Kapitel 14: Die Kolonie
Noelle
403 n.d.F
Also drückte sie den Knauf herunter, stieß die Tür auf und trat in das Tageslicht. Zuerst blendete es Noelle, so sehr, dass sie den Arm, der nicht die Leine festhielt, über ihre Augen hob und diese selbst dann noch zusammenkniff. Ihre Augen schmerzten, ihr Kopf schmerzte und die Welt drehte sich. Sobald Noelle sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, musterte sie ihre Umgebung genauer.
Die Kolonie war ein loser Verband aus unzähligen Boten, die sich jeweils einem Sektor zuordnen ließen und an eine kleine Insel, auf welcher Lebensmittel angebaut wurden, andockten. Der Kommando-Sektor, bestehend aus der Hauptquartier, ein in Eden gebautes Kriegsschiff, führte die Kolonie an. Noelle trat an den Bug der Mephisto und schaute in die Ferne, wo sie die Hauptquartier treiben sah. Die Schiffe bewegten sich schon seit Jahren nicht fort. Sie standen still. Ob die an ihnen behelfsmäßig befestigten Segel wohl noch funktionierten? Oder ob sie längst von Ungeziefer zerfressen waren? Welche Hoffnung besaß die Menschheit, würde sie erneut zur Flucht aufbrechen müssen? Ohne Farmland. Ohne Ziel. Nur auf der Flucht. Steuerbord sah Noelle bis an den Horizont nichts als Wasser. Backbord sah sie den Rest der Kolonie. Eine bunte Ansammlung von Schiffen aller Art und Größe. Sie waren durch lose Hängebrücken miteinander verbunden, die innerhalb von Sekunden eingezogen oder gekappt werden konnten. Bisher gab es noch keine Beweise für Götter, die sich im Wasser aufhielten. Aus irgendeinem Grund blieben sie stets nur an Land.
Im Herzen der Kolonie, hinter der Hauptquartier lagen die drei Schiffe des Farm-sektors. Drei schöne, große Frachter. Sie trugen das Schicksal der Menschheit auf ihren Schultern, die ohne nachwachsende Rohstoffe und Nahrungsmittel längst eingegangen wäre. Auf Tiere ließ sich vielleicht verzichten. Auf Weizen, Kartoffeln und Holz nicht.
Während Noelle die Ziege hinter sich her zog, fragte sie sie: »Was ist eigentlich dein Name?«
»Bähhh!«
»Ja, natürlich.«
»Bäh.«
»Bärtram?«
»Bä!«
Noelle unterdrückte ein Lachen. Für den Moment vergaß sie den Spähergott, den Hunger, die Hasenohren oder die Wut auf ihre Mutter. Nicht einmal mehr verkriechen wollte sie sich. Noelle schmeckte die frische, salzige Seeluft, spürte den Wind im Gesicht und in den Haaren und sie fühlte sich wacher noch als am Tag ihres ersten Sprungs. Zum ersten Mal seit ihrer Einberufung als Springerin fühlte sie sich frei.
Schon als Kind hatte sie das Meer nicht gemocht. Es hatte ihr Angst gemacht, diese unendlich große, schwarze Masse an Wasser. Als sie gezwungen waren, die alte Kolonie zu verlassen und auf dem Meer zu leben, hatte Noelle sich schwer damit getan. Sie hatte die ersten von Seekrankheit geplagten Monate gehasst. Selbst Jahre später, wenn ein Sturm sie heimsuchte, spürte Noelle die Übelkeit in sich aufsteigen. Die Kinder, die an Bord der Kolonie zur Welt kamen, kannten nichts anderes als das ewige Schaukeln unter ihren Füßen und auf irgendeine Weise beneidete Noelle sie. Zumal diese Kinder auch nicht den Untergang Edens erlebt hatten. Noelle hätte gerne auf diese Erinnerungen verzichtet.
Sie zog sich die Strickjacke fester, damit niemand sah, dass sie nur ihren Pyjama darunter trug. Den hatte sie nämlich vergessen zu wechseln und um zurückzulaufen, war es jetzt zu spät.
»Das wird schon nicht so schlimm sein«, redete sie. »Oder, Bärtram? Ich meine, wenigstens sehen sie die Ohren nicht.«
Ihr kam es so vor, als würde der Ziegenbock nicken.
»Gut. Na dann, lass uns dich zurückbringen, bevor du vermisst wirst.«
Sie überquerten eine der zwei Brücken, durch die die Mephisto mit anderen Schiffen des Forschungs-Sektors verbunden war. Noelle war das Schaukeln des Seegangs, das Rauschen des Meeres unter sich, während sie von Boot zu Boot kletterte, gewohnt und fürchtete sich kaum mehr von den wackeligen Konstruktionen. Ihrem Gast ging es anders. Bärtram überhaupt erst auf die Brücke zu bekommen, hatte viel Überredungskunst, Geduld und vor allem Zugkraft von Seiten Noelles gebraucht. Als sie es dann endlich schaffte, dauerte es ganze drei Schritte, bis Bärtram sich quer stellte. Wortwörtlich quer. Die Ziege positionierte sich erst so, dass Noelle ihn nicht weiterziehen konnte. Dann stellte er sich seitwärts und begann an den Seilen zu knabbern. Noelle bemerkte erst nach wenigen Sekunden, was da gerade passierte. Sie stemmte sich gegen die Leine.
»LASS DAS!«
Der Bock blieb unbeeindruckt, als verspeise er nicht Tau sondern den letzten Rest Gries mit Fischkompott. Mit einem lauten »Schnapp« löste sich eines der Seile. Im selben Moment riss auch das Kleid durch, das Noelle mit dem Gürtel um Bärtrams Hals verband. Sie wurde nach hinten geschleudert und fiel rückwärts. Die Brücke schaukelte gefährlich stark. Noelle schaute in den Abgrund, bestehend aus einer glänzenden Oberfläche und kilometertiefem, schwarzem Nichts darunter. Sie konnte nicht gut schwimmen. Hinzu kamen die Fische, die sich dort aufhielten. Noelle wollte es nicht darauf anlegen, mit einem Hai um die Wette zu schwimmen. Sie raffte sich auf.
»Mir reichts, Bärtram.«
Besagter schaute gelangweilt von seiner Mahlzeit auf.
»Ja, ich rede mit dir!« Noelle stopfte sich die Reste des kaputten Kleides in die Taschen, packte die Zicke an den Hörnen und zog.
Bärtram wehrte sich erst. Er wollte Noelle wegstoßen, doch die hatte seine Hörner so fest umklammert, dass ihm nichts übrig blieb, als sie vor sich her auf das nächste Schiff zu schieben.
Wieder sicheren Boden unter den Füßen, atmete Noelle erleichtert aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie für den Großteil des Weges die Luft angehalten hatte. Im Augenwinkel sah sie die Kollegen ihrer Mutter, Wissenschaftler in weißen Kitteln, mit Schutzbrillen und Handschuhen und seltsam verstörten Gesichtern in ihre Richtung schauen. Schnell bemerkte Noelle dann, dass sie nicht sie, sondern Bärtram anstarrten. Sie lächelte entschuldigend und nickte in seine Richtung.
»Ehm, wisst ihr, wo er her ist?«
Dumme Frage, stellte sie kurz darauf fest. Aus dem Farm-Sektor natürlich.
Eigentlich hätte sie fragen sollen: Was zum Teufel macht ein Tier aus dem Farm-Sektor hier? Doch sie blieb still. Es brachte eh nichts, sich im Nachhinein noch einmal zu verbessern.
»Noelle«, sagte schließlich einer der Forscher, ein Mann mittleren Alters mit der Haarpracht eines mittelalterlichen Mönchs. »Die Ziege ... sie müsste aus dem Farm-Sektor sein.«
Noelle seufzte genervt. Sie bedankte sich und wollte weitergehen, stellte aber kurz darauf fest, dass sie nichts hatte, womit auch Bärtram weiterging. Letzterer hatte indes nämlich wieder großes Interesse gegenüber einer Plane entwickelt. Oder eher Appetit.
»Habt ihr eine Leine oder sowas?«, rief sie den Schaulustigen zu.
»Eine Leine?«
»Ja, für die Ziege.«
Das Tier blickte sich um und ließ ein eindringliches »Bäh« verlauten.
Der Mann bat Noelle, kurz zu warten. Er verschwand und tauchte kurz darauf mit einem Seil auf.
»Reicht das?«
»Perfekt!«
Noelle band das Seil um den Gürtel, der noch immer als Halsband diente. Vorsichtig zog sie Bärtram hinter sich her. Das nächste Mal, dass sie eine Brücke überquerten, verlief bereits besser. Noelle hatte beschlossen, lieber von einer Ziege gebissen zu werden als in den Ozean zu stürzen. Wann immer Bertram stehen blieb, führte sie ihn an den Hörnern weiter. So bahnten sie sich den Weg über eine Handvoll Forschungsschiffe. Vor dem Übergang zum Handwerks-Sektor, dessen Boote hinter denen des Farm-Sektors schwammen, hielt sie inne. Es gab nämlich keinen Übergang mehr. Noelle und Bärtram gähnte ein klaffender Abgrund entgegen. Die Hängebrücke hing noch immer, aber nicht so wie sie sollte, sondern schlaff an der gegenüberliegenden Seite des Schiffs hinab.
»Was tust du da?«, rief jemand hinter Noelle.
Sie wandte sich um und blickte in das Gesicht von
»Artemis!«, stieß sie aus.
»Hast du einen neuen Freund gefunden?«, grinsend deutete er auf Bärtam.
»Ich will ihn zurückbringen, aber ...«
Artemis lachte. Ohne die Mutationen wirkte er auf Noelle wieder wie ein Fremder, wie einer der Springer. Dabei funkelten seine Augen immer noch wie die untergehende Sonne, kurz bevor sie in die Wellenkämme tauchte. Seine Haare hatten die Farbe von Schnee und seine Haut einen bronzenen Schimmer. Je länger Noelle ihn betrachtete, desto mehr wurde sie sich bewusst, dass zwischen dem Springer Artemis und dem Artemis, wie er nun vor ihr stand, kein Unterschied bestand. Er war kein Fremder mehr. Er war ein Kamerad. Er war ein Freund.
»Kannst du aufhören mich so anzustarren?«
Noelle bemerkte ihren Fehler. Hitze stieg ihr ins Gesicht und sie wandte sich wieder Bärtram zu.
»Also ...«, begann sie, »ich muss zum Farm-Sektor«
»Ach sag das doch gleich!«, rief Artemis.
Dann drehte er sich um und wollte losmarschieren. Zu spät sah er, dass die Brücke fehlte. Er setzte einen Fuß in die Luft, bemerkte seinen Fehltritt und ruderte wild mit den Armen, um rückwärts und nicht vorwärtszufallen.
»Diese verdammte Ziege!«, rief er.
»Bäh.« Bärtram knabberte am Saum seiner weißen Stoffhose.
Noelle half Artemis auf. Indes zeigte dieser auf das gegenüberliegende Schiff und die Hängebrücke, die noch immer wie eine Strickleiter schlapp an dessen Seite herabhing.
»Das Viech hat die Seile angefressen! Da! Siehst du es?« Dann zog er Bärtram das Bein weg, damit der die Hose nicht ebenso zerstören konnte.
Noelle kniff die Augen zusammen, doch sie erkannte es nicht, was Artemis meinte. Sie konnte es sich logisch erschließen, es wirklich zu sehen schaffte sie jedoch nicht.
»Naja egal.« Der Springer zuckte mit den Schultern. »Ich kenne eh einen besseren Weg.«
Gemeinsam gingen sie über Schiffe, Hängebrücken und durchquerten so die Kolonie. Immer, wenn Bärtram bockte und anfing, an den Seilen zu nagen, war Noelle nicht mehr alleine damit, panisch an ihm zu ziehen und zu schieben. Gemeinsam mit Artemis machte es sogar Spaß.
Zum Unterhalten hatten sie kaum Zeit. Bärtram fraß nämlich nicht nur Seile, Hosen und Zimmerpflanzen sondern auch an den Nerven der beiden. Schon bald hob sich vor ihnen die klobige Gestalt der Lisa Laura ab, dem größten aller Schiffe, und dahinter lag die kleine Insel, auf der der Farm-Sektor lag. Kaum setzten sie einen Fuß auf Land, lief ihnen jemand zu.
»Hey! Ihr habt Gulliver zurückgebracht.«
Ein Mädchen, wenig jünger als Noelle, kam auf sie zugelaufen. Dabei nahm sie viele kleine Schlenker und ließ den Korb zu ihrer Rechten hin und herbaumeln. Bei jedem ihrer Schritte zuckte Noelle zusammen, in der Angst, dass das Mädchen die Eier darin zerbrechen würde.
»Gulliver?«
»Ja!« Das Mädchen mit dem Korb kicherte. »Er geht gern auf Reisen.«
Mit der freien Hand kraulte sie Bärtram oder jetzt Gulliver hinter den Ohren. Dann entdeckte sie die zusammengebastelte Leine. Ihr Lächeln wurde breiter und sie verfiel in ein lautes Lachen.
»Oh, ich sollte euch nicht auslachen, aber das ... entschuldigt!« Sie konnte es sich einfach nicht verkneifen, bis sie schließlich aufschaute und ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. »Ihr seid ... Ihr seid die Springer!«
Ihre Stimme fühlte sich wie ausgehöhlt an. Noelle zwang sich zu einem Lächeln. Artemis stemmte die Hände in die Seiten und erzählte etwas von einer Pflicht gegenüber der Menschheit. Für Noelle leere Phrasen. Was hieß das Springersein für sie? Tod. Schmerz. Angst. Überleben. Aus diesem Grund hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen wollen. Nun war sie gezwungen, an das Springen zu denken. Sie würde es wieder tun. Sie musste es wieder tun. Beim letzten Mal hatte sie Glück gehabt. Zac würde nicht jedes Mal auf magische Weise auftauchen und sie retten. Zumal Noelle auch gar nicht mehr von ihm gerettet werden wollte. Sie war zu grob gewesen und der Streit mit Luna? Warum hatte Zac die Natter verteidigt? Noelle traute ihm nicht, daran änderte auch sein gutes Aussehen nichts. Wobei ... er sah nicht einmal gut aus! Noelle musste sich das eingebildet haben. Zac war bloß ein Griesgram, mehr nicht. Das Mädchen bedankte sich noch einmal und verbeugte sich. Dann nahm sie Bärtram an der Leine und führte ihn weg.
»Ich muss auch los.« Mit den Worten verabschiedete Artemis sich.
Noelle blieb zurück, wie angewurzelt und mit knurrendem Magen.
Noelle blieb wie angewurzelt stehen. Sie wollte zurück und sich wieder verkriechen, bis zur Inquisition. Aber davor musste sie etwas essen. Das Knurren ihres Magens erinnerte sie mittlerweile viel zu sehr an eine wütende Luna und das erinnerte sie daran, was ihr bevorstand. Vielleicht konnte sie sich ein paar Stücken Obst aus dem Hain nördlich von hier schnappen. Es senkte die Wahrscheinlichkeit, ihrer Mutter über den Weg zu laufen, würde Noelle sich jetzt schon wieder auf den Rückweg machen. Aber sie konnte sich auch nicht ewig verstecken.
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