Kapitel 3: Auf dem Weg
Noelle
403 N.d.F
Gischt spritzte über den Bug des Motorboots. Die Schaukelbewegung, mit der es durch die Wellen pflügte, riss Noelle zurück ins Bewusstsein. Sie schreckte hoch und warf die Wolldecke beiseite.
Die Sonne stand bereits hoch am Firmament. Noelle sah Wasser, Himmel und träge, dickbäuchige Wolken, die am Horizont entlangwanderten. Von dem zuvor aufziehenden Sturm fehlte jede Spur. Doch der Wind heulte. Er riss an ihr, trieb ihr Tränen in die Augen und fuhr ihr durch die Haare, als wolle er sie daran zurückziehen. Zurück zur Kolonie. Zurück nachhause. Noelles Kopf schmerzte und langsam, schemenhaft erinnerte sie sich. Die letzten Momente, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Der Streit. Etwas fühlte sich anders an. Noelle verstand nur nicht, was es war. Bis sie sich mit der Hand durch die Haare fuhr und ein Schrei ihre Lippen verließ. Kurz. Sie waren kurz. Kurz, wie die Haare einer Springerin. Noelle stieß ein Fluchen aus, eine Verschwörung, gerichtet an die Schlange, die ihr das angetan haben musste. Ehe sie in ihren Tiraden fortfuhr, zuckte etwas in ihrem Augenwinkel. Sie blickte auf. Natürlich, wie hatte sie glauben können, dass sie allein in diesem Boot über den Ozean fuhr? Ihr gegenüber saßen drei Springer, weiter beim Heck ein Vierter, der den Kurs bestimmte. Allesamt musterten sie Noelle unsicher und angespannt zugleich. Mittig, eine Karte in den Händen, hatte Etka Platz genommen. Er war Noelles Mentor, wie für viele andere in den Monaten und Jahren zuvor. Sie konnten nicht erwarten, dass Noelle von Anfang an alles wusste und perfekt beherrschte.
„Tut mir leid", sagte er. „Als du zu uns gebracht wurdest, waren deine Haare schon kurz."
„Es ist besser, wenn du dir nichts daraus machst." Sonja links von ihm - Noelle hatte die Frau am Abend ihres Schwurs kennengelernt - biss sich auf die Unterlippe.. Es wird dir das Überleben leichter machen."
Noelle wollte nicht überleben, wenn ihr das letzte, was sie ihrer Mutter entgegenzusetzen hatte, weggenommen worden war. Es ging ihr nicht darum, dass sie ihre Haare liebte. Es ging ihr darum, dass die Natter sie hasste.
„Hast du wenigstens gut geschlafen?", fragte Sonja.
„Ich war bewusstlos. Nein." Noelle umarmte ihre angewinkelten Beine.
„Wir haben nichts damit zu tun", sagte Sonja. „Wirklich nicht."
Noelle wusste nicht, ob sie ihnen glauben wollte. Aber welche Wahl hatte sie, anders als über Bord zu springen und zu ertrinken? Sie blinzelte den Schlaf aus ihren Augen. Die Welt trat allmählich zurück in ihren Fokus. Sie mussten die Nacht lang unterwegs gewesen sein.
Noelle hob den Kopf wieder und sobald sie Sonja genauer ansah, weitete ihr Blick sich vor Schock. „Deine Haare!"
Als Noelle Sonja kennengelernt hatte, hatte sie über ihre hüftlange, goldene Mähne nur staunen können. Noch beim Abschied hatte sie sie streng in einem Dutt getragen. Das schien nun nicht mehr länger nötig zu sein.
„Solidarität." Die Blonde grinste und wuschelte sich durch die zentimeterkurze Frisur.
„Außerdem war das schon längst fällig", fuhr sie fort.
Sie mochte recht behalten. Kurze Haare hießen aber auch, dass sie die Absonderlichkeiten, die mit ihrem Springersein einhergingen und von denen Noelle bisher nur Geschichten gehört hatte, nicht mehr darunter und darin verstecken konnte.
„Hörner", murmelte Noelle, fasziniert und schockiert zugleich von dem Anblick.
Mehr brachte sie nicht hervor.
„Ach, tu nicht so, als würdest du sowas das erste Mal sehen. Ach, warte ... das ist das erste Mal."
„Ich wusste nicht, dass du ... dass du ..." Noelle wollte hilfesuchend zu Etka schauen.
Zu ihrer Verwunderung richtete allerdings nicht er, sondern der Mann neben ihm das Wort an sie.
„Was weißt du über das Springen?"
Er hatte bronzene Haut, über die sich an Armen, den Hals entlang und am Rand seines Gesichts vereinzelt weiße Schuppen abzeichneten. Seine Haare und Augen waren ebenso farblos, wobei letztere mehr einer Echse als einem Menschen ähnelten. Wenn er blinzelte, tat er das seitlich, wie ein Reptil. Ein Schauer durchfuhr Noelle. Das war Artemis, einer der begabtesten Jäger. Nur kannte Noelle ihn ohne Drachenaugen und Schuppen. Genauso kannte sie Sonja ohne Hörner und Etka ohne ...
Noelle schrie auf. Etka hatte sich zurückgelehnt. Auf seinen Unterarmen spross dichter Pelz, seine Gesichtszüge waren länger geworden, seine Nase spitzer und aus seinen kupferfarbenen Haaren lugten Fuchsohren hervor.
„Artemis hat dir eine Frage gestellt." Sobald er Noelles Blick auf sich spürte, lachte er. „Willst du sie beantworten?"
„Was ich über das Springen weiß ..." Noelle wurde schwindlig.
Sie traute sich gar nicht, die vierte Person am Bug anzuschauen, die das Boot steuerte. „Das Schattenspringen gibt uns die Möglichkeit, in die Schattenwelt zu gelangen. Die Kundschafter erkunden sie, die Jäger töten die Götter. Die Schattenwelt ist wie unsere, nur gespiegelt und -"
„Ein riesiger Haufen abgefuckte Scheiße", unterbrach Artemis Noelle. „Das ist es, was diese Schattenwelt ist. Ich warn dich vor: Erwarte nicht, dass da irgendwas den normalen Regeln folgt. Zeit und Raum spielen verrückt."
Noelle nickte. „Das ... das weiß ich."
„Hast du schon einmal Wasser rückwärts fließen sehen? Von unten nach oben?"
„N-nein."
Bevor Artemis etwas erwidern konnte, ergriff Etka das Wort.
„Was weißt du noch?" Seine Fuchsohren zuckten.
Er hatte die Karte beiseitegelegt und sich nach vorne gelehnt, sämtliche Aufmerksamkeit auf seine Schülerin richtend.
„Wenn ein Mensch die Schattenwelt betritt, erhält er Fähigkeiten und ... er verändert sich." Noelle versuchte, nicht Sonjas Hörner anzustarren, die wie bei einem Widder aus ihrer Kopfhaut wuchsen.
„Du kennst die Risiken also?" Sonja runzelte die Stirn. „Nicht so, als hättest du jetzt noch die Möglichkeit, umzukehren. Wenn wir anlegen, musst du mitkommen. Allein bist du für die Götter ein gefundenes Fressen."
Götter. Auch von ihnen hatte Noelle viel gehört. Sie wanderten über die letzten verbleibenden Landmassen der Erde und hinterließen eine Schneise von Blut und Tod. An Bord der Kolonie gab es eine ganze Bibliothek an Logbüchern ehemaliger Expeditionen. Darin waren die Götter und die Wesen aus der Schattenwelt aufgelistet, ihre Habitate, Verhaltensweisen. Fähigkeiten und Wege, sie zu töten.
Noelle kannte die gezeichneten Bilder dieser Monster. Mit zwölf Jahren hatte sie sich einmal in das Archiv geschlichen und in die Bücher geschaut. Dabei hatte sie ein Bild gesehen, das sie noch Jahre später in ihren Alpträumen verfolgte. Es war die Zeichnung einer formlosen Masse mit dem Gesicht einer Katze, die sich durch die Ruinen der Zivilisation wühlte. Nie würde Noelle den Ausdruck in den Augen dieses Geschöpfes vergessen, auch wenn es sich nur um eine Zeichnung handelte.
Die Götter waren unberechenbar und grausam. Eine falsche Bewegung und der Tod kam einer Erlösung gleich. Es gab solche, die mit einer Berührung Fleisch verfaulen, mit einem Blick Herzen stillstehen ließen oder solche, die mit Gedanken Feuer entfachten. Ihre Macht erstreckte sich jenseits des Verstandes, weshalb die Menschen anfingen, diese Wesen als Götter zu bezeichnen. Noelle bezweifelte, dass diese Götter irgendetwas anderes als abscheuliche Monster waren.
„Die Götter sind gefährlich", sagte Noelle, „Nur Springer können sich mit ihnen messen."
„Messen." Artemis lachte. „Gerade so überleben, das trifft es eher. Das Springen verhindert, dass wir alt werden, es verhindert aber auch, dass wir sofort sterben, nur weil eines dieser Viecher uns schief anguckt. Nicht weniger, nicht mehr."
„Was sind eure Fähigkeiten?", fragte Noelle.
Sie wusste, dass Springer nicht nur Fundstücke und Mutationen aus der Schattenwelt mitnahmen.
„Oh, gute Frage." Artemis plusterte sich auf. „Ich bin schnell, außerdem sind meine Schuppen ein perfekter Schutz. Meine Augen können im Dunkeln sehen und -"
„Er ist wahnsinnig gut darin, viel zu viel zu reden", fiel Sonja ihm ins Wort, „Artemis ist schnell und ein Ass der Verteidigung. Etka kann gut hören und sehen, aber das weißt du ja schon. Was mich angeht, ich spüre schon leichteste Erschütterungen im Boden zu meinen Füßen und habe so etwas wie inhumane Stärke. Und unsere liebe Akiko hier hat die Stimme einer Sirene. Kleiner Tipp: Halt dir die Ohren zu, sollte sie sie jemals einsetzen muss."
Noelle richtete ihren Blick auf die Person weiter hinten. Sie trug einen großen Mantel mit einer, tief ins Gesicht gezogenen, Kapuze. Darunter hervor lugten nur einige schwarze Haarsträhnen und die untere Hälfte eines blassen Gesichts.
Noelles schaute wieder auf Sonja, wobei sie sich dieses Mal wirklich bemühte, sich nicht auf ihre Hörner, sondern ihre himmelblauen Augen zu fokussieren. Sie waren schön, mit kleinen Lachfältchen an den äußeren Rändern und dichten, dunklen Wimpern.
„Ihr versteckt die Mutationen, wenn ihr in der Kolonie seid. Damit wir uns keine Sorgen machen", murmelte Noelle.
Die vier Springer schauten sie an. Artemis lachte unsicher. Sonjas Gesichtsausdruck verdüsterte sich und Akiko saß noch immer beinahe regungslos da.
Die kurze Stille unterbrach Etka: „Du weißt, was die Mutationen bedeuten, Noelle?"
„Je länger ein Springer in der Schattenwelt verbringt, desto weiter schreiten sie voran, bis sie den Springer ... verschlingen ..."
„Perfekt zusammengefasst. Das Springen geht nicht spurlos an einem vorbei. Du wirst tolle Kräfte haben, aber dein Äußeres ist für alle Male entstellt. Du kannst Glück haben, oder du kannst ..." Er hielt inne. „Nein, das erzähle ich dir besser nicht vor deinem ersten Sprung. Das wird schon klappen!"
Etka war Ende zwanzig, wirkte auf Noelle aber weiser als manche weitaus älteren Bewohner der Kolonie. Noelle verstand gut, warum neue Springer ihm unterstellt wurden.
„Lasst uns erst einmal frühstücken", sagte Artemis, „Und in den Rest der Basics weihen wir dich ein, wenn wir da sind."
Just in diesem Moment drehte Etka den Oberkörper herum und deutete auf einen winzigen schwarzroten Punkt in der Ferne. „Und das könnte gar nicht mehr so lange dauern! Da! Das Festland!"
***
Sie legten an, wo vor hunderten Jahren einmal eine Promenade gewesen war. Zumindest vermutete Noelle das. Wirklich viel Ähnlichkeit besaß dieser Ort nicht mit den Geschichten von Küstenstädten in der alten Welt oder ihren frühkindlichen Erinnerungen an Eden. Es war nur so ein Gefühl, das Noelle verriet, dass hier all die Zeit zuvor einmal tausende Menschen über das Pflaster gelaufen sein mussten. Der Himmel strahlte blau, blauer als Noelle es gewohnt war und es kam ihr so vor, als verhöhnte er die alte Welt mit seiner Farbe.
Während die anderen das Boot festmachten, stand Noelle etwas abseits, wie erstarrt, bis ihre Augen sich an die Nuancen von Purpur, Blutrot und Rosa gewöhnt hatten. Nun schaffte sie es auch, die Umgebung genauer zu mustern. Von der einstigen Zivilisation war wenig übriggeblieben. Häuserwände, Büsche, Bäume, Straßenschilder und Mauern waren zur Hälfte wie aufgeweicht, dahingeschmolzen, ineinander verschwimmend. Und dort, wo sie noch scharfe Ecken und klare Kanten besaßen, spannte sich ein Netz aus Flechten und Wucherungen über sie hinweg. Noelle kniff die Augen zusammen und versuchte, zwischen Ruinen und pilzartig schwammigen Strukturen hindurch zu spähen. Warum mussten sie extra hierher kommen, um durch die Schatten zu springen? Etwas stimmte mit diesem Ort nicht. Noelle kniff sich in den Oberarm, um sich zu wecken. Aber sie erwachte nicht. Das war kein Albtraum.
„Das Boot ist fest", rief Etka, „Lasst uns gehen."
„Hier!" Sonja warf Noelle einen Rucksack zu.
Sie klammerte sich, noch während die Tasche durch die Luft sauste, an die Riemen, verlor jedoch das Gleichgewicht und fiel auf ihre Knie. Fünf Minuten in der alten Welt und sie hatte bereits blaue Flecken.
„Es ... es tut mir leid! Ich -"
Akiko nahm ihr den Rucksack mit einer Hand ab und warf ihn sich über die rechte Schulter, als trüge sie darin Federn. Noelle war nie sonderlich sportlich gewesen, aber auch kein Schwächling. Einen Rucksack würde sie doch wohl noch fangen können! Warum hatte sie es nicht geschafft?
„Die Präsenz der Götter hat die alte Welt vergiftet. Allein der Aufenthalt hier raubt dir die Kräfte. Du musst in Bewegung bleiben." Etka half Noelle auf. „Sobald du die Schattenwelt betreten hast, wirst du stärker werden. Versprochen."
Sie nickte. Dann schaute sie in die Ferne. „Wo sind die anderen?"
„Die anderen Jäger?", fragte Artemis.
Sie nickte. Etka spitzte die Ohren und machte sich groß.
Die ehemalige Promenade entlang blickend verkündete er: „Die Boote liegen weiter südlich."
Dann schaute er zum Landesinneren. „Die anderen Springer sind vermutlich vorausgegangen, haben vermutlich ein Lager errichtet, und die Kundschafter willkommen geheißen."
„Die Kundschafter", erinnerte Noelle sich. „Ja natürlich."
Sie wünschte, sie hätte wenigstens zu ihnen gehören dürfen. Sie mochte ihr Leben nicht sonderlich, aber irgendwie hing sie daran. Wie mit einem alten Stofftier, das sie nicht schaffte, wegzuwerfen. Als Kundschafterin hätte sie zumindest annährend eine Chance besessen, den ersten Sprung zu überleben.
„Na dann!" Artemis kreiste die Schultern, als würde er sich aufwärmen, und ging auf den blutroten Dschungel zu.
„Da rein?" Noelles Stimme bebte.
„Ja, wohin denn sonst", fragte Sonja.
Sie und Akiko folgten Artemis. Widerwillig setzte auch Noelle sich in Bewegung. Etka hielt sie zurück.
„Wenn ein Gott auftaucht", flüsterte er, „dann spring. Lauf nicht. Spring."
„Ich soll springen?" Noelle blinzelte verwirrt. „Durch die Schatten? Er wird mir doch hinterherspringen."
Sie hatte gelernt, dass es keinen Sinn machte, vor einem Gott wegzurennen, erst recht nicht durch die Schatten. Götter konnten ebenfalls springen. Auf sie ging diese seltsame Fähigkeit zurück. Hinzu kam, dass Noelle gar nicht wusste, wie das Springen funktionierte. Außerdem ...
„Wie soll ich überhaupt einen Gott auftauchen sehen?"
„Du wirst es nicht sehen. Du wirst es spüren."
„Hey!", rief Artemis vom Eingang in das Innere der fleischgewordenen Hölle her. „Kommt ihr?"
Etka schmunzelte. Noelle schaute ein letztes Mal zum Himmel, dann tauchten sie ein.
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