadt verlieren", sagte sie stur. „Bitte Janina. Ich will zurück zu meinen Freunden und ich werde nicht aufgeben, bevor ich nicht wieder bei ihnen bin", sagte ich. Sie seufzte. „Versprich mir eines", bat sie mich und sah zu Boden. „Kehre um, bevor du eine tote Seele wirst. Ihr Glaube wird zurückkehren, wenn du nicht mehr in der Nähe des Weges bist. Also musst du hier überleben." Ich nickte. „Ich werde nicht verlieren", versprach ich ihr. Manuela schüttelte mir noch einmal die Hand, ehe ich zurück zu dem Anführer ging. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie dich gehen lässt", staunte er. „Ich bin Darejan." Ich schüttelte seine Hand und setzte mich neben ihn.
Bis zum endgültigen Ende der Versammlung kamen keine Freiwilligen mehr. Darejan seufzte und wir stiegen vom Podest. „Gehen wir", meinte er und steuerte auf eine Tür zu. Maike kam zu mir. „Willst du auch zum Weg der Wiederbelebung?", fragte ich ihn neugierig, doch er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, ihn zu bewältigen", sagte er. Er musterte mich. „Was treibt dich dazu an, es zu versuchen?", fragte er. Ich sah nach vorne, damit ich nicht in die falsche Richtung lief, wobei das unmöglich war. Wir gingen durch einen Gang. Er hatte keine Abzweigungen, genau wie der, durch den ich hergekommen war. „Hoffnung", antwortete ich. Dann öffnete sich vor uns eine Tür und wir betraten eine große Halle. „Das ist ja riesig", staunte ich. Maike nickte. „Wir haben es ausgebaut, damit hier alle reinpassen", erklärte er. „Habt ihr so oft Neuzugänge?", fragte ich überrascht. „Hin und wieder. Es kommen aber auch oft welche dazu, die zurück zu ihren Familien wollen. Ist das nicht auch dein Ziel?", meinte er. Ich senkte den Blick. „Ich kann nicht zurück zu meiner Familie. Sie denken bereits seit ein paar Monaten, dass ich tot bin. Ich möchte zurück zu meinen Freunden", murmelte ich leise. Er fragte nicht weiter nach und führte mich in einen anderen Raum. „Falls du schlafen willst, kannst du das hier tun. Tote brauchen zwar keinen Schlaf, aber es ist ab und zu ein netter Zeitvertreib", informierte er mich. Auf dem Boden lagen Matten. Ganz hinten in der Ecke hörte ich jemanden schnarchen. „Du musst dir aber deine eigene Matte holen. Die hier sind alle besetzt", sagte er und schloss die Tür wieder. Darejan räusperte sich und die Freiwilligen traten zu ihm. „Wir brechen morgen früh auf, also spart eure Kräfte. Es wird nicht einfach werden. Wer kurz davor steht, zu einer toten Seele zu werden, der kehrt sofort um. Ich will hier niemanden verlieren! Wenn irgendetwas passiert: Ihr habt euch freiwillig gemeldet und ich kann euch zu nichts zwingen, aber ich bitte euch, dass ihr alles tut, damit ihr nicht seelenlos werdet. Das ist das Schlimmste, was einem hier passieren kann. Denn ihr wisst, dass wir alle tot sind", sprach er laut, sodass ihn jeder hören konnte. „Das hatte ich schon wieder vergessen", murmelte ich. „Wenn du erst eine Weile hier bist, gewöhnst du dich daran", beruhigte Maike mich. „Das will ich nicht", widersprach ich. „Wenn ich mich daran gewöhne, heißt das, dass ich schon länger hier bin und meine Freunde immer weiter in die Ferne rücken." Er fuhr sich durch die grauen Haare. „Du bist schon ein seltsames Mädchen", meinte er grinsend. „Kann man hier wirklich schlafen?", fragte ich ihn neugierig. „Hier kannst du fast alles. Soll ich dir verschiedene Wirkungen auf die toten Seelen zeigen?" Ich nickte. „Bitte. Aber ich möchte noch ein bisschen schlafen", erwiderte ich. „Zu Befehl, Sir", grinste er und führte mich durch eine Tür. Dahinter kam kein Gang, sondern ein direkter Schacht nach oben. „Ist es hier auch ein Kirchturm?", fragte ich, während Maike in die Hocke ging. „Kannst du schon so hoch springen?", fragte er mich. „Nein, aber ich kann etwas anderes", erwiderte ich. Ehe er fragen konnte, lösten sich meine Füße vom Boden und ich flog hoch. Er schoss wie eine Rakete an mir vorbei und landete oben auf dem Sims. „Du kannst fliegen", stellte er fest. „Wieso macht ihr das nicht auch?", fragte ich neugierig. Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe es nie ausprobiert." Dann sprangen wir auf die Straße. „Es gibt verschiedene Worte, auf die sie reagieren", erklärte er mir und rieb sich freudig die Hände. „Ich habe euch mit Steinen beworfen", rief er und die toten Seelen drehten sich zu uns um. Sie bewegten sich deutlich schneller, als bei meiner Begegnung mit Janina. „Wir nehmen an, dass sie das ärgert. Wenn man eine Aktion sagt, die Menschen aufregt", meinte er, während wir uns umdrehten und rannten. „Sobald man aus ihrem Blickfeld verschwindet, beruhigen sie sich wieder. Aber jetzt schau mal hin." Eine Leiter erschien und wir kletterten langsam hoch. Die erste tote Seele folgte uns. Der Rest blieb stehen und lief wieder durch die Stadt. Die tote Seele folgte uns über das Dach. Wir gingen rückwärts. „Wir verschwinden gleich zwischen zwei Häusern", flüsterte Maike und wir ließen uns vom Dach fallen. Ratlos blieb die Seele oben stehen und sah sich um. Plötzlich verschwand sie. „Was ist jetzt los?", fragte ich überrascht. „Schau auf die Straße", wies Maike mich an. Dort erschien sie wieder und ging herum. „Verändert sich hier eigentlich der Himmel?", fragte ich. „Man kann ein wenig Farbe erkennen, die von der echten Welt ins Totenreich dringt. Danach richten wir uns. Jetzt ist das grau dunkel und an ein paar Stellen sogar dunkelblau. Morgens schimmert rot durch, dann hellblau und wieder rot. Wir wissen nicht, ob das den tatsächlichen Tageszeiten entspricht, aber mehr haben wir nicht", beantwortete er meine Frage. „Vielleicht sollten wir wieder zurück, wenn du noch schlafen willst", sagte er. „Für viel hat es nicht gereicht. Es war mir eine Freude dich kennenzulernen, Jenny. Wir werden uns vielleicht nicht wiedersehen. Das kommt ganz darauf an, ob du eine tote Seele wirst, oder nicht." „Oder ob ich es schaffe", ergänzte ich. Er zuckte nur mit den Schultern und wir gingen zurück zum Kirchturm. Ich flog wieder nach oben, während er bereits unten auf mich wartete. „Ich habe es schon kapiert. Springen geht schneller", lachte ich, als er ungeduldig auf die Uhr sah. Er grinste und wir gingen gemeinsam wieder in die riesige Halle. Vor dem Zimmer blieb er stehen. „Ich wünsche dir morgen viel Glück", sagte er lächelnd. „Ich dachte, du glaubst nicht, dass es möglich ist?", fragte ich verwundert. „Ja, ich glaube immer noch nicht daran", erwiderte er. Dann öffnete ich die Tür. Der Raum war jetzt voller. Viele der Freiwilligen hatten sich hingelegt. Ich ging zu einer freien Stelle und eine Matratze erschien dort. Ich legte mich hin und deckte mich zu. Das ist wirklich ein seltsamer Ort., dachte ich. Die toten Seelen und die Rebellen. Der Weg der Wiederbelebung. Unterschiedliche Städte. Das Treffen aller Gruppen. Ich wünschte, ich könnte etwas für sie tun.
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