Eins
"...der König hatte ihr zwar geschworen, ihre Magie nicht zu verurteilen, doch als ihr Kind von Feinden entführt wurde, und sie nichts dagegen tun konnte, ließ er seinen gesamten Zorn an ihr aus. Er verbannte sie an das verfluchte Ende dieses Landes, ins ewige Eis. Als Rache ließ die Königin sein Herz vor Kälte erstarren und sucht seither nach ihrem verlorenen Kind. Wenn nachts Schatten vor den Fenstern tanzen, versteckt euch also lieber, denn ihre eisigen Finger werden auch nach euch greifen..."
Mehrere Kinder schrien auf, ein kleiner Junge begann zu weinen und zwei Schwestern rannten weinend zu Greta, um ihr Gesicht in ihrem Rock zu verbergen.
Greta stellte das Tablett mit den Tassen voller heißer Milch ab und sah Großmutter Frida tadelnd an.
"Hatten wir uns nicht auf weniger furchteinflößende Geschichten geeignet?"
Frida verzog eingeschnappt das faltige Gesicht und lehnte sich in dem alten, knarrenden Stuhl zurück.
"Sie sollten die Geschichte kennen, damit sie sicher sind."
"Ich will nicht von der Schneekönigin geholt werden!", rief Jonas und wischte sich die Tränen von den roten Wangen.
Greta wollte ihn trösten, doch die Schwestern klammerten sich weiterhin an ihre Beine. Ein hochgewachsener, junger Mann löste sich aus der Ecke und nahm Jonas in den Arm. Kristofer strich ihm beruhigend übers Haar.
"Es ist nur eine Geschichte, Kleiner. Du weißt doch... die Alten sind etwas verrückt."
Frida funkelte ihn böse an, doch Greta fühlte, wie sich ein warmes Gefühl in ihrer Brust ausbreitete.
"Ich glaube, das reicht heute mit den Geschichten. Danke, Frida. Ihr könnt jetzt in die Küche zu Alicia, Kinder. Sie hat bestimmt schon die Kekse fertig."
Als hätte es die Schneekönigin nie gegeben sprangen die Kinder auf rannten mit einem Grinsen aus der Kaminstube.
"Nur weil ihr nicht mehr an meine Geschichten glaubt, heißt das nicht, dass sie nicht wahr sind!", meinte Frida und erhob sich langsam.
Kristofer stützte sie damit und reichte ihr ihren Gehstock.
"Darüber sollten sich die Kinder selbst ein Urteil machen, meinst du nicht?"
Er lächelte sie dabei an, sodass sie ihm nicht böse sein konnte. Niemand konnte Kristofer lange böse sein.
Darum war er auch Gretas Freund geworden, nachdem er ihr im Alter von sieben Jahren einmal die Mütze geklaut hatte. Er hatte sie ihr zusammen mit einem Honigkuchen zurückgegeben, den sie sich anschließend geteilt hatten.
Das war nun schon über zehn Jahre her und Greta kannte keinen Menschen, dem sie mehr vertraute.
Frida brabbelte etwas Unverständliches und ging zur Tür, neben der ihr Mantel hing.
Greta half ihr, hineinzuschlüpfen.
"Soll ich dich noch nach Hause begleiten?", fragte sie versöhnlich.
"Sehe ich aus, als könnte ich mir nicht selbst helfen?", brummte sie.
"Natürlich nicht! Dann bis heute Abend."
Frida wandte sich bereits zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal und zog Greta am Ärmel zu sich herunter, um ihr ins Ohr flüstern zu können.
"Du solltest dich für das Fest besonders hübsch machen. Man darf von einem Antrag ausgehen."
Greta spürte, wie ihre Wangen brannten.
"W-wovon redest du?"
Frida deutete mit einem Nicken auf Kristofer, der die Decken und Kissen, auf denen die Kinder gesessen hatten, aufsammelte.
"Jeder weiß doch, dass ihr beide heiraten werdet. Und wenn er dir noch dieses Jahr einen Antrag macht, gewinne ich meine Wette gegen Anna-Maria."
"Frida!", zischte Greta mit klopfendem Herzen. "Wir sind Freunde, nicht mehr."
Die alte Frau verdrehte die Augen.
"Dummes Kind. Wir sehen uns auf dem Fest."
Sie schlug die Tür hinter sich zu.
Greta zupfte ihr Kleid zurecht und drehte sich erst wieder zu Kristof um, als sie sicher war, dass ihr Gesicht nicht mehr rot war.
"Heute Abend werden die Kinder wohl nicht sonderlich gut schlafen.", sagte sie und warf noch einen Holzscheit ins Feuer.
"Und schon morgen haben sie die Geschichte halb vergessen. Wir haben unsere Kindheit auch trotz Fridas Erzählungen gut überstanden.", antwortete er und zwinkerte ihr zu.
Greta schmunzelte.
"Wir haben ja auch genug Blödsinn gemacht und uns hat nie eine böse Königin geholt... da fällt mir ein, ich sollte Alicia mit dem Abendessen für die Kinder helfen. Sehen wir uns dann später beim Fest?"
Kristofer legte die letzte Decke zusammen und kam zu ihr.
"Natürlich. Wir sollten bald da sein, damit wir noch was zu trinken bekommen."
Er küsste sie kurz die Wange und verabschiedete sich mit einem Winken.
Greta zwang sich, ihm nicht nachzusehen und versuchte, Fridas Worte aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Das war Unsinn.
Sie ging in die Küche.
Die Keksteller waren längst leer und sie hörte das Lachen der Kinder aus dem Spielzimmer.
Alicia schnitt Gemüse. Ihre schlanken Finger waren flink und rau von der jahrelangen Arbeit.
Sie führte das Waisenhaus alleine und hatte nur die Unterstützung der älteren Kinder.
Da Greta ihr ganzes Leben hier verbracht hatte, war Alicia für sie wie eine Mutter. Sie erwiderte ihr sanftes Lächeln und begann damit, das schmutzige Geschirr abzuwaschen.
"Hat Frida wieder von der Schneekönigin erzählt?", fragte Alicia.
"Ja, leider."
"Die Kinder überstehen das."
"Sicher, dass ich heute Abend nicht doch hier bleiben soll?"
Alicia drehte sich so abrupt um, dass Greta vor Schreck beinahe ein Teller runter gefallen wäre.
"Auf keinen Fall! Du bist so eine großartige Unterstützung und gönnst dir kaum eine Pause. Zumindest für dieses eine große Fest im Jahr nimmst du dir eine Auszeit."
Sie hielt immer noch das Messer in den Händen, weshalb Greta nicht wagte, ihr zu widersprechen.
"Und wann gönnst du dir eine Pause?"
"Morgen. Da eröffnen sie die neue Bäckerei am Ende der Hauptstraße."
"Ich könnte mit den Kindern eine Wanderung machen!", schlug Greta begeistert vor.
Sie hatte vor Kurzem einen wunderschönen See entdeckt.
"Eine gute Idee. Aber heute Abend amüsierst du dich!"
Greta hatte Stoffreste in der Näherei, in der sie tagsüber arbeitete, zusammengesucht und ein schönes Kleid für das Fest daraus gefertigt.
Die Schneiderin, der die Näherei gehörte, hatte ihr für nur drei Kupfermünzen eine weiße Bluse überlassen, die sie darunter tragen konnte.
Stolz betrachtete Greta ihr Werk vor dem einzigen Spiegel im Haus.
Bei dem Schnitt hatte sie sich an den Kleidern für die Damen, die für Feierlichkeiten nach Kopenhagen fuhren, gehalten.
Nach langem Überlegen ließ sie ihre strohblonden Haare offen über ihre Schultern fallen und legte sich anschließend noch ein Tuch mit blauen, aufgestickten Blumen um die Schultern.
Sie strahlte ihr Spiegelbild an.
Sie hatte sich schon lange nicht mehr so herausgeputzt.
Außerdem erkannte sie in der Spiegelung die neugierigen Blicke von den beiden kleinen Schwestern und einem Mädchen namens Svea.
"Ihr könnt ruhig reinkommen.", sagte sie lachend.
Die Mädchen schubsten sich beinahe gegenseitig in das Zimmer und betrachteten das Kleid mit großen Augen.
"Hast du das selbst gemacht?"
Die Schwestern hießen Elsa und Ella.
Wie alle anderen im Haus konnte Greta sie nur schwer auseinander halten, doch ein Lederarmband mit einer winzigen Perle am Handgelenk verriet ihr, dass Ella die Frage gestellt hatte.
"Ja."
"Du hast aber keinen Blumenkranz.", meinte Elsa und stemmte die winzigen Hände in die Hüften.
Sie imitierte Alicia, wenn diese sich über etwas ärgerte.
Es war Tradition, mit den letzten Blumen Kränze zu basteln, um damit den Sommer endgültig zu verabschieden und dem Winter mit Freude und Farbe zu begegnen.
"Vielleicht hat dort noch jemand einen übrig.", erwiderte Greta lächelnd.
Svea trat mit einem schüchternen Blick nach unten näher zu ihr und holte etwas, das sie zuvor hinter ihrem Rücken versteckte hatte, hervor.
Einen Blumenkranz aus Gänseblümchen.
"Alicia hat erzählt, dass du auf das Fest gehst. Ich hab dir noch schnell welche geholt."
Gerührt beugte Greta sich zu ihr hinunter, ließ sich den Kranz aufsetzen und umarmte das Mädchen fest.
"Danke, meine Süße. Das ist wirklich lieb von dir."
Daraufhin grinste Svea breit.
"Darf ich nächstes Jahr mit?"
"Ich frag Alicia, versprochen."
Greta wuschelte allen kurz durchs Haar, eher sie nach unten ging, wo Alicia einem Jungen namens Emil den Verband wechselte. Er hatte sich beim Fangenspielen im Wald verletzt.
"Und du ziehst nicht daran und achtest darauf, dass er nicht nass wird!", mahnte sie, eher ihr Blick zu Greta glitt.
"Du siehst wunderschön aus, mein Schatz. Genieß den Abend, aber um Mitternacht bist du wieder hier, ja? Sonst ziehe ich sämtlichen jungen Männern im Dorf die Ohren lang."
Lachend drückte Greta kurz ihre Hand zum Abschied.
"Natürlich, Alicia."
Sie verabschiedete sich ebenfalls von den Kindern, eher sie an die kühle Nachtluft trat.
Mit leichten, beinahe tänzelnden Schritten machte sie sich auf den Weg zum Rathaus, in dem das Fest wie jedes Jahr stattfand.
Bereits von weitem hörte sie die ausgelassene Musik.
Sie steuerte bereits auf die Tür zu, als eine vertraute Gestalt um die Ecke bog.
"Kristofer!", rief sie fröhlich. "Genau zum perfekten Zeitpunkt."
Er wollte etwas erwidern, doch dann glitt sein Blick über ihr Kleid.
In der Dunkelheit war es nicht genau zu erkennen, doch sie glaubte zu sehen, dass er rot wurde.
"Greta... du siehst wirklich schön aus."
Ihr wurde so heiß, als wäre es eine Sommernacht und sie hakte sich bei seinem angebotenen Arm unter.
Gemeinsam betraten sie die warme Halle.
An einem langen Tisch wurden Speisen und Getränke angeboten und eine Gruppe Musiker spielte eine fröhliche Melodie.
In der Mitte des Raums tanzten die Menschen ausgelassen.
Greta wollte sich ihnen anschließen, doch eine junge Frau mit rotblondem Haar in einem roten Kleid winkte ihnen vom Tisch aus zu.
Kristofer winkte ebenfalls und zog Greta mit sich, eher sie so tun konnte, als hätte sie sie nicht bemerkt.
"Greta, Kristofer, schön euch zu sehen!"
"Hallo, Liva.", begrüßte Greta sie mit einem erzwungenen Lächeln.
Liva war die Tochter des Bürgermeisters. Das schönste Mädchen des Dorfes mit einer Taille, die wie Greta aus Erfahrung wusste, nur sehr wenig Stoff braucht. Aus irgendeinem Grund hatte sie seit einiger Zeit einen Narren an ihnen gefressen, wobei Greta ahnte, dass das mehr mit Kristofer als mit ihr zu tun hatte.
Liva hatte nur das Pech, dass sie jede freie Minute miteinander verbrachten.
"Ihr wollt doch sicher ein Bier, oder? Vater hat es von einer Brauerei aus Kalundborg."
Sie drückte beiden einen Krug in die Hand.
"Greta, dein Kleid ist selbstgemacht, richtig? Wirklich süß."
Gretas Lächeln wurde immer verkrampfter und sie nahm einen tiefen Schluck. Das Bier schmeckte gut, doch sie trank nur selten Alkhol.
Der bittere Geschmack legte sich auf ihre Zunge und sie hoffte, dass ihre bitteren Gedanken vertreiben würde.
"Kristofer, möchtest du vielleicht tanzen?", fragte Liva. "Greta braucht glaube ich noch. Lassen wir sie in Ruhe austrinken."
Kristofer sah unsicher zu Greta, doch sie deutete ihm, dass es für sie in Ordnung war.
Sie waren nur Freunde.
Sie wollte nicht eifersüchtig wirken.
Kristofer konnte kaum zustimmen, da zog Liva ihn bereits unter die Tanzenden.
Greta nahm noch einen Schluck und betrachtete die Schnitzereien in den Balken.
Sie zeigte die Wesen ihrer Geschichten.
Sie sah sich nach Frida um, die sicher Freude daran hatte, zu jedem etwas zu erzählen.
Aber letztlich waren es doch Geschichten, auch wenn sie sie als Kind geglaubt hatte.
Sie spürte, wie der Alkohol ihr langsam zu Kopf stieg, als Kristof zu ihr kam.
"Hast du schon mit Liva getanzt?"
Sie klang zynischer als beabsichtigt.
Doch Kristofer grinste bloß und hielt ihr die Hand hin.
"Ja, aber ich tanze lieber mit dir."
Mit einem breiten Lächeln wirbelte Greta mit ihrem besten Freund auf dieser Welt über den hölzernen Boden.
Für diesen Abend gab es nur Musik.
Und die Schauermärchen blieben draußen in der Dunkelheit.
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