Fünf
Greta sank auf die Knie.
Sie blickte immer noch der Kutsche hinterher, obwohl sie schon lange verschwunden war.
Abwesend ließ sie sich von Alicia auf die Beine ziehen und auf Verletzungen abtasten.
Sie sagte etwas, doch Greta hörte ihre Worte nur wie ein Rauschen.
Kristofer war weg.
Ihr bester Freund war verzaubert und entführt worden von...
"Die Schneekönigin."
Frida stützte sich ächzend auf ihren Gehstock und betrachtete die Spuren, die die Kufen der Kutsche im frisch gefallenen Schnee hinterlassen hatten.
"Ihr habt mir nicht geglaubt. Aber da habt ihr es! Sie hat sich den Jungen geholt!"
"Aber wieso?", brach es aus Greta heraus. "Wieso Kristofer?"
"Hast du nicht eine Scherbe gefunden?"
Überrascht hielt Greta inne.
"Woher-"
"Ich war vorhin bei Frerk. Gott sei ihm gnädig, der arme Mann. Sein einziger Sohn... Jedenfalls diese Scherbe... hat er sich daran geschnitten?"
"Ja."
"Da hast du deine Antwort."
"Aber was interessiert die Schneekönigin eine Scherbe?"
"Der Spiegel war schon einmal zerbrochen und wurde zusammengesetzt. Von ihr. Was glaubst du, woher die dunkle Magie, die durch ihre Adern fließt, kommt? Als sie vor ihrem Ehemann fliehen musste, wurde der Spiegel erneut zerstört. Und um ihre Macht nicht zu verlieren, muss sie ihn wieder vervollständigen."
"Woher willst du das wissen?", fuhr Greta sie wütend an. "Das sind alles bloß Märchen, Kristofer ist-"
"Was?", zischte Frida.
"Wie viele Beweise brauchst du noch?
Du weißt es, du hast es gespürt. Und gerade hast du es mit eigenen Augen gesehen. Kristofer wurde von dem Teufelsspiegel verflucht und die Königin hat ihn entführt. Einerseits will sie die Scherbe, andererseits braucht sie ihre Puppen. Schließlich ist sie keine gewöhnliche Königin mehr. Sie hat keine menschlichen Diener in einem von Menschen erbauten Schloss."
Greta wurde übel.
"Also hat sie Kristofer mitgenommen, um ihn als Handlanger zu nutzen?"
Frida nickte schwer.
"Die Magie des Spiegels hat sein Herz, sein ganzes Bewusstsein, mit Eis und Dunkelheit überdeckt. Dieselbe Magie, die die Schneekönigin für sich nutzt. Er steht unter ihrem Bann, mein Kind."
"Dann hol ich ihn zurück."
Greta wollte zurück ins Waisenhaus, um ihre Sachen zu holen.
Alicia überholte sie und stellte sich ihr in den Weg.
"Was denkst du, was das wird? Ich lasse dich bestimmt nicht einer verrückten Schneezauberin nachreisen, damit sie mit dir dasselbe macht, wie mit Kristofer!"
Alicia bekreuzigte sich und griff dann nach Gretas Händen.
"Bitte, Greta. Sei vernünftig. Es ist schade um ihn, aber das ist es nicht wert."
"Doch, Alicia!", widersprach Greta. "Genau das ist es. Weil er es wert ist! Egal, was er getan hat, er ist genauso Familie für mich wie du und ich lasse ihn nicht einfach im Stich!"
Sie drängte sich an Alicia vorbei und rannte hoch in ihr Zimmer, um sich etwas Wärmeres anzuziehen und eine Tasche zu packen.
Svea saß noch im Nachthemd zusammengekauert auf ihrem Bett und drückte ihren Stoffbären fest an sich.
"Was war das vorhin, Greta? Und warum warst du in der Nacht weg? Warum haben vorhin Leute geschrien?", fragte sie zittrig. "Da war überall Eis auf den Fenstern."
Greta kniete sich vor sie und legte ihr die Hände auf die Schultern.
Svea war klug, aber noch so jung. Und durch Fridas Geschichten hatten sie und die anderen Kinder panische Angst vor der Schneekönigin.
Selbst wenn sie real war... wie könnte sie ihr das nur guten Gewissens sagen?
"Hör zu, Svea. Kristofer hat sich gestern Abend verletzt und ist seitdem nicht ganz er selbst. Eine Frau hat ihn mitgenommen, weil sie glaubt... ihm helfen zu können. Und ich reise hinterher, um auf ihn aufzupassen. Es wird alles gut, wir sind bald wieder da. Und dann lass ich dich nicht mehr allein."
Sie schenkte Svea ein möglichst aufmunterndes Lächeln, eher sie ihren Mantel anzog.
"Ihr passt immer aufeinander auf.", hörte sie Svea sagen, als sie bereits halb aus der Tür war.
Sie drehte sich nochmal zu dem Mädchen um, das sie tapfer anlächelte.
Greta schmunzelte.
"Das stimmt. Und ich werde auch immer auf dich aufpassen, genau wie Alicia. Und du achtest auch gut auf sie, bis ich wieder da bin. Einverstanden?"
Svea nickte mutig, obwohl sie fast so große Angst haben musste wie Greta.
Doch die beiden lächelte einander an, bereit, dennoch tapfer zu sein.
Bevor Greta das Waisenhaus verlassen konnte, stellte sich Alicia ihr erneut in den Weg.
Dieses Mal jedoch, um ihr Brot, Käse und getrockneten Fisch zu geben.
"Ich würde für dich dasselbe tun. Ich verstehe, warum du ihn zurückholen willst... musst."
Sie sah zu Boden, als Greta das Essen entgegennahm und einpackte.
"Bitte pass auf dich auf."
Greta nahm sie fest in den Arm.
"Ich komme zurück. Mit Kristofer."
"Ich weiß, dass ich dich loslassen muss."
Alicias Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Langsam löste sie sich von Greta.
Greta nickte und ging los, eher sie erneut in Tränen ausbrach.
Frida saß auf einer kleinen Bank vor dem Waisenhaus.
"Du folgst den Kufenspuren bis zu einem Fluss. Ab dort folgst du dem Wasser stromabwärts."
"Woher weißt du das alles?", fragte Greta. "Du bist dir so sicher über so viele Dinge. Als hättest du jede Geschichte selbst miterlebt."
Ein wissendes, müdes Lächeln stahl sich auf die Lippen der alten Frau.
"Alte Menschen hüten alte Geheimnisse. Gib auf dich Acht. Und rette den Jungen. Ich weiß, dass du es kannst."
"Danke, Frida."
Greta legte ihr zum Abschied eine Hand auf die Schulter und blickte auf dem Weg aus der Stadt kurz durch das Schaufenster von Frerks Laden.
Er sah am Boden zerstört aus.
Ob er überhaupt wusste, dass Kristofer entführt worden war?
Greta gab auch ihm im Stillen das Versprechen, Kristofer zurückzubringen.
Sie spürte die Angst des Ungewissen, die Angst um ihren besten Freund und auch die Angst vor dem Scheitern, als sie ihrem Heimatort hinter sich ließ.
Greta war noch nie alleine weit außerhalb gewesen.
Sie kannte nur die Erzählungen der Älteren.
Sie wusste kaum etwas über die großen Städte oder wie man länger in der Wildnis überlebte.
Sie konnte zwar ein Zelt aufbauen, aber was, wenn sie wochenlang unterwegs war?
Einen ganzen Monat?
Wenn sie einen Fehler machte und so Kristofers einzige Chance auf Rettung verspielte?
Nein, sagte sie sich.
Egal was passierte. Sie musste es versuchen. Sie musste alles versuchen.
Sie konnte ihn nicht der grausamen Königin überlassen.
Vielleicht fand sie sogar die Kinder, die sie über all die Jahre entführt hatte.
Auch wenn die meisten sich sicher waren, dass sie nicht mehr am Leben waren.
Greta dachte an Frerk, der am Boden zerstört war.
Daran, dass es hunderte Eltern wie ihn gab.
Sie musste es nicht nur für Kristofer versuchen, sondern auch für diese Kinder und ihre Eltern.
Diesen Vorsatz wiederholte Greta in ihren Gedanken, als sie den Spuren folgte.
Die Köngin schien auf ihrem Weg überall Kälte, Schnee und Eis hinterlassen zu haben.
Sie hatte die Uhr der Natur einfach nach vorne gedreht.
Greta fragte sich, ob der Schnee nach einigen Stunden ihrer Abwesenheit wieder schmolz oder erhalten blieb.
Würde er schnell verschwinden, würde sie ihre einzige Spur verlieren.
Nur bis zum Fluss, hatte Frida gesagt.
Solange musste der Schnee einfach erhalten bleiben.
Greta starrte die weiße, in der Sonne glitzernde Masse an, als könnte sie ihm genau das befehlen.
Sie fragte sich, was genau es mit diesem Spiegel auf sich hatte.
Warum er einerseits dem, der ihn zusammensetzte, so eine Macht verlieh, allen anderen jedoch nur Kummer bereitete.
Wer erschuf so etwas Teuflisches?
Und warum hatte der König überhaupt jemanden wie die Schneekönigin geheiratet?
Es war bekannt, dass ihr Herrscher schon vor seiner ersten Hochzeit gerne ausschweifende Feste, vor allem mit den schönsten Frauen des Landes, gefeiert.
Er war ein König.
Er hätte jede Dame des oberen Adels ehelichen können.
Warum also gerade die Schneekönigin...
Greta zerbrach sich so lange darüber den Kopf, dass sie gar nicht merkte, wie es dunkel wurde.
In der Ferne sah sie die Lichter eines Dorfes und hörte das Rauschen des Flusses.
Schon von Weitem war klar, dass die Königin auch hier gewütet hatte.
Klagend schaufelten die Menschen ihre Häuser vom Schnee frei und verfluchten ihren Namen.
Greta ließ sich den Weg zum einzigen Wirtshaus des Ortes beschreiben, in dem glücklicherweise ein Zimmer frei war.
Sie hatte nicht viel Geld dabei und hoffte, dass es ausreichen würde, bis sie die Königin einholte.
Der Wirt war ein untersetzter Mann, der auf die sechzig zuging.
Er wischte den Tresen des Gasthauses sauber und fluchte dabei so viel, wie die Leute vor der Tür zusammen.
"Eine verdammte Hexe, Teufelsbrut!"
Greta musste sich überwinden, um ihn aus seiner Raserei zu holen und ihm eine Frage zu stellen.
"Wissen Sie zufälligerweise mehr über die Schneekönigin? Vielleicht sogar, wie weit es zu ihrem Palast ist?"
Der Mann schüttelte beinahe erschüttert den Kopf.
"Hast du Todessehnsucht, Mädchen? Hat bei euch wohl ein Kind gestohlen, was? Tragisch. Abscheulich. Aber nicht zu ändern."
Greta wollte entgegnen, dass man seine Liebsten nicht einfach so aufgeben konnte, doch die trostlose Miene des Mannes sprach deutlich.
"Wenn der Teufel am Werk ist, dann ist der Mensch machtlos."
Greta fand keinen Schlaf.
Es lag nicht an dem Bett, das nur aus übereinander gelegten Decken und in einen Kissenbezug gestopftes Stroh bestand.
Vielmehr wollte ihr das Gesicht der Schneekönigin nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Kalt. Grausam. Wunderschön. Tödlich.
Und doch... menschlich.
Teufelsmagie hin oder her, diese Frau war einmal ein Mensch und war es in gewisser Weise immer noch.
Es musste einen Weg geben, sie zu besiegen.
Als Greta erneut die Augen schließen wollte, drang ein lautes Heulen an ihr Ohr.
Sie fuhr hoch und blickte durch die schmutzige Scheibe des kleinen Fensters.
Falls da draußen tatsächlich ein Wolf oder ganzes Rudel lauerte, dann blieben sie ihr verborgen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro