Kapitel 1: Abschied
Noelle
403 n.d.F
Sie waren an Deck versammelt, um ihre Abschiedsworte zu sprechen. Noelle hatte nicht darum gebeten. Genauso wenig hatte sie danach gefragt. Dennoch stand sie hier, in der ersten von zwei Reihen, jeweils aus vier Mitgliedern des Jägertrupps bestehend. So oft hatte Noelle Abschiedszeremonien und den Aufbruch der Schattenspringer mitansehen müssen. Dass sie eines Tages selbst in diesen Reihen stehen würde, das hatte sie sich nicht in ihren schlimmsten Albträumen ausgemalt. Es war anders, als die vielen Male zuvor. Nicht nur, weil Noelle die Seiten gewechselt hatte, sondern auch, weil sie zum ersten Mal im Leben dieses drückende Gefühl der Endgültigkeit in ihrer Magengrube spürte. Kein Zurück mehr. Das gab es schon seit dem Vorabend nicht, als sie den Schwur geleistet hatte. Doch nun wurde es ihr zum ersten Mal so wirklich bewusst, wie die Situation für sie aussah. Wie bereits erwähnt, sie hatte nicht danach gefragt. Und am liebsten hätte sie sich verkrochen, all das hier geschwänzt. Aber das konnte sie nicht. Noelle hing zu sehr an ihrem Leben, um das zu tun.
Lieber starb sie sehr wahrscheinlich als garantiert. Noelle wusste, wie ihre Chancen standen. Sie war achtzehn und schon lange nicht mehr naiv. Den letzten Funken Naivität hatte jener Morgen, an dem sie von ihrer Rekrutierung erfuhr, ausgelöscht.
Noelle hatte sich nie bei den Schattenspringern beworben. Warum auch? Sie passte nicht in diese Reihen, in denen sie sich wie auf einem Präsentierteller fühlte, wie ein Hase, der auf eine Wolfsjagd geschickt wurde. Dennoch stand sie hier. Dennoch hatte sie den Schwur geleistet.
Über ihnen lag der Himmel eisblau frei von Wolken. Die Sonne spiegelte ihre Strahlen im Meer und jagte ein Glitzern und Funkeln über die Oberfläche, dass es nur so blendete.
Da schälte sich eine Silhouette aus der Menge. Noelle sah sie aus halb zusammengekniffen Augen. Die Frau war hochgewachsen, trug einen Laborkittel, dunkle Handschuhe und die dünnen, blonden Haare zu einem Dutt zusammengebunden. Doktor Natalia Faust. Auf diesem Titel beharrte sie. Wie genau sie ihn erhalten hatte, damals in der letzten Stadt, in Eden, darüber redete sie nur ungern. Natalia war Wissenschaftlerin und Anführerin des Forschungssektors. Hinzu kam, dass sie bei fast allem, was die Schattenspringer betraf, die Hände im Spiel hatte. Sie war respektiert und geachtet, aber auch gefürchtet und gemieden.
Und sie war Noelles Mutter.
»Wir ihr bereits wisst ist der General verhindert.« Sie schritt an der vordersten Reihe vorbei. »An seiner Stelle werde ich euch heute verabschieden.«
Sobald sie vor Noelle stand, hielt sie inne.
»Dein erster Sprung«, bemerkte sie. »Und du trägst dieses Ding lieber als die Sehhilfe, die ich dir angefertigt habe?«
Noelle trug die Brille, die sie immer trug. Groß und rund, mit dunkelrotem Rahmen und dicken zerkratzten Gläsern thronte sie auf ihrer Nase. Die für das Springen präparierte Brille ihrer Mutter war stabiler als diese, besser an Noelles Sehschwäche angepasst und konnte mit einem Band am Kopf befestigt werden. Allerdings ...
»Hab sie vergessen«, log Noelle.
»Und deine Haare. Habe ich nicht gesagt, du sollst sie dir abschneiden?«, fuhr die Natter, so hatte Noelle sie in Gedanken getauft, fort.
Die Brille schien nur noch ein kleines Ärgernis. Die Tatsache, dass Noelle allerdings die einzige Springerin in diesen Reihen war, die sich nicht die Haare mindestens bis zu den Schultern gekürzt oder zusammengebunden hatte, schien ihre Mutter ehrlich wütend zu machen. Kurz zögerte sie. Sie holte tief Luft, dass ihr Atem rasselte, schaute sich um und setzte ein Lächeln auf.
»Binde sie dir bitte zusammen ... Bitte.«
Noelle kannte diesen Gesichtsausdruck. Seit frühester Kindheit kannte sie ihn. Und sie wusste, was er bedeutete. Die Natter kochte vor Wut. Und irgendwie fühlte es sich gut an. Noelle mochte es, wenigstens einen kleinen Triumph zu besitzen, bevor sie in den Tod geschickt wurde. Denn Noelle liebte ihre Haare, die sie so deutlich von ihrer Mutter abgrenzten. Dunkelbraun gelockt, nicht hellblond und so fein, dass sie an den Schultern abbrachen. Ihre Mutter trug ihre Haare stets zusammengebunden. Noelle bevorzugte sie offen. So auch heute. Ja natürlich wusste sie um die Gefahren. Ihre Mutter hatte ihr zu genüge Vorträge darüber gehalten, scheinbar in Vorbereitung auf diesen Tag. Doch solange Noelle damit einen Funken Widerstand präsentieren konnte, war ihr das egal. Wer hätte die Bewerbung für die Schattenspringer denn einreichen sollen? Auch wenn Noelle ihre Mutter das nie so direkt gefragt hatte, kannte sie die Antwort: Natalia Faust hatte ihre Tochter in diese Reihen gebracht. Und Noelle schwor sich, dass wenn sie starb, auch nur Natalia Faust daran schuld trug. Keine langen Haare. Keine Brille.
Noelles Gegenüber wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen zog sie scharf die Luft ein und ging weiter. Noelle schaute ihr nach, während sie die Hände in den Taschen ihrer übergroßen Cordjacke vergrub. Die Springer besaßen keine offizielle Kleidung, wie damals. Sie trugen das, worin sie sich am besten bewegen konnten. Die wenigen militärisch anmutenden Strukturen waren nur blasse Erinnerungen an die Zeit vor dem Untergang Edens, als die Schattenspringer wirklich noch eine Eliteeinheit darstellten. Heutzutage konnte jeder Volljährige, der sein Leben wegwerfen wollte, sich bei ihnen bewerben. Oder er wurde beworben. Noelles Blick streifte den ihrer Mutter. Wobei eine Bewerbung allein noch lange nicht hieß, dass man auch angenommen wurde. Ein Mindestmaß an Intelligenz und Sportlichkeit blieben die Voraussetzung, selbst als die Zahl der Freiwilligen sank und die der hungrigen Mäuler zunahm. Die Chancen dafür, zumindest in den Erkundungstrupp zu gelangen, standen besser als noch früher. Aber das hier war nicht der Erkundungstrupp. Das hier waren die Jäger. Und um bei ihnen rekrutiert zu werden, musste man gut sein. Noelle war nicht gut. Sie konnte nicht einmal schwimmen und für den Großteil ihres Lebens träumte sie lieber, anstelle zu denken. Jemand hatte also seine Kontakte spielen lassen. Noelle wusste ganz genau, wer dieser jemand war. Was sie allerdings nicht wusste: Warum?
Natalia Faust hatte indes die Reihe abgegangen und wieder Abstand genommen. »Was ist eure Mission?«
»Die Kundschafter ablösen«, antwortete die Anführerin der Truppe, eine ernst dreinblickende Frau mit zurückgebundenen, schwarzen Kringellocken.
Sie gehörte zu den älteren Springerinnen. Älter, das bedeutete Ende zwanzig. Sehr viel älter wurden sie meist nicht. Mit das Erste, was Noelle gelernt hatte: Schattenspringer besaßen kein Anrecht auf ein langes Leben. Wenige von ihnen überschritten die Dreißig. Manche starben im Kampf mit einem Gott, andere an Komplikationen beim Springen. Die Risiken waren mannigfaltig und dennoch ein fairer Preis für das, was sie taten. Ohne Springer würde die Menge vor Noelle nicht jubeln können, so wie sie es jetzt gerade tat – da es keine Menge mehr gäbe. Sie wären tot, wie neunundneunzig Prozent der Menschheit es seit Ankunft der Götter war. Und auch ihr Lebensstandard würde nicht der gleiche sein. Mit jedem Ausflug in die Schattenwelt brachten die Springer zahlreiche nützliche Gegenstände mit, wie Stoffe, Waffen und Pflanzensamen. Hinzu kam, dass sie nach Möglichkeiten suchten, das Festland zurückzuerobern. Sehr viel länger konnte die Menschheit in diesem Flickenteppich an Schiffen und einer Insel kaum größer als ein Hektar nicht überleben. Sie mussten zurück.
»Und dann?«, fragte die Natter und unterbrach damit Noelles Gedanken.
»Dann töten den Spähergott.« Die Springerin mit den schwarzen Locken stand kerzengerade und während sie sprach, schob sie die Schulterblätter nach hinten und die Brust heraus.
»Perfekt zusammengefasst.« Ein Lächeln schnitt durch das Gesicht Natalia Fausts.
Sie sprach noch einige Formalitäten aus. Die Letzten ihrer Worte übertönte jedoch das Jubeln und Klatschen der Menge hinter ihr. Sie klatschte mit, jedoch nur für die ersten paar Sekunden. Einzig Noelle schien ihre Zurückhaltung zu bemerken, denn das Mädchen hatte den Blick wieder auf seine Mutter gerichtet und seitdem nicht mehr abgelassen. Selbst als die sich abwandte und verschwand, verharrte Noelles gebündelte Aufmerksamkeit dort, wo sie bis eben noch gestanden hatte.
»Lasst uns gehen«, sprach eine Springerin hinter Noelle.
Die Luft war warm. Sie knisterte und verhieß Gewitter, obwohl die Sturmwolken sich gerade erst am Horizont abzeichneten. Es würde noch dauern, bis der Regen die Kolonie erreichte, doch der Wind war bereits vorangeprescht. Eine Böe fuhr über das Deck der Hauptquartier, anführendes Schiff der schwimmenden Kolonie, und durch Noelles Haare. Sie fröstelte und schlang die Arme um sich, während sie ihren Kameraden zu den Motorbooten folgte. Sie lagen unten im Wasser und waren nur über Strickleitern erreichbar. Noelle hoffte, dass sie beim Abstieg dorthin nicht abrutschte. Als Springerin vor dem ersten Sprung zu sterben, konnte peinlich sein. Andererseits ... Noelle würde diese Peinlichkeit nicht mehr erleben. Sie wusste, sie würde wie ein Stein versinken. Ihre Mutter jedoch blieb hier zurück und würde das Leid tragen. Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht, dachte Noelle. Dennoch ging sie mit Vorsicht. Sie traute dem Wasser nicht. Nur weil es seine Vorteile hatte, hieß es nicht, dass sie freiwillig ertrank.
Nahe der Reling, auf halbem Weg, hörte sie ihren Namen hinter sich, stoppte und wandte sich um. Da stand ihre Mutter. Noelle wich ihrem Blick aus. Sie kannte die Augen ihrer Mutter zu genüge. Stahlgrau, ohne eine sichtbare Emotion.
Noelle hörte, wie die anderen Schattenspringer nach und nach die zwei Motorboote, welche sie zum Festland brachten, bemannten. Wenige Minuten, bis sie die Strickleitern lösten und ablegten. Sie hatten einen Zeitplan. Nichts, wofür sie eine Neue nicht zurücklassen würden. Noelle wäre nicht die erste Springerin, die vor ihrem ersten Sprung drauf ging, sei es durch Ertrinken, Schusseligkeit, die Wut einer Natter oder bloßes Desertieren.
»Ich möchte, dass du am Leben bleibst.« Noelles Mutter beugte sich vor. »Du hast mich vorhin in eine ziemliche Bredouille gebracht. Ich habe dir befohlen, deine Haare zu kürzen. Sie werden denken, du willst in den Tod und nicht durch die Schatten springen. Dafür habe ich dich nicht angemeldet.«
Sie stank nach Desinfektionsmittel und Chlor. Ein Geruch, an den Noelle sich nie gewöhnte, obwohl er sie seit frühester Kindheit begleitete.
»Also warst du es wirklich?«, hauchte Noelle.
»Ja natürlich.« Die Angesprochene senkte ihre Stimme. »Und ich habe eine ganze Menge dafür gegeben, dass du ausgewählt wurdest.«
»Das kannst du nicht ernst meinen.« Noelles Stimme bebte. »Du hast mich verkauft.«
Weiter hinten hörte sie die Rufe der Schattenspringer. Nicht mehr lange, dann würden sie aufbrechen.
»Verkauft?« Natalia lachte. »Weißt du überhaupt, was das heißt? Ich habe dich nicht verkauft. Ich habe dir eine Möglichkeit gegeben.«
»Du hast sie mir genommen!«, wurde Noelle laut.
»Wir brechen gleich auf!«, rief jemand weiter hinten. »Beeil dich!«
Noelle spürte ihr Herz in die Magengrube sinken und sich zum Gefühl der Endgültigkeit gesellen. Die beiden würden in den nächsten Wochen wohl sehr gute Freunde werden. Zumindest, wenn Noelle so lange lebte.
»Mutter ...« Noelle nannte sie nicht oft so. Meist blieb sie bei Natter, Faust, Natalia oder Hexe. Doch drastische Zeiten forderten drastische Maßnahmen und so sehr, wie das Blut in Noelles Adern hochschäumte, war noch nie eine Zeit drastischer gewesen. »Ich werde das nicht überleben. Ich kann nicht gehen.«
»Rede sowas nicht.« Natalia griff ihre Tochter an den Schultern und Noelle spürte, wie Fingerspitzen sich in ihre Schultern bohrten. »Noch nie ist ein Springer bei seiner ersten Mission gestorben. Du wirst Großes vollbringen. Ich weiß das.«
»Ich will nichts Großes vollbringen!«
Noelle sah, wie der Ausdruck in den stahlgrauen Augen ihres Gegenübers sich verdüsterte.
»Was, wenn ich einfach nicht gehe?«, setzte Noelle nach. »Ich will nicht!«
»Du musst.«
»Nein!«
»Du hast den Schwur geleistet. Du weißt, was mit Deserteuren passiert.«
Sie hängen zur Warnung vom höchsten Mast der Hauptquartier oder liegen am Grund des Meeres.
In so einer kleinen Welt kam dem Einhalten von Regeln große Wichtigkeit bei. Zu große.
»Ich weiß, aber ... aber das war doch nur, weil ich musste! Du warst es! Du hast ich dazu gedrängt! Spring du doch!«, rief Noelle.
Ihre Mutter umfasste ihre Wange und strich eine Träne weg. »Unsinn.«
»Das ist kein Unsinn!« Noelle riss sich los.
Und dann geschah etwas, was Noelle nur selten gesehen hatte: Die Natter schien mit sich zu hadern. Sie richtete sich wieder auf, atmete tief durch, presste die Lippen aufeinander und nickte. »Wenn du zurück bist, sage ich dir, warum du eine Springerin werden musst. Du wirst es verstehen.«
Doch für diesen plumpen Versuch einer Entschuldigung war es bereits zu spät. Es änderte nichts daran, dass die Boote jede Sekunde ablegten und Noelles Trupp von dort aus ihren Namen rief. Es änderte nichts daran, dass Noelle auf diese Mission musste.
»Das ist mir egal!« Immer mehr Tränen stiegen in Noelle auf.
Sie konnte sie nicht länger zurückhalten. Sie drangen über ihren unteren Wimpernkranz hervor, wie ein Ozean über einen Damm, und perlten von dort ihre Wangen entlang. Die letzten zwei Wochen hatte Noelle diese Emotionen versucht zu ignorieren, sie zurückgehalten. Aber nun ... Sie wusste ja nicht einmal, ob sie irgendwann wieder die Chance hatte, ihrer Mutter das zu sagen, was sie wirklich fühlte.
»Ich hasse dich.«
Ihre Kehle zog sich zu und ihr Hals schmerzte. Jedes Wort, das sie sprach, traf sie wie ein Schlag, machte, dass ihr schwindliger wurde. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter hatte sich indes nicht verändert. Ihrem gewitterfarbenen Blick fehlte es noch immer an Verständnis. So kannte Noelle ihre Mutter und sie bezweifelte, dass sie sie jemals anders kennenlernen würde. Sie hier überhaupt vor sich zu haben und mit ihr zu reden, fühlte sich seltsam an. Die Natter war nicht jemand, der still stand und zuhörte.
»Hast du mich nicht gehört?« Sicher gab es niemanden auf dem Frontdeck, der Noelle nun nicht hörte, so laut schrie sie: »Ich hasse dich!«
Im Augenwinkel sah sie, wie die Bewohner der Kolonie ihre Köpfe zum Geschehen drehten. Unter der Aufmerksamkeit wirkte Natalia angespannter als noch zuvor.
»Geh an Bord«, presste sie die Worte hervor. »Das ist eine Chance und keine Strafe.«
In diesem Moment hörte Noelle die Maschinerie hinter sich, die die Boote ins Wasser setzte. Jetzt oder nie. Entweder sie sprang in ihren sicheren Tod oder sie sprang nicht und wurde hingerichtet. Entweder sie sprang von Bord oder sie blieb hier stehen.
»Wenn du mich gehen lässt ...«, sagte Noelle. »Wenn du mich jetzt gehen lässt, werde ich dir das niemals verzeihen.«
Doch so sehr Noelle wollte, ihre Beine bewegten sich einfach nicht. Ihre Mutter hatte indes ihren Blick angehoben und schaute über Noelles Schulter hinweg. Sie nickte und noch bevor Noelle wusste, was geschah, hatte jemand sie gepackt, eine Klinge gezückt und –
Ratsch!
Eine Flut dunkelbrauner Locken sank zu Boden. Mit dem Knauf des Messergriffs schlug der Fremde ihr gegen die Schläfe. Noelle verlor das Bewusstsein und sank rückwärts in seine Arme.
»Passiert ihr etwas, wird ihrem Trupp das gleiche widerfahren«, sagte Natalia, »Richte ihnen das aus, Zac.«
Dann deutete sie in Richtung der Boote. »Und jetzt beeil dich. Bring sie hin, bevor es zu spät ist.«
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